Die Reihe „Der Individualisierung entkommen“ enthält einige Erfahrungsberichte aus Rojava. In diesem Artikel wird ein Interview mit Leyla1 veröffentlicht. Sie ist Teil der YPJ, den kurdischen Frauenverteidigungseinheiten aus Nord und Ostsyrien. Die YPJ und ihr männliches Pendant, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), sind Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) und bekämpfen den IS. Gegenwärtig geht jedoch die größte Bedrohung für die YPG/YPJ von der Türkei aus.
Das Interview kam durch die Vermittlung des Rojava Information Centers (RIC) zustande. Das RIC ist Spendenfinanziert und freut sich über Zuwendungen.
Leyla – aus Deutschland in die YPJ
Hallo, magst du dich kurz vorstellen?
Klar! Ich bin Leyla und seit einigen Jahren in der YPJ. Ursprünglich komme ich aus Deutschland und habe dort Philosophie studiert. Links war ich auch in Deutschland schon, hab mich in der deutschen Linken aber nie wirklich heimisch gefühlt – auch wenn ich in verschiedenen Bewegungen aktiv war. Vor einigen Jahren wäre es für mich noch unvorstellbar gewesen eine Uniform zu tragen. Heute bin ich froh in der YPJ zu sein.
Was war ausschlaggebend für dich, den Schritt nach Rojava zu wagen?
Schon immer war mir Gerechtigkeit wichtig: Obdachlosigkeit, Krieg und Naturzerstörung waren früh Themen für mich. Vor allem die Rolle, die uns Frauen zugeschrieben wurde, wollte ich nicht akzeptieren: Intellektuell nicht ernst genommen, sexualisiert, objektiviert, emotional von Männern abhängig gemacht. Doch die feministische Praxis in Deutschland hat mir nicht gereicht. Als ich anfing, von Rojava zu lesen, hat mir der rätedemokratische Anspruch gefallen. Vor allem die autonomen Frauenstrukturen haben mich wirklich begeistert. Den Ausschlag gegeben hat dann die Türkische Invasion von Afrin 2018: Ich wollte diese Errungenschaften verteidigen! Und vielleicht auch ein bisschen der Hoffnungslosigkeit der deutschen Linken entkommen, denen die Anbindung an die Gesellschaft völlig fehlt.
Was sind autonome Frauenstrukturen und was heißt „Anbindung an die Gesellschaft“?
Autonome Frauenstrukturen sind solche, in denen nur Frauen arbeiten. Alle Institutionen gibt es doppelt: Einmal als gemischtgeschlechtliche Struktur, einmal als eine solche autonome Frauenstruktur. Damit ist der politische Einfluss von Frauen sichergestellt. Die Politik der Linken in Deutschland ist oft sehr von der Gesellschaft abgehoben, in manchen Teilen sogar geradezu elitär. Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Gruppen, dass ausschließliche Organisieren in Szenetreffpunkten oder verdeckt ausgetragene Machtkämpfe oder Subkulturgeklüngel verhindern oft eine wirkliche Anbindung an die Gesellschaft. Hier gehen die Mitglieder der Frauenbewegung von Haus zu Haus, setzen sich mit den Familien zusammen, hören ihnen zu, fragen nach, laden ein und schaffen Möglichkeiten der Mitarbeit.
„Auch Großmütter laufen Patrouille“
2. Was sind die politischen Werte für die du kämpfst? Und was sind die konkreten
gesellschaftlichen Errungenschaften?
Eine aktive demokratische Gesellschaft, in der Frauen keine untergeordnete Stellung einnehmen, ist das Ziel und wir wissen, dass wir es erreichen können. Vor der Klassengesellschaft gab es eine Zeit des hierarchiefreien Zusammenlebens. Wir wissen also dass es möglich ist. Die dafür notwendigen Werte sind: Kollektive Verantwortung, solidarisches Wirtschaften, demokratische Beziehungen zu anderen Gesellschaften, Basisdemokratie und natürlich Frauen, die in allen Gesellschaftsbereichen vertreten sind und einen freien Willen haben.
Konkret heißt das: Kooperativen werden gegründet, Konflikte werden durch Schlichtungskomitees statt durch Gerichte beigelegt, es gibt autonome Frauenstrukturen, aber auch Großmütter mit einer Hausfrauenbiographie, die Teil der zivilen Verteidigungskräfte werden und in ihrem Viertel Patrouille laufen – die Liste ist lang.
3. Du selbst bist ja im Militär: Gibt es dort auch demokratische Strukturen? Wie werden die Regeln besetzt festgelegt, wie werden die höheren Ränge besetzt?
Auch in den YPJ sind regelmäßige Sitzungen fester Bestandteil des Alltags. Hier finden beispielsweise Planungen statt. Gleichzeitig hat jedes Mitglied das Recht, Kritik zu äußern und Selbstkritik zu geben. Außerdem können Vorschläge gemacht werden. Im militärischen Bereich werden die Verantwortlichen sowohl nach Erfahrung als auch nach anderen Qualitäten wie zum Beispiel Menschenkenntnis, das Leben von Werten im Alltag sowie die Fähigkeit, andere zu organisieren und inspirieren ernannt. Sie können jederzeit kritisiert, und wenn dies zu keiner Änderung des Verhaltens führt, auch abgesetzt werden.
„Zu wissen wofür ich kämpfe hilft, den Tod zu verarbeiten“
3. Wie gehst du mit Extremsituationen um, wenn zum Beispiel Freundinnen sterben?
Eines der Gründungsmitglieder der YPJ, Jiyan Tolhildan, wurde letztes Jahr mit ihren zwei Freundinnen Roj Xabur und Barin Kobane auf dem Rückweg von einer Frauenkonferenz von einer türkischen Drohne gezielt getötet. Jiyan Tolhildan war langjährige Kommandantin der Anti-Terror Einheiten (YAT) und hat nicht nur viele Operationen gegen den IS geleitet, sondern auch hunderte von jungen Frauen inspiriert, gegen Sexismus und Unterdrückung zu kämpfen. Zu wissen, wofür ich kämpfe, hilft mir ihren Tod zu verarbeiten. Auch deswegen ist politische Bildung ein wichtiger Teil unserer Ausbildung.
Die kollektive Gedenkkultur hilft mir, auf eine Weise zu trauern, die mich empowert und nicht erdrückt: Das Erinnern an die Gefallenen nimmt hier einen Platz im Alltag ein. So wird ihren Bemühungen und Opfern Bedeutung beigemessen. Außerdem übernehmen wir hier die Aufgabe, ihre Träume und Wünsche wahr zu machen. Indem wir ihren Weg weiter gehen, stellen wir sicher, dass ihr Einsatz nicht umsonst war und es hilft uns, unsere Trauer und Wut in Motivation für unsere Arbeit umzuwandeln.
Was war besonders schwer für dich zu akzeptieren in einem anderem Kulturkreis im Militär?
Das Leben in der YPJ ist kollektiv. Das bedeutet, dass wir hier eine gemeinsame Alltagsstruktur haben und 24 Stunden zusammen verbringen. Das erfordert eine Menge Absprache und Organisation. Für mich, die in einer sehr individualisierten Gesellschaft aufgewachsen ist, war das anfangs ungewohnt. In einer militärischen Struktur zu sein heißt natürlich auch, sich an Disziplin und Regeln zu halten. Ich habe gelernt abzuwägen: Was sind individuelle und was kollektive Bedürfnisse? Ich glaube, hier erst richtig verstanden zu haben, wie unerlässlich es ist, den eigenen Egoismus zu überwinden, um Freiheit und Gerechtigkeit herzustellen.
„Wir konnten Frauen aus den Händen von IS Familien befreien“
Wann warst du stolz auf deine Arbeit?
