vonFred Hüning 19.12.2022

FKK – Foto, Kunst & Kapriolen

Fred Hüning, Fotograf & Tagedieb, sitzt in einer einsamen Blog-Hütte im Brandenburgischen und schreibt und fotografiert für sein Blog-Buch.

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Im Dezember 2013 habe ich Berlin durchwandert für den taz-Adventskalender – grob entlang der B1 zwischen Glienicker Brücke und Alt-Mahlsdorf.

Hier diese 21-teilige Bild- und Text-Kolumne – aufgeteilt auf zwei Blogbeiträge:

Adventskalender 13 – FREITAG, 13. DEZEMBER 2013:

Jüdenstraße Ecke Grunerstraße

Der Dezember kann sich nicht entscheiden. Nach dem ersten Schnee plötzlich wieder frühlingshafte 10 Grad und die Stadt verwandelt sich gegen Mittag in eine riesige Waschküche, die alles Hässliche, Laute, Bunte, Aggressive dieser Gegend um den Alexanderplatz verschwinden lässt. Ein magischer Moment.

Adventskalender 14&15 – SONNABEND/SONNTAG, 14./15. DEZEMBER 2013:

In der Karl-Marx-Allee 3, direkt vor dem Haus der Gesundheit, lockt die Imbiss-Oase mit CHINA SNACK DÖNER. Dort treffe ich Gunther, der unter derWoche in Berlin malocht, ansonsten aber in Lutherstadt Wittenberg zu Hause ist. Weihnachten muss er wohl arbeiten, weil sein Chef das so will. Er findet das aber okay, weil das Fest „eh nicht mehr ist als schön Essen und sich einen Antrinken“. Ich gebe Glühwein aus. Der kostet hier schlappe 1,20. Drüben am Alex verlangen sie 3 Euro dafür. Deshalb ist Gunther lieber hier an der Oase, wo es kaum Laufpublikum gibt, aber viele Stammgäste. Als ich versichere, dass die taz eine eher linke Zeitung ist, darf ich ihn auch fotografieren.

Adventskalender 16 – MONTAG, 16. DEZEMBER 2013:

Neben der ehemaligen Karl-Marx-Buchhandlung treffe ich die Herren Selke (30) und Hartke (78) vom Ernst-Busch-Chor, der seit 1973 besteht. Der Seniorenchor mit einem Altersdurchschnitt von 72 Jahren pflegt die Tradition der deutschen und internationalen Arbeitersängerbewegung. Herr Selke soll jetzt als neuer künstlerischer Leiter für frischen Wind sorgen. Ich muss gestehen, dass ich den Namen Ernst Busch nur von der Schauspielschule kannte. Dabei ist Busch genau wie ich in Schleswig-Holstein geboren. Es gibt sogar einen Ernst-Busch-Chor in Kiel. Man lernt nie aus.

Adventskalender 17 –  DIENSTAG, 17. DEZEMBER 2013:

In der Straße der Pariser Kommune besuche ich meine alte Freundin und Künstlerkollegin Karen Stuke. Für ihre Serie „Sleeping Sister“ fotografiert sie sich seit Jahren weltweit während des Schlafens mit ihrer Camera obscura. Nach zwei Flaschen Rotwein sind meine Beine schwer und ich nehme gerne das angebotene Nachtlager an. Bei der Gelegenheit richtet Karen ihre selbstgebastelte Kamera auf mich, löscht das Licht, öffnet das Loch der Pappbox, und morgens beim Aufwachen ist die Aufnahme im Kasten.

Adventskalender 18 –  MITTWOCH, 18. DEZEMBER 2013:

Hoch auf dem Dach des Theaters an der Parkaue genießt Marie Gesine den L.A.-tauglichen Sonnenuntergang und ihren Feierabend. Sie hat heute vor tobenden Kids der Zielgruppe 5plus zweimal die Gerda in der Schneekönigin gegeben, um 10 und um 14 Uhr. Bis Weihnachten geht das so weiter. Für den Fototermin trägt sie noch Gerdas falschen Zopf, ist aber schon auf dem besten Weg zur privaten Marie. Morgen, wenn das Haus wieder voll ist und das Adrenalin kommt, ist sie wieder Gerda. Hundertprozentig.

