Liebste Nena,
ich habe länger nicht geschrieben, wenig gelesen und sitze jetzt ebenfalls im Zug – mir gegenüber sitzt ein Bundeswehrsoldat, neben mir sitzt meine Partnerin, wir alle 3 sind in unsere jeweiligen Laptops vertieft. Herr Müller ist Offizier, ein Oberleutnant zur See, er trägt noch zusätzliche Abzeichen und Auszeichnungen, die ich nicht decodieren kann. Er sieht aus wie der Prototyp eines Offiziers: männlich, weiß, breitschultrig, ordentlicher Undercut mit Seitenscheitel, zwei weiße Strähnen im gepflegten Bart, vermutlich ähnlich alt wie wir – die produktive Mitte der Gesellschaft. Meine Partnerin und Herr Müller arbeiten. Sie werden für ihre Zeit im Zug bezahlt, Herr Müller darf sogar kostenlos fahren, weil er seine Uniform trägt. Ich arbeite nicht mehr, meine Zeit ist wertlos geworden und ist dadurch endlich wieder frei. Jedenfalls solange ich den Anschein erwecke, dass ich grundsätzlich arbeitswillig und -fähig bin.
Jede*r (selbst das Arbeitsamt) hat Verständnis dafür, sich nach fast 20 Jahren Lohnarbeit mal ein Jahr Auszeit zu nehmen und immerhin hab ich mit meiner Arbeit ja auch genau für diesen Fall eingezahlt. Ich erscheine immer noch als wertvolles, schützenswertes Mitglied dieser Gesellschaft, das nur das will, was ihm zusteht. Ich trage sogar noch eine Gebärmutter, womit ich potentiell immer noch für die von Dir beschriebene Carearbeit herangezogen werden könnte. Für mich würde der Rettungswagen kommen, denn im Zweifel ist immerhin mein Körper noch verwertbar. Aber wie Du so treffend schreibst: Das Versprechen auf Gesundheit und langes Leben, wenn man sich entsprechend ordentlich verhält, wird schon jetzt täglich allerorts gebrochen, obwohl es immer noch und immer wieder neu gegeben wird. Weil ja, der Rettungswagen kommt vermutlich noch, aber wie ich das Krankenhaus wieder verlasse, ist schwer vorherzusagen – kann gut gehen, aber kann auch nicht, der Mensch braucht wieder Glück. Und selbst, wenn sich die Fälle, Erlebnisse und Erfahrungen von strukturellem Versagen häufen, hofft jedes Individuum darauf, dass es in ihrem Falle gut geht. Obwohl kaum noch Menschen tatsächliche Motivation für ihre Arbeit aufbringen können, was sich in Krankheits- und Fluktuationsraten aber auch in dem Rückgang an Innovation und tatsächlicher Arbeitsleistung zeigt, gehen sie davon aus, dass die Menschen, von deren Arbeit sie abhängen, ihre Arbeit ordentlich tun. Und wenn sie die Erfahrung machen, dass das nicht der Fall ist, regen sich alle furchtbar auf und fühlen sich ungerecht behandelt. Wer pfiffig ist, nutzt das dann als Entschuldigung dafür, dass die eigene Arbeit auch an Qualität verliert. Ich würde Herrn Müller, der inzwischen Salatgurken mit Essiggurken zu Mittag isst, gern fragen, wie er zu seiner Arbeit steht. Ist die Bundeswehr einer der wenigen Orte, wo man gerade eher einen Motivationsschub erlebt, weil Rüstung wieder von gesellschaftlicher Relevanz geworden ist? Aber ich möchte mit Herrn Müller nichts zu tun haben. Er sitzt mir als Verkörperung und Verteidiger eines Staates gegenüber, den ich verabscheue. Obwohl ich nicht Deutschland im besonderen verabscheue, sondern nationale Staatlichkeit als gesellschaftliche Organisationsform.
Erinnerst Du Dich noch an den Film „La Haine“ (dt. „Hass“, 1995), wo es um die Erfahrungen aus den Pariser Banlieues geht? Der Film beginnt und endet mit folgendem Bild:
„Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“
Was 1995 primär für gesellschaftliche Ränder gegolten hat, ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ich habe das Gefühl, die meisten Erwachsenen laufen momentan genau auf diese Weise durch ihr Leben: Bis hierher lief’s noch ganz gut. Noch kann ich mir meine Miete leisten, noch ist mein Keller nicht voll Wasser gelaufen, noch kann ich eine Arbeit ausüben, noch bin ich gesund, noch kann ich mir Essen leisten, noch kann ich feiern gehen, noch kann ich Drogen nehmen, noch kann ich Beziehungen führen, noch kann ich so tun, als würden mich Klimawandel und Faschismus nicht betreffen. Die Landung wird voraussichtlich ein ähnliches Erlebnis sein, wie das des Fallenden in La Haine. Mit dem kleinen aber sehr feinen Unterschied, dass die Mitte der Gesellschaft alle Privilegien und Ressourcen gehabt hätte, um sie zu verändern. Genauso wenig wie ich Verständnis für die Deutschen im zweiten Weltkrieg hatte und für mich jede deutsche Person, die damals nicht im Widerstand war zur Täterschaft gehörte, habe ich das gerade für die Mitte der Gesellschaft, die in ihrer selbstverletzenden Betriebsamkeit oder in ihren Depressions-, Angst- oder ADHS-Diagnosen hängen geblieben ist. Ja, I’m sorry, aber woher nehmt Ihr die Annahme, dass Euer Leben angenehm, leicht und vergnüglich sein sollte? Weil das gestern noch so war und deswegen immer so sein sollte? Weil immer irgendjemand oder irgendetwas da war, was die Realität für Euch sanfter gestaltet hat? Für eine Person wie mich deren erste 20 Lebensjahre von Gewalt und Armut geprägt waren, löst dieses Selbstverständnis inzwischen kein Unverständnis mehr aus sondern nur noch blanken Hass.
Die Zeit des Wohlstands, der Sicherheit und der Leichtigkeit ist finally vorbei – selbst wenn Du mit allen Privilegien dieser Welt geboren wurdest. Klar, man kann jetzt noch nostalgisch daran festhalten, dass es mal anders war oder über den Verlust heulen, aber davon wird sich auch nichts ändern. Mir ist klar, dass kognitive Dissonanz eine wichtige Funktion für einen menschlichen Organismus ist, aber sie zur gesellschaftlichen Maxime erheben? Really?! Die Folge daraus ist vermutlich das, was Du Alltag der Teilnahmslosigkeit nennst. Und hey, wer braucht schon andere Menschen oder Unterstützungssysteme, wenn ChatGPT anytime available ist, für jedes Problem Verständnis zeigt und mehr Ressourcen für mitfühlende Äußerungen hat (und verschlingt) als die Dich umgebenden Menschen. Selbst Schuld, dass Du versucht hast wegen der Paukenröhrchen einen menschlichen Arzt zu erreichen. Erst kommt der Hass, dann die Verrohung und dann der Zynismus. Ich hab mit 24 mal einen Text geschrieben, der heißt „Mit Mitte 20 Zynikerin“, ich hatte das danach irgendwann halbwegs abgelegt, aber inzwischen blüht mein Zynismus wieder enorm, wenn ich mit Menschen zwischen 30 und 50 rede. Ich hab auch keinen Bock, mir ständig das Geheule darüber anzuhören, dass alles zu viel, zu anstrengend, überfordernd ist und sie gleichzeitig aber mit allem weitermachen (wollen), was überfordernd ist. Es häufen sich die Panikattacken, Krankschreibungen, Lethargie und genauso häufen sich die Medikamente, die Menschen inzwischen bereit sind zu nehmen, um funktionsfähig zu bleiben sowie die Drogen, die sie brauchen, um sich ab und an mal „gut“ zu fühlen.
Und dabei würde ich sagen: Noch hat diese seltsame Mitte der Gesellschaft eine Wahl. Man MUSS nicht funktionieren, man MUSS nicht arbeiten, man MUSS auch nicht glücklich sein – es MUSS auch niemandem gut gehen. Ganz im Gegenteil sind negative Gefühle eine angemessene Reaktion auf den Zustand der Gesellschaft und des Planeten. Und negative Gefühle können genauso motivierend sein wie positive. Sie nehmen sogar eine wichtige Funktion ein, wenn es darum geht, zu entscheiden, was wir tun. Wann immer wir sie einfach zum Schweigen bringen, verpassen wir eine Chance auf Selbstwirksamkeit und geben die Verantwortung für uns selbst ab.
Natürlich auch ein wichtiges Element faschistischer Gesellschaften: Irgendjemand wird schon wissen, was gut für uns ist. Alice Miller hat in einer ihrer Analysen der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus festgestellt, dass die Deutschen zu der Zeit ein nahezu kindliches Vertrauen und eine Art absoluter Liebe für Adolf Hitler und die NS-Führungspersonen empfunden haben. Sie haben die Verantwortung für sich selbst einer fremden Führung überlassen und konnten dadurch natürlich auch keinen direkten Einfluss mehr darauf nehmen, was die damit so macht. Ging manchmal gut fürs Individuum und manchmal nicht. Miller führte dieses Verhalten auf die sogenannte „schwarze Pädagogik“ zurück, also Erziehung durch Schmerz und Angst. Ob man das wirklich nur auf Erziehung zurückführen kann, ist streitbar. Ich würde diese Art des Verhaltens eher als systematisch für faschistische Gesellschaften beschreiben. Diese Verkindlichung sehe ich momentan an vielen Stellen um sich greifen, obwohl die jeweiligen Personen häufig niemals wirkliche Angst und Gehorsam erleben mussten. Alle Arten hierarchischer Führung blühen, Menschen haben keine Kapas für aufwändige Selbstorganisation und wollen, dass ihnen endlich jemand einen Ausweg aus der allgemeinem Misere zeigt. Ob das dann Trump, März, irgendwelche popkulturellen Rolemodels oder ChatGPT sind, ist fast egal, Hauptsache nicht sie selbst.
