Lea Ypi stellt in ihrem Buch „Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ auf besonders treffende Art und Weise dar, was sich als ein unüberwindbares Paradoxon menschlicher Freiheit begreifen lässt. Das thematische Zentrum von Ypis Buch stellt ihre Jugend im kommunistischen Albanien dar.
Ypi denkt insbesondere über die Frage nach, ob der Fall der Mauer ihrem Heimatland Albanien angesichts der wirtschaftlichen Probleme, die durch die Liberalisierung der westlichen Märkte entstanden sind, wirklich mehr Freiheit gebracht hat. Damit ist Ypi bei der eigentlichen Frage angelangt: Was bedeutet Freiheit? Dadurch, dass Ypi diese Frage vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen der Zeit stellt, die gezeigt haben, dass die kapitalistischen Einflüsse aus dem Westen eher zu Massenarbeitslosigkeit und Emigration geführt haben, wird deutlich, dass das im Kapitalismus enthaltene Freiheitsversprechen in eklatanter Diskrepanz zu jenen Verhältnissen stand, mit welchen sich die Menschen im damaligen Albanien konfrontiert sahen.
In gewisser Weise wirft Ypi damit die Frage auf, inwieweit der Mensch tatsächlich als Gestalter seines eigenen Lebens angesehen werden kann, wenn diese menschliche Existenz selbst in gewisser Weise durch die gesellschaftlichen Strukturen, mit denen der Mensch konfrontiert ist, vorgeprägt ist. Um es konkreter zu formulieren: Ist der Mensch wirklich in der Lage, seine Freiheit im Rahmen seiner eigenen Existenz voll zu verwirklichen?
Keine Illusionen mehr über das Freiheitsversprechen des Liberalismus
Ypi berichtet, dass ihre Eltern noch die Hoffnung hatten, dass der Liberalismus die emanzipative Befreiung von den Unzulänglichkeiten des albanischen Sozialismus sein würde. Am Ende des Buches gibt Ypi jedoch zu, dass sie sich keine Illusionen mehr über das Freiheitsversprechen des Liberalismus macht – weder der Liberalismus noch der Sozialismus, so Ypis Diagnose, waren in der Lage, das Freiheitsversprechen zu verwirklichen. Die Frage bleibt: Kann der Mensch überhaupt in die Lage versetzt werden, den Moment seiner vollen Freiheit zu erleben, oder bleibt das Prinzip der Freiheit nur ein Begriff in der Vorstellung der Menschen?
Das Problem, welches Ypi hier aufwirft, ist nicht nur in theoretischer Hinsicht äußerst interessant, sondern hat darüber hinaus auch enorme praktische Konsequenzen, da es am Ende auf die Frage hinausläuft: Ist der Mensch dazu in der Lage, seine eigene Freiheit zu verwirklichen?
Wenn weder der Realsozialismus noch der westliche Kapitalismus dazu in der Lage waren, dem Menschen zur eigenen Freiheit zu verhelfen, kann es dann überhaupt ein System geben, in welchem der Mensch zur eigenen Freiheit finden kann? Oder ist die Gefahr einer Regression in der Unfreiheit vielmehr bereits in der conditio humana selbst mit angelegt?
Eine Antwort könnte eine von Erich Fