Fühlen Sie sich von meiner Überschrift betroffen, angegangen oder gar beleidigt? Falls nicht, gehören Sie wahrscheinlich zu genau der Gruppe, auf die sie sich bezieht, denn Sie haben kein Wort verstanden. So geht es sogenannten „Boomern“ mit den meisten Begrifflichkeiten heutiger Jugendsprache.
Gemeint ist die Generation der „Baby Boomer“ der Nachkriegszeit, eine Gruppe, die modernes Internet-Kulturgut pauschalisierend und irgendwie verzweifelt abwertet. „Boomer“ wurde 2019 zu einem der drei Deutschschweizer Wörter des Jahres gewählt und findet internationale Verwendung. Macht Sinn, immerhin beschreibt es die Position der „Anti-Sprachwandler“ perfekt und ist dabei doch selbst ein Auswuchs jenes Phänomens.
Den immer offensichtlicher werdenden Sprachwandel zu leugnen, haben sogar die rückständigsten Traditionalisten aufgegeben. Auch die Geschäftsführerin der Gesellschaft für deutsche Sprache erkennt die Veränderung unserer Sprache an, Anglizismen, neumodischer Internet-Sprech und der sinkende Konsum von klassischer Literatur beeinflussen unser Sprechverhalten stark. In der „Generation Z“ tauchen Fremdwörter wie „lost“ oder „Alman“ immer regelmäßiger auf, die heutige Jugendsprache ist für einige regelrecht ein „Buch mit sieben Siegeln“.
„Boomer“ wurde 2019 zu einem der drei Deutschschweizer Wörter des Jahres gewählt
Ist diese Veränderung nun aber Zeichen einer neuen, besseren Welt, oder wird das, was vorherige Generationen mühsam errichtet haben, schamlos eingerissen und mit einem sinnlosen Konglomerat aus ausländischen Wörtern ersetzt? Ist also der von den „Boomern“ zitternd befürchtete Sprachverfall Realität?
Ist er nicht. Er ist noch nicht einmal ein Phänomen unserer Zeit. Sprache verändert sich nämlich, seitdem es sie gibt. Um eine Veränderung zu bemerken, muss man nicht einmal 30 Jahre in die Vergangenheit blicken. Phrasen wie „schnallst du‘ s noch?“ oder „willst du mit mir gehen?“ sind der Jugendsprache meiner Eltern vorbehalten, beides Satzgebilde, die weder ich noch ältere Menschen so verwenden würden. Noch überzeugender wird diese These bei einem größeren Zeitsprung, oder wissen Sie, was Prinzessin Lieselotte 1721 mit „Teuütschen“ meinte? Ich auch nicht, das Wort sieht so aus, als wäre jemand auf der Tastatur eingeschlafen.
Sprache passt sich der Gesellschaft an, in einer von neuen Technologien und internationalen Einflüssen geprägten Zeit muss schnell, effizient und praktisch kommuniziert werden. Lange komplizierte Wörter wie „Grundstücksverkehrsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ nehmen nicht nur fast eine ganze Zeile ein, sondern können auch globaler Konkurrenz nicht trotzen. Schon Mark Twain bemängelte, dass man die deutsche Sprache nicht einmal in 30 Jahren lernen könne. Deutschland ist in der letzten Dekade aber zum Einwanderungsland geworden und muss seinen neuen Bürgern auch semantisch gerecht werden.
Wissen Sie, was Prinzessin Lieselotte 1721 mit „Teuütschen“ meinte?
Migration verändert Sprache und ist Anlass für die wenig geistreiche These, dass unser heutiges Deutsch eine linke, „gegenderte“ Ideologie verfolgt. Einerseits ist eine solche Behauptung aus (Achtung Überraschung) der AfD pure Xenophobie, andererseits ist sie aber auch grob falsch. Widerlegt wird sie von Rudi Keller, einem renommierten Linguisten von der Universität Düsseldorf. Laut Keller ist Sprache ein Werkzeug, das sich seiner Umgebung anpassen muss, um länger in Benutzung zu blieben. Verändert wird sie von der sogenannten „unsichtbaren Hand“. Sprache kann man also nicht befehlen oder steuern, sie tut, was ihre Sprecher als Kollektiv brauchen und das ist gerade ein einfaches und schnelles Kommunikationsmittel.
