vonfini 11.03.2025

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Meine liebe Nena,

spannend, was Du über das Regelbefolgen beschreibst. Ich sehe, dass es Menschen das Gefühl von Kontrolle geben kann, wenn Regeln befolgt werden. Es gibt irgendwie auch einen Handlungsrahmen zurück, dass man die Illusion haben kann: Wenn man sich nur an die Regeln hält, dann kann es nicht ganz so krass aus dem Ruden laufen! Interessanterweise ist meine Wahrnehmung tatsächlich eine andere – aber wie Du geschrieben hast: Wir leben in sehr verschiedenen gesellschaftlichen Welten und gerade unsere Welten haben verschiedene Reaktionsmuster auf den Zerfall. Ich kann mir gut vorstellen, dass für Menschen mit Kindern die Perspektive auf den kommenden Faschismus einfach nur schockierend wirken muss. Da hat man mit Mühe und Not ein Menschenleben in die Welt gebracht und wofür? Dass es sich entscheiden muss, ob es lieber Menschen verachten will oder sein Leben im Kampf führen will?

Kognitive Dissonanz – also die Fähigkeit, etwas zu tun, obwohl man es eigentlich besser weiß – war schon lange notwendig, um überhaupt noch Kinder zu bekommen. Man war sich ja schon bewusst, dass sie mindestens den Klimawandel mit voller Härte erleben werden. Dann kommen jetzt eben noch Wirtschaftskrise und Faschismus dazu – macht das den Kohl so fett? Vielleicht schon, insofern das mit dem Präfaschismus jetzt schon da ist und nicht erst irgendwann in der Zukunft. Wir sehen schon heute, was CDU/CSU und SPD planen, um Deutschland wieder deutscher zu machen:

  • „Begrenzung der Migration“ soll ausdrücklich ins Aufenthaltsgesetz aufgenommen werden.
  • Es soll Zurückweisungen an den Staatsgrenzen auch bei Asylgesuchen geben.
  • Verpflichtende Integrationsvereinbarungen sollen künftig Rechte und Pflichten von Einwandernden definieren.
  • Freiwillige Aufnahmeprogramm bspw. aus Afghanistan werden beendet.
  • Der Familiennachzug für Schutzsuchende wird ausgesetzt.
  • Die GEAS-Reform soll ins nationale Recht überführt werden (die GEAS beinhaltet u.a. die Ausweitung von Internierungslagern an den europäischen Außengrenzen).
  • Es wird eine „Rückführungsoffensive“ gestartet. Die Bundespolizei soll in diesem Zuge die Kompetenz erhalten, für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen.
  • Die Bezahlkarte für Asylsuchende soll deutschlandweit zum Einsatz kommen und Umgehungen unterbunden werden.
  • Es soll nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden.
  • Die Liste der sicheren Herkunftsländer soll erweitert werden.
  • Das Staatsangehörigkeitsrecht soll reformiert werden, sodass die deutsche Staatbürgerschaft leichter entzogen werden kann, wenn eine weitere Staatsangehörigkeit besessen wird.
  • Die reguläre Migration von Menschen aus dem Westbalkan wird auf 25.000 Menschen begrenzt.

Dies sind die Stichpunkte zum Thema „Migration“ (Zeilen 283 – 342) aus dem Sondierungspapier vom 08.03.2025, das zwischen CDU/CSU und SPD verhandelt wurde. Aus historischen Gründen war das Asylrecht für Deutschland immer besonders wichtig: Es ist der einzige Schutz von Menschen vor Staaten. Je mehr es abgebaut wird, je mehr Handlungsspielräume vor allem der Bundespolizei und dem Grenzschutz gegeben werden, desto ausgelieferter sind Menschen dem, was „ihre“ Staaten ihnen antun. Der Abbau von Asylrecht führt immer zu einem Effekt des Ausschlusses „der Anderen“ sowie des Einschlusses „der Einen“. Der deutsche Staat soll weiter stärker werden, um „seine Bürger*innen“ zu schützen. Es ist historisch wirklich ironisch: Wer hat uns SCHON WIEDER verraten? Die Sozialdemokrat*innen.