Insofern ist es schon heute ein erster widerständiger Akt, Lohnarbeit und das entsprechende Funktionieren zu verweigern. Plötzlich kann man wieder kreativ sein, sich tief in Themen einarbeiten, Dinge ausprobieren, Projekte umsetzen, die nicht rentabel sind und Fähigkeiten erlernen, die für eine (prä-)faschistische Gesellschaft wichtig sind. Man hat auch wieder Kapazitäten für risikoreiche womöglich illegale Projekte, die eine ansonsten den Job hätten kosten können oder die Nachts stattfinden, was mit vielen Lohnarbeiten nicht gut machbar ist. Wenn ich regelmäßig trainiere, jemandem die Nase zu brechen oder mich gegen Messer und andere Waffen zu verteidigen, kann ich vielleicht mein Leben und die meiner Lieben etwas verlängern. Plötzlich hat man auch Zeit für all die Beziehungen, die nicht mehr tragend sind, weil man sie vernachlässigen musste. Je vereinzelter wir sind, desto notwendiger haben wir Führungspersonen, denen wir glauben und vertrauen müssen. Deswegen ist es insbesondere jetzt wichtig, Netzwerke zu stärken und Beziehungen zu entwickeln, die uns schützen können vor Staat und Kapital. Und dann brauchen wir natürlich noch Orte. Orte, die nicht vom Staat und entsprechenden Förderungen abhängen. Orte, die unser Eigentum sind, an denen wir uns und andere verstecken, weiterbilden und vernetzen können. Für all das brauchen ich Zeit. Zeit, die ich sonst zu Markte getragen und gegen Geld eingetauscht habe, das ich dann auf anderen Märkten ausgegeben habe, um mich besser zu fühlen. Und ja, dieses Geld nicht mehr zu haben, ist natürlich erst einmal einschränkend, fühlt sich nicht gut an und braucht ein anderes Verhalten. Umso wichtiger solidarisch zu wirtschaften und Menschen mit diesem Problem nicht alleine zu lassen – denn: we are in this together. Es gibt keinen individuellen Ausweg aus dem Kapitalismus und aus dem Faschismus noch weniger.
Wenn ich mich in meinem Umfeld so umsehe, dann gibt es kaum noch Menschen, die denken, man könne die Entwicklung hin zu Faschismus und Krieg noch aufhalten (und dabei ist egal, ob das Aktivisti oder Unternehmer*innen sind). Aber trotzdem sind eher weniger Menschen schon jetzt bereit, sich auf das was sie als wahrscheinliche Zukunftsperspektive ansehen, vorzubereiten. Aber wann, wenn nicht jetzt? Noch haben wir viele Ressourcen und einige Freiheiten, noch sind wir relativ gesund, weitreichend ausgebildet und wohlgenährt. Ich halte das für eine bessere Ausgangslage, sich auf den Faschismus vorzubereiten, als wenn man das aus einem grundlegenden Mangel heraus muss.
Menschen beim freien Radio Nordpol (https://radio.nrdpl.org/) haben zu dem Thema eine 3-teilige Sendereihe gemacht, in der sie verschiedene Umgänge mit dem Präfaschismus vorstellen und diskutieren. Sie trägt den treffenden Titel: „Klimakollaps, Faschismus und verdammt, was kann ich tun?“:
Klimakollaps, Faschismus und verdammt, was kann ich tun? 2/3
Wir zwei kommen in der dritten Folge ja auch zu Wort und mir hat es so gut getan, Teil dieser Reihe zu sein! Einfach, weil ich mich seit dem nicht mehr so alleine auf dem Kassandra-Posten fühle. Ich will nicht mehr predigen und Leute überzeugen, die lieber in ihrer kognitiven Dissonanz verharren. Wer meint, mit vollem Bewusstsein in die eigene Handlungsunfähigkeit und den Faschismus zu rennen, enjoy! Ich merke, dass es mir wirklich nichts mehr bringt, in diese verzweifelten, kindlichen Augen von Mitte 30-Jährigen zu blicken, die mich fragen: Warum kann denn nicht einfach alles so bleiben, wie es ist? – Weil’s „jetzt“ auch schon beschissen ist, mein lieber Heinrich! Ich bin’s leid, meine Kraft an diejenigen zu verlieren, die nur den Verlust ihrer eigenen Privilegien beweinen. Wie stellt Scheherezad so treffend fest (sinngemäß): Die Welt ist ein Inferno voll Finsternis und Bosheit – finde diejenigen, die Licht ins Dunkel bringen und gebe ihnen Mut zu leben.
In diesem Sinne viel Liebe an Radio Nordpol und Dich – wir kommen aus dem Fallen auch nicht mehr heraus, aber vielleicht lernen wir das Fliegen noch vor dem Aufprall. Falls nicht, wartet unten Herr Müller und kratzt uns mit Vergnügen vom Bordstein.
Yours Fin