vonFred Hüning 19.12.2022

FKK – Foto, Kunst & Kapriolen

Fred Hüning, Fotograf & Tagedieb, sitzt in einer einsamen Blog-Hütte im Brandenburgischen und schreibt und fotografiert für sein Blog-Buch.

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Im Dezember 2013 habe ich Berlin durchwandert für den taz-Adventskalender – grob entlang der B1 zwischen Glienicker Brücke und Alt-Mahlsdorf.

Hier diese 21-teilige Bild- und Text-Kolumne – aufgeteilt auf zwei Blogbeiträge:

Adventskalender 1 – SONNABEND/SONNTAG, 30. NOVEMBER / 1. DEZEMBER 2013:

“Hier waren Deutschland und Europa bis zum 10. November 1989 um 18 Uhr geteilt“, erklärt das Schild, unter dem meine kleine Wanderung startet. Quer durch Berlin, von der Glienicker Brücke bis Hoppegarten. 10 Uhr morgens, 2 Grad Außen-, 6 Grad Wassertemperatur, sonnig. So viel ist sicher. Alles andere ist offen.

Adventskalender 2 – MONTAG, 2. DEZEMBER 2013:

Schwerer Anfang: habe Bilder im Kopf vom einsamen Funkturmwärter, winterfesten Golfern. Und dann das: Fernmeldeturm Schäferberg – für Publikum und Presse gesperrt, Golf- und Land-Club Berlin-Wannsee – Fotoerlaubnis nur mit schriftlicher Anmeldung. Dann eben das Helmholtz-Zentrum nebenan. Vielleicht darf ich einen leibhaftigen Kernforscher porträtieren. Ein seltsames Wesen mit metallischer Stimme fängt mich schon am Zaun ab, schubst mich zurück in den Wald. Heimlich gelingt mir ein Bild, ehe ich mit klopfendem Herzen zurück zur B1 sprinte.

Adventskalender 3 – DIENSTAG, 3. DEZEMBER 2013:

Adventsmarkt im Seniorenzentrum an der Königstraße 25. Höhepunkt: das Konzert mit Christian Anders. Der 68-jährige Schlagerstar, Filmschauspieler und Buchautor, schlank und drahtig wie Iggy Pop, rockt das Heim, flirtet mit kichernden Pflegerinnen, streichelt selige Seniorenköpfe, schüttelt winkende Hände, animiert zum Mitsingen seiner 21 Nummer-eins-Hits, macht zwischendurch Karatesprünge in die Luft. Alles ohne Honorar. Bei der anschließenden Autogrammstunde ist die Warteschlange der Rollstühle lang.

Adventskalender 4 – MITTWOCH, 4. DEZEMBER 2013:

Am Wannsee gönne ich mir eine Pause und nehme die Fähre nach Kladow und zurück. Ich klopfe an der schweren Eisentür, klettere die steile Leiter empor und befinde mich in der 3-qm-Kommandozentrale von Käpt’n David. Er hat eine 14-Stunden-Schicht. Solange der Wannsee nicht zufriert, wird er den ganzen Winter durchfahren. Stoisch, mit klarem Blick, geradeaus, immer auf der Hut vor einem Eisberg.

Adventskalender 5 – DONNERSTAG, 5. DEZEMBER 2013:

Hilde (herrisch): „Im Ausland habe ich mich immer für die Deutschen geschämt, die sich für die Deutschen schämten.“

Wolfgang (irritiert): „Von deutschem Boden soll nie wieder ein Joint ausgehen.“

Und Willy? Schweigt nur noch zur deutschen Frage. Hat aber Blumen mitgebracht, der alte Charmeur. Rosen für Hilde.

Waldfriedhof Zehlendorf. Tagträume mir imaginäre Gespräche. Vom Wind zugetragen. Wirklich schön hier.

PS: Wolfgang hat im Gegensatz zu Hilde und Willy kein Ehrengrab der Stadt.

Adventskalender 6 – FREITAG, 6. DEZEMBER 2013:

Potsdamer Chaussee Ecke Mutter-Mochow-Weg treffe ich auf Kirsten (47), Bino (16), Ließchen (11), Elvis (7), Betty (3) und Whitey (1). Nein, sie sei keine Hundesitterin – „alles meine eigenen“. Ich komme gar nicht richtig zumFotografieren, da sie mir ständigneue Fotos von den jetzt hier vor mir wild herumtollenden und kaum zu bändigenden fünfen auf ihrem Smartphone zeigt und mir anbietet, diese zu benutzen, falls meine nichts werden sollten. Sie möchte aber auf jeden Fall alle von mir gemachten Bilder zugeschickt bekommen – als Erinnerung. Gestresst von so viel Multitasking gehe ich die nächsten Kilometer bis zum Rathaus Steglitz schweigend, tief in meine Gedanken versunken.