Der Preis ist die Freiheit und die Unversehrtheit von Menschen, die nicht zufällig per Geburt einen europäischen Pass haben. Ihnen sollen ab jetzt in Deutschland weitere Rechte aberkannt und die Möglichkeiten ausgeweitet werden, sie auf nimmer wiedersehen zu Inhaftieren oder in den sicheren Tod zu schicken. Auch hier geht es vordergründig ums Regelbefolgen: Es wird weiter stark unterschieden in gute (= arbeitsfähige) und schlechte (= gefährliche) Ausländer. Die guten Ausländer sollen nichts zu befürchten haben. Ich sehe schon, dass insofern das Regelbefolgen insbesondere für Menschen mit Kindern der letzte Strohhalm ist, an dem man sich langhangeln kann, um die staatliche Willkür (noch) nicht in ganzer Härte wahrzunehmen. Wir wissen leider aus der deutschen Geschichte, dass das auf lange Sicht nicht weiterhilft. Aber fürs erste kann es dazu führen, dass man etwas länger auf der Seite derjenigen bleiben kann, die noch leben dürfen.

Bei Menschen ohne Kinder und gerade bei jungen Erwachsenen sehe ich ein Schwanken zwischen (Selbst-) Zerstörung, Hedonismus und Depression – so oder so aber eine grundsätzliche Abkehr von Regeln. Wozu arbeiten gehen? Wozu Schule machen? Weswegen was ordentliches anziehen? Warum irgendwas lernen? Warum clean sein? Weswegen morgens überhaupt aufstehen? Konflikte werden schneller gewaltvoll, rücksichtslos den eigenen und fremden Ressourcen gegenüber. Vorausplanung scheint irgendwie sinnlos und wird ersetzt durch ad hoc Entscheidungen.

abo

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Nicht bei allen natürlich, es gibt weiterhin die Ü30 Fraktion, die immer noch nicht an ihrer Zukunft und ihrer vermeintlichen Stabilität vorbeidenken kann. Die wirken gerade im Gegensatz zur Wut und Rücksichtslosigkeit der Gen-Z seltsam lahmgelegt. Sie gehen weiter arbeiten, kriegen eine Krankheit nach der nächsten, gehen ihren sinnlosen Hobbies nach und versuchen möglichst nichts mitzubekommen. Sie sind (noch?) nicht bereit, all das aufzugeben, wofür sie ihr Leben lang gearbeitet und sich auf die ein oder andere Weise angepasst haben. Sie verharren in Angst und schauen lieber nicht so genau hin. Fühlen sich unwohl, wenn sie Nachrichten hören, beschäftigen sich nicht im Detail mit den Wahlergebnissen oder damit, was die Sondierungsgespräche hervorbringen an menschenverachtenden Plänen. Schließlich ist die AfD erstmal nicht in der Regierung, d.h. sie können sich das nächste Mal wieder in 4 Jahren mit Politik befassen. Ein Glück!

Ich finde es besonders tragisch, dass gerade diese Generationen (Mitte 30 bis 50) gerade so stark ihren Kopf in den Sand stecken. Denn sie sind diejenigen, die das ganze System stabilisieren. Sie hätten was, was sie in die Waagschale werfen können, sie haben was zu verlieren. Sie wollen einfach nicht, dass die Hochzeit ihres Lebens schon jetzt vorbei ist. Ein Glück für sie, dass sie so privilegiert sind, dass sie sich das noch aussuchen können.

Das Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD hat bei mir weiter die Notwendigkeit deutlich gemacht, sich wehren zu lehren. Je vernichtender der Staat wird, desto stärker müssen wir uns und andere verteidigen lernen. In einer Spaßgruppe, schrieb jemand am Wahlabend: „Wir sehen uns im Widerstand!“ Ich bin gespannt, wen man dort tatsächlich treffen wird.

Immerhin ein schönes Erlebnis aus der 5. Jahreszeit: Die Karnevalshochburg ist die Stadt in Deutschland mit den geringsten Wahlerfolgen für die AfD. Das hat mich erfreut und wurde auf den Straßen der Stadt viel diskutiert und in vielen Runden hervorgehoben. Tatsächlich hörte man die Menschen im Straßenkarneval wieder über Politik reden. Endlich.

Bis bald und einen sonnigen Frühlingsanfang

Yours Fin

1. Brief: Wahlplakate 2025

2. Brief: Im Namen der Sicherheit

3. Brief: An Regeln halten

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