Letzten Sommer haben wir an der Operation “Security & Humanity” im al-Hol Camp teilgenommen. Dort befinden sich zehntausende IS-Familien, die sich im März 2019 bei dem Sieg über das sogenannte Kalifat in die Hände der Demokratischen Kräfte Syriens ergeben haben. Die IS Anhängerinnen und Anhänger im Camp organisieren sich neu im Camp, es gibt Indoktrination von tausenden Kindern, Scharia Gerichte und Schläfer Zellen. Als YPJ war für uns einer der bedeutendsten Erfolge, dass wir zwei yezidische Frauen aus den Händen von IS Familien befreien konnten, die bei dem Angriff auf Shengal im Jahr 2014 vom IS verschleppt wurden. Dennoch schmerzt es, dass wir es nicht früher geschafft haben. Konkret haben uns türkische Drohnenangriffe davon abgehalten die Operation früher auszuführen.
Früher hat die YPJ hauptsächlich gegen den IS gekämpft, heute ist die Türkei die größte Bedrohung für die Autonome Administration Nord und Ost Syrien. Was hat sich damit verändert?
Militärisch sind das völlig unterschiedliche Gegner. Der IS bestand oft aus hochmotivierten Islamisten ohne Luftwaffe. Die Türkei hingegen verfügt über eine Luftwaffe und Drohnen. Die Form der Kriegsführung ist dadurch eine andere geworden. Allerdings ist das Ziel des IS und der Türkei dasselbe, nämlich die Zerschlagung der Selbstverwaltung. Zu diesem Zweck setzte und setzt Erdogan gezielt dschihadistische Söldnertruppen ein. So verschwimmen für uns die Grenzen zwischen beiden Feinden. Dass Erdogan auch offen den IS unterstützt, ist kein Geheimnis und gut dokumentiert. Unter den Söldnern, die die Türkei anheuert, sind viele ehemalige IS Offiziere. Dschihadistische Söldner im Krieg gegen uns einzusetzen, ist eine geschickte Taktik. In vergangen Invasionen haben seine Truppen immer wieder barbarische Angriffe wie gezielte Exekutionen, Leichenschändung und Zerstörung religiöser und historischer Städte durchgeführt. In der Öffentlichkeit fällt dies jedoch nicht auf die türkische Armee zurück, da die türkischen Soldaten an anderen Punkten eingesetzt werden. Außerdem macht es auch innenpolitisch Sinn, diese Söldnergruppen einzusetzen, da diese nur selten aus der Türkei selbst stammen. So kann Erdogan gegenüber der türkischen Bevölkerung Verluste herunterspielen.
Repressionen gegen Kurd*innen beenden – auch in Deutschland
Was würdest du sagen, wenn du 20 Minuten Redezeit vor dem Bundestag bekommen würdest?
Ich würde die Rolle der Bundesregierung in Bezug auf die Angriffe auf Rojava anprangern. Die BRD war und ist enger Verbündeter des AKP-MHP Regimes, pflegt intensive wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen und unterhält Rüstungsexporte. Der russische Angriffskrieg wird verurteilt, der NATO-Partner Türkei der dasselbe tut, wird mit Waffen beliefert. Zusätzlich verfolgt die Bundesrepublik oppositionelle Kurdinnen und Kurden in Deutschland und macht sich so zum verlängerten Arm Erdogans.
Es ist in meinen Augen zynisch, deutsche Politikerinnen und Politiker zu sehen, die die kurdische Parole “Jin, Jiyan, Azadi” nutzen, wenn es um die Aufstände in Ostkurdistan und im Iran geht, jedoch kein Wort zu den Angriffen auf Nord- und Ostsyrien sagen, wo diejenige revolutionäre Bewegung ist, die diesen Slogan entwickelt hat.
Du kritisierst die NATO, dabei werden die Syrian Democratic Forces und damit auch die YPJ von den USA unterstützt. Wie stehst du dazu?