Adventskalender 7&8 – SONNABEND/SONNTAG, 7./8. DEZEMBER 2013:

Orkane, die Xaver heißen, kann ich nicht ernst nehmen. Heute verlasse ich die B1 und pilgere trotz Sturmwarnung zu Fuß zum Hotel Bogota, das pleite ist. Arbeitseinsatz. Bis Heiligabend müssen alle 115 Zimmer geräumt sein. Ich hänge in der vierten Etage die Bilder ab. Spätabends sitzt die Familie Rissmann mit Freunden und Helfern an einer langen Tafel zusammen. Herr Rissmann senior schenkt Rotwein aus und reicht dazu Brot. Es herrscht fröhliche Endzeitstimmung.

Adventskalender 9 – MONTAG, 9. DEZEMBER 2013:

David Bowie wohnte von 1976 bis 1978 in der Hauptstraße 155. Das unscheinbare Haus lässt sich davon nichts mehr anmerken. Ab und zu verirrt sich daher ein Fan in die „Bücherhalle“ im Haus nebenan und lässt sich von Frau Volz geduldig alle brennenden Fragen beantworten. Das beeindruckend gut bestückte Antiquariat gibt es leider erst seit 1986. Ansonsten hätte sich der belesene Bowie dort bestimmt wohlgefühlt und so manchen Kunstband erstanden. Ich kaufe einenRoman und ein Fotobuch, und zum Abschied imitiert die elegante Frau Volz für mich aus dem Stegreif ein berühmtes LP-Cover.

Adventskalender 10 – DIENSTAG, 10. DEZEMBER 2013:

Potsdamer Straße 199. Aus einem Schaufenster heraus schauen mich Audry, Beyoncé, Britney, Candie, Ebony, Jealousy, Lady Gaga I, Rihanna und Scarlett mit großen Augen an. Neugierig betrete ich den COCOON Hairshop und schaue mich um. Eine Kundin stürzt hinein: Ich brauche Haare! Echte! Der freundliche Mitarbeiter Tahir erklärt: Echte? Da sind Sie hier falsch. Echte gibt es in unserem Geschäft nebenan. Hier nur falsche! Verwirrt verabschiede ich mich und wandere weiter durch den einsetzenden Schneeregen.

Adventskalender 11 – MITTWOCH, 11. DEZEMBER 2013:

In der Potsdamer Str. 77–87 benötige ich dringend eine Kunstpause: Am 7. 10. 1985, dem 36. Republikgeburtstag der DDR, stürzt sich die Österreicherin Christine Gössler-Furuya aus dem 9. Stock ihrer OstberlinerWohnung. Um sich für immer an ihren letzten gemeinsamen Ort erinnern zu können, fotografiert ihr Mann Seiichi Furuya bis zu seiner Ausreise 1987 manisch in Ostberlin. Unter dem Titel „Mémoires“ veröffentlicht er bis heute sieben Bücher, in denen er immer wieder die Fotos seiner Frau mit den Aufnahmen aus der DDR kombiniert – als „Requiem für zwei Tote“. Dank Galerist Thomas Fischer sind diese bewegenden Arbeiten nun endlich in Berlin zu entdecken.

Adventskalender 12 – Donnerstag, 12. DEZEMBER 2013:

Die Hälfte der Strecke liegt hinter mir. Der Schritt vomWesten in den Osten ist gemacht: Potsdamer Platz. Wollte angesichts des ganzenWeihnachtstrubels hier eigentlich eine bitterböse Kommerz-Kacke-Kapitalismus-Klage abfeuern. Und dann das: Beim Anblick des 20 Meter hohen Tannenbaums mit seinen 9.000 bunten Kugeln und 150.000 Lichtpunkten kommt wieder der kleine Junge vom Lande in mir hervor, und ich gebe mich dem bloßen Schauen und Staunen hin. Aber nur für 5 Minuten, dann sucht der Großstädter das Weite und geht gepflegt einen trinken. Ist schließlich Bergfest.

alle Bilder und Texte © Fred Hüning im Auftrag der taz

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