P.S.: Was denkst Du gerade, Marie? TIRAMISU!

Adventskalender 19 –  DONNERSTAG, 19. DEZEMBER 2013:

Frankfurter Allee / Ruschestraße / Normannenstraße / Alfredstraße. Kann die Geschichte eines Ortes auf den Ort selbst abfärben? Hier waren die Hauptverwaltung der Stasi und ein Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes, in dem gefoltert und auch hingerichtet wurde. Heute gibt es hier ein Frauengefängnis, ein Finanzamt und zwei Jobcenter. Ganze Häuserblocks stehen leer. Und ich schwöre: Habe noch nie so viele Überwachungskameras auf einen Haufen gesehen. Zerstreuung und Erholung versprechen der „Sonnensupermarkt Gigasun” und die Gaststätte „Feldherrenhügel“.

Adventskalender 20 –  FREITAG, 20. DEZEMBER 2013:

Wintersonntagnachmittag im Tierpark Friedrichsfelde.

Hier fühlt sich Berlin plötzlich wie Provinz an. Nichts los hier. Nur vereinzelte Rentner und Frauen mit Kinderwagen. Haben wahrscheinlich alle eine Jahreskarte. Überall Gehege wegen Baustelle geschlossen. Mäuseturm unbesetzt, Löwen ist langweilig, Tiger sind zu Tisch, Wölfe in Brandenburg, Füchse treiben sich lieber in Mitte rum.

Am Ende doch noch ein kleiner Höhepunkt: die seltenen Kohlquallen. Treten nur im Rudel (oder muss es Schwarm heißen?) auf und ernähren sich ausschließlich von Seekühen.

Adventskalender 21&12 – SONNABEND/SONNTAG, 21./22. DEZEMBER 2013:

Die Evangelische Gnadenkirche in Alt-Biesdorf liegt mitten auf der B1 – eingeschlossen von drei Autospuren in jeder Richtung. Um dort ungefährdet hinzukommen, muss man einen Umweg zur nächsten Fußgängerampel in Kauf nehmen. Gemeinsam mit Pfarrer Geiger, 45, steige ich die knarzigen Leitern im Kirchturm hinauf, bis es nicht mehr weitergeht. Der optimistische Herr Geiger sieht seine „Autobahnkirche“ als etwas Besonderes an. Eines Tages möchte er sie von außen mit Scheinwerfern beleuchten, um trostsuchenden Autofahrern den Weg zu weisen. Noch fehlen die Mittel und die Zeit dazu. Aber: eines Tages. One day, oh Lord.

Adventskalender 23 –  MONTAG, 23. DEZEMBER 2013:

Die Suche nach dem Sinn des Lebens spielt einer neuesten Umfrage nach für immer weniger Menschen eine Rolle. Für den neun Monate alten Konstantin ist das Leben hingegen ein einziges Wunder und randvoll mit Sinn. So viele erste Male stehen noch bevor. Weihnachten und bald der erste Schnee. Alles Gute, kleiner Mann. Du bist in guten Händen. Das sieht man ja!

Hier vom Butzer See aus sind es jetzt nur noch 2.500 Meter bis Brandenburg und dem Ende meiner kleinen Tour de Berlin.

Adventskalender 24 –  DIENSTAG, 24. DEZEMBER 2013:

Genau zur Wintersonnenwende um 18.11 Uhr habe ich das Schild „Berlin Mahlsdorf“ im Rücken: Ende der Wanderung. Auch der Fußgängerweg endet hier abrupt, der Straßenrand ist vollerWohlstandsmüll. Aus ästhetischen Gründen verbietet sich ein Foto. Bei milden 6 Grad bekomme ich Lust auf einen Himmel voller Sterne und laufe querfeldein ins Märkische Oderland. Nach zwei Stunden bin ich erschöpft und nehme erleichtert Platz im GroßenWagen, der offenbar schon auf mich gewartet hat. Auf der Heimfahrt zu meinen Lieben summe ich fröhlichden John-und-Yoko-Klassiker:

And so this is Xmas/

I hope you have fun /

The near and the dear one /

The old and the young /

A very Merry Xmas /

And a happy New Year /

Let’s hope it’s a good one /

Without any fear.

 

alle Bilder und Texte © Fred Hüning im Auftrag der taz

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