Zwischen den USA und den Demokratischen Kräfte Syriens besteht eine taktische und militärische Zusammenarbeit, die einzig und allein dem militärischen Kampf gegen den IS verschrieben ist. Diese militärische Zusammenarbeit entstand aus Notwendigkeit. Die Menschen hier hatten nur diese eine Wahl und wenn sie diese nicht getroffen hätten gäbe es hier mit hoher Wahrscheinlichkeitkeine selbstverwalteten Gebiete mehr. Was jedoch unbedingt zu differenzieren ist, ist, dass es sich bei der Zusammenarbeit keinesfalls um eine strategische Partnerschaft mit einer gemeinsamen politischen Zielsetzung handelt. Dass die USA kein Interesse an dem Erfolg dieser Revolution hat, ist uns allen hier bewusst. Die Besatzung Afrins, Serekaniye und Gire Spi hätte ohne ein grünes Licht aus Washington niemals so stattfinden können. Die USA sind für uns ein Partner im Kampf gegen den IS, aber ohne ihre Zustimmung könnten die Angriffe der Türkei, auch auf Zivilisten, nicht stattfinden.
Abdullah Öcalan und die Frauenbefreiung
Die YPJ bezieht sich ideologisch auf Abdullah Öcalan. Wie fühlt es sich an, dass die Frauenbefreiung auf einen Mann zurück geht?
Abdullah Öcalan trägt eine große Bedeutung für die Frauenrevolution in Rojava. Aus westlicher Sicht kann es zunächst befremdlich wirken, dass sich eine so starke Frauenbewegung auf einen Mann bezieht. Als ich zum ersten Mal von der Freiheitsbewegung Kurdistans gehört hatte, war ich zunächst auch irritiert. Ich habe hier jedoch viel mit den Frauen diskutiert und nach und nach verstanden, dass die Verbindung zwischen der Frauenbewegung und Abdullah Öcalan von einer tiefen Anerkennung gegenüber seinen Bemühungen und seinen Perspektiven geprägt ist. Was meiner Meinung nach in Deutschland oft nicht verstanden wird, ist einerseits, dass die Menschen hier Öcalan nicht als individuelle Person begreifen, sondern als eine Philosophie. Öcalan hat denjenigen Menschen eine Perspektive gegeben, deren Psychologie durch jahrhundertjährige Assimilisierungen, blutige Massaker und Genozidversuche geprägt war. Für uns als YPJ waren seine Perspektiven ausschlaggebend für unsere Gründung. Ohne Öcalans beharrliches Bestehen auf die Wichtigkeit autonomer Frauenorganisierung und dem Glauben an die eigene Kraft, die er den Frauen vermittelt hat, gäbe es heute keine YPJ und auch keine Frauenrevolution. Deswegen verdanken die Frauen hier ihm viel.
Das Interview führte Erik Hagedorn und ist Teil der Reihe „Der Individualisierung entkommen“:
Ein weiterer Versuch, der Individualisierung zu entkommen, besteht für deutsche Linke seit einigen Jahren darin, nach Rojava oder auch: „die Autonome Adminstration Nord und Ostsyrien“ zu fahren. Ich begleite die Reise von Erik Hagedorn dorthin virtuell: Erik hat länger Politik und (im Nebenfach) Psychologie studiert, als es an den meisten Unis erlaubt ist, er interessiert sich für Sicherheitspolitik, Basisdemokratie und RPGs (Rollenspiele). Er arbeitet in Rojava journalistisch zu immerhin zwei dieser Themen. Seine Copingmechanismen für alles, was diese Welt so an Hässlichkeiten in der Hinterhand hält, sind schwarzer Humor und Zynismus, für die er schon öfters zurecht kritisiert wurde. Er arbeite dran, schreibt er.
Weitere Erfahrungsberichte aus Rojava aus dieser Reihe:
Erster Brief: Ankunft in Rojava
Zweiter Brief: Krieg und Frieden im Kopf
Dritter Brief: Die Welt ist aus den Angeln gesprungen
1Name auf Wunsch der interviewten Person geändert. Der echte Name ist nicht bekannt.