„Wenn man den persönlichen Albtraum schon nicht totschweigen kann, dann aber wenigstens auf die Barrikaden!“ So könnte eine Gedankengang der Sprachpuristen aussehen, abgesehen davon, dass sich speziell Sprache nur äußerst schwer „totschweigen“ lässt, ist diese verzweifelte und kindische Attitüde lächerlich. Als vermeintliches Beweismittel wird häufig eine Umfrage aus 2008 herangezogen, laut der über die Hälfte der Deutschen einen drohenden Sprachverfall wittern und dafür vor allem den Rückgang des Lesens, neue Medien und fremde Kulturen verantwortlich machen. Ist aber leider überhaupt nicht valide, da mit einer Suggestivfrage gearbeitet wurde und die Ergebnisse unseriös sind. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus dringen weit bis in die Debatte um den Sprachwandel vor, man darf sich von fadenscheingien Argumenten identitärer Populisten und Schwurbler nicht täuschen lassen.
Das schaurige Schreckgespenst namens „Sprachverfall“, das von den ewig Rückständigen so gern be- schworen wird, beruht oft noch nicht einmal auf Beispielen von tatsächlichem Sprachgebrauch. Ja, Jugendliche verwenden viele Anglizismen, es gibt aber keinen Grund, gleich den Teufel an die Wand zu malen. Nur weil den meisten „Boomern“ ein Englischkurs nicht schaden würde und sie sich, wenn Jugendliche kommunizieren, abgehängt fühlen, ist ihre „Früher war alles besser“-Mentalität noch lange kein guter Punkt.
Wörter wie „weird“ oder „cringe“ sind eine Bereicherung für unseren Wortschatz
Ich kann verstehen, wenn Sie sich jetzt auf die Füße getreten fühlen. Es ist nicht richtig, ältere Generation im Vornhinein als rückständig abzustempeln, die Ansprüche der sentimentalen „Altdeutschsprecher“ beruhen immerhin auf einer der größten Menschheitsängste. Schon der amerikanische Autor H P Lovecraft bezeichnetet die Angst vor dem Unbekannten und Fremden als die schrecklichste überhaupt. Wenn alles um einen herum schneller und anders wird, ist Widerstand der erste natürliche Reflex.
Allerdings müssen wir, als Deutsche, in die Zukunft blicken. In Zeiten von amerikanischen Trends und Innovationen braucht unser kompliziertes Deutsch eine besondere Legitimation, um gesprochen zu werden. Eine lange Tradition reicht nicht aus, um eine Sprache am Leben zu erhalten. Deutsch hat kein intrinsisches Recht weiter zu bestehen. Mit Blick auf die Globalisierung rechtfertigt nur die Veränderung unsere Sprache.
Also, liebe „Boomer“, statt euch über ein Phänomen zu beschweren, das ihr eh nicht aufhalten könnt, versucht doch lieber verständnisvoll zu sein. Nutzt die Verschmelzung verschiedener Sprachen zu eurem Vorteil, griffige Wörter wie „weird“ oder „cringe“ sind eine Bereicherung für unseren Wortschatz und können echt praktisch sein. Niemand nimmt euch etwas weg, wer einen klassischen Gedicht- band aufschlägt, wird geradezu mit alter und komplexer Sprache überhäuft. Was eine junge Generation aber in ihre Gedichtbände schreibt, bleibt uns überlassen. Wenn sich junge Menschen entscheiden, den Trends zu folgen und ein Teil des großen Ganzen zu sein, ist das kein Verfall, sondern notwenige Veränderung.
Von Mariel Bernnat, 16 Jahre, Schülerin am Gymnasium Remchingen bei Pforzheim
Die Überschrift ist bewusst provokativ und einseitig gewählt “Boomer-Geheul”. Die Verfasserin bezieht sich explizit auf eine bestimmte Generation der Gesellschaft. Die Frage, die sie im Anschluss stellt, ist gleichermaßen provokativ. Es ist sprachwissenschaftlich schlichtweg falsch, den Begriff “Boomer” ausschließlich der “Jugendsprache” zuzuordnen und dann auch noch zu behaupten, die Generation der 60iger würde ihn nicht verstehen. Da hätte sich Mariel Bernnat schon einen anderen Terminus aussuchen müssen und selbst der wäre den Boomern ggf. bereits bekannt gewesen. Jede 6. Mutter bekommt heute mit 40 Jahren ihr erstes Kind und das wäre bei den Boomern heute genau der Jugendliche zuhause, der eben jene Sprache spricht. Der Begriff “Boom” ist seit mindestens 75 Jahren bekannt, spätestens seitdem uns das Kriegsende weltweit den “Wirtschaftsboom” bescherte, zudem ist “Babyboomer” seit vielen Jahrzehnten der offizielle Generationenbegriff (s.Schulz/Hurrelmann) und es ist gerade die Generation der Babyboomer des Englischen überaus mächtig, da ihr Abitur Mitte der 8oiger Jahre noch nicht so deflationär war wie es heutzutage der Fall ist und in ihrem Studium Englisch Wissenschaftssprache ist und war.
M1: Sprachveränderung und Widerstand dagegen gibt es seit 2000 Jahren. Das ist nicht neu. Die Sprachresistenz, die Bernnat den Babyboomern unterstellt, ist viel zu pauschal, empirisch nicht belegt und sachlich nicht fundiert. Sprachwandel und Widerstand dagegen ziehen sich durch alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten. Bei den Babyboomern handelt es sich um “digital immigrants”, das heißt, sie sind zwar mit den digitalen Medien nicht aufgewachsen, das Smartphone erorberte 2007 den Markt, aber sie haben sich blitzschnell in sie hineingearbeitet und gehören heute zu den Leuten, die die sozialen Medien für berufliche und private Zwecke besonders ausgiebig nutzen. Sie verteufeln das Internet nicht, sondern schätzen seine Errungenschaften, blicken aber dennoch objektiv auf digitale Gefahren wie z.B. die Cyberkriminalität oder eine gewisse Verrohung der Sprache durch Distanzverlust. Durch das Internet sind wir den Menschen, die regional Lichtjahre entfernt sind, noch niemals so nah gewesen wie heute. Warum also sollten sich ausgerechnet Babyboomer gegen eine Sprachveränderung wehren und wenn mehr als andere, gerade da ihnen z.B. das Englische so vertraut ist ? Es mangelt durchweg an Beweisen!
M2: Der Begriff “Widerstand” trifft es nicht. “Sprache” ist ein Kulturgut und die gilt es zu erhalten. Es ist also stets eine Gradwanderung zwischen “Spracherhalt” und “Sprachveränderung” vonnöten und es gibt explizite Institutionen, die sich, wie in anderen Nationen auch, gerade dem Spracherhalt widmen, dem Schutz der deutschen Sprache, so wie es auch Teilbereiche gibt, die die Sprachveränderung wahrnehmen und istitutionalisieren wie z.B. der Duden.
Beides ist gleichermaßen opportun Spracherhalt und Sprachveränderung.
M3 Auch dieses Argument ist viel zu pauschal und nicht fundiert. Anglizismen. Die englische Sprache ist innerhalb der indo-germanischen, heute indo-europäischen, Sprachfamilie aus dem Germanischen/Deutschen entstanden und nicht ungekehrt, wie so manch einer vermuten würde . Anglizismen in der deutschen Sprache sind also eine Rückkehr germanischer Worte in die Ursprungsfamilie. Das Internet hat streckenweise seine ganz eigene, eher gesprochene als schriftliche Standardsprache und wer behauptet ,dass klassische Literatur weniger gelesen wird und wenn ja von wem? Es gibt eine Rückbesinnung in der Gesellschaft und klassische Literatur wird durchaus gelesen, wenn vielleicht auch erst im Erwachsenenalter oder im Rahmen des Studiums, denn da ist der Autorin beizupflichten, in den Curricula der Gymnasien hat es diesbezüglich eine gewisse Abspeckung gegeben. Hier ist aber auch dem zunehmenden Anteil von SchülerInnen mit nicht deutscher Muttersprache Rechnung zu tragen und der Tatsache, dass klassische Literatur in Originalsprache gelesen werden sollte, weil es sich andernfalls um einen “Sprachverfall” respektive “Kulturverfall” handeln würde.
M4: Die Frage stellt sich gar nicht. Sprachveränderung ist ein Tatbestand. Spracherhalt eine Notwendigkeit.
M5: Hier ist der Verfasserin beizupflichten, allerdings hat Sprachveränderung bereits vor 1000en vor Jahren eingesetzt, sonst wäre im 8./9. Jahrhundert z.B. das Germanische nicht ins Altdeutsche übergegangen usw.
M6: “Sprache passe sich der Gesellschaft an”. Dies ist ein wechselseitiger Prozess. Die Gesellschaft besteht aus Menschen, die formen und verändern, auch Sprache. Sprache ist ein “biologischer Organismus” in den Augen einiger Sprachwissenschaftlicher, der entsteht, sich formt und verändert und vergeht”. Sprache ist ein Mittel zum Zweck, ein Kommunikationsmedium mit bestimmten Funktionen. Sie dient dazu, Botschaften, Gedanken und Gefühle zu kommunizieren, wenn sich Tatbestände, Gedanken, Gefühle ändern, ändert sich auch Sprache. Sprache verändert den Menschen und der Mensch verändert Sprache.
M7: Auch Migration ist kein neues Phänomen. Völkerwanderungen hat es schon immer gegeben und sie haben immer Einfluss auf Sprache genommen. Auch hier ist das Argument zu pauschal, da es durchaus Einwanderer gibt, die die deutsche Sprache gar nicht sprechen oder sie nicht erlernen wollen, insofern gibt es da auch keinen Einfluss. Das Urteil des Linguisten Keller teile ich nicht. Sprache bleibt in Gebrauch, solange Menschen sie sprechen und sie muss keineswegs einfach und schnell sein, sondern variiert je nach Funktionsbereich und Register. Sprache in einem digitalen Chat ist anders als die einer wissenschaftlichen Doktorarbeit. Sprache ist der Spiegel des Denkens, ohne Sprache ist kein Denken möglich, ohne Denken kein Ausdruck von Sprache. Das käme ja einer Forderung nach immer schnellerem Denken gleich. Manche Dinge müssen Weile haben, um heranzureifen.
M8: Sprachwissenschaftliche Studien belegen, dass Jugendliche nicht mehr Anglizismen verwenden als andere Menschen auch . Sie haben ihre eigene Sprache. Apropos hierbei handelt es ich nicht um eine Sprache, sondern um einen “Regiodialekt”, da das, was Jugendliche sprechen, nicht über eine komplette, eigenständige Grammatik verfügt, sondern sich der grammatischen Elemente der Standardsprache bedient. Jugendliche müssen ihren eigenen Regiolekt sprechen, um in ihren peergroups (ein schöner Begriff, der einfach im Deutschen keine tolle Entsprechung hat, “Gleichgesinntentrupp”) andere auf Abstand zu halten. Regiolekte sind zeiltich und geschichtlich limitiert, wenn die Jugendlichen erwachsen sind, wechseln sie wieder in ein anderes Sprach-Register.
M9: Boomer sind tolerant, nicht weniger tolerant als andere Altersklassen auch. Sie leben mit dem Sprachwandel und initiieren ihn teilweise sogar selbst. Viele Autoren dieser Generation schöpfen völlig neue Worte, da es zu ihrem kreativen Prozess dazu gehört. Leser übernehmen diese Worte. Sprachwandel tritt dann ein, wenn die Gemeinschaft groß genug ist, die Sprachveränderungen adaptiert.Sie schätzen die Vorteile. Es kommt immer auf den Kontext an. Ein deutscher Autor sollte schon in seinem Werk andere Register explizit kennzeichnen oder wann immer er kann, deutsche Worte verwenden. Wie bei allem, ist das rechte Maß maßgeblich. Veränderung und Erhalt, Toleranz und Widerstand. In der Mitte entspringt der Fluß.
Resumée:
Dass eine 16jährige Schüler sich in einem FaZ-Blog traut, über ein aktuelles Forschungsthema zu schreiben, sei gewertschätzt. Als mir der Artikel in die Hände fiel, wußte ich gar nicht, dass es sich um eine solch junge Dame handelt.
Bernnat weist auf Dinge wie Sprachveränderung, mögliche Ursachen und den Gegenspieler “Spracherhalt” hin.
Leider ist der Beitrag erschreckend pauschal und provokativ zeitweise sogar sehr ungerecht einer bestimmten Generation gegenüber und weder empirisch belegt noch fundiert. Es besteht der Verdacht, dass Bernnat, wie ja auch ihr junges Alter vermuten lässt, gar nicht weiß, wie Babyboomer überhaupt “ticken” und handeln. Sie weist auf keinelei Quellen oder empirische Untersuchen hin. Allein um so etwas zu behaupten, wie Jugendliche benutzen viele Anglizismen, bedarf es einer empirischen Untersuchung über drei Generationen mittels eines schriftlichen Textkorpus oder Audioaufnahmen. Fehlanzeige.
Dieser Blogbeitrag verfügt aus sprachwissenschaftlicher Sicht weder über einen empirischen noch wissenschaftlichen Nährwert und ist allein der sehr subjektiven Sicht einer jungen Dame geschuldet. Ich würde dennoch dazu raten, Beiträge zu verfassen zu Themenbereichen, in denen man sich auskennt, entweder in der Generation „Babyboomer“ oder aber sprachwissentschaftlich, am besten natürlich beides oder man wählt gleich ein altersentsprechendes Thema.
Mit freundlichen Grüßen, S. Lauer, Baujahr 1964 (voller Stolz „Babyboomerin“, die hier mal geheult hat, aber auch nur, um einiges richtig zu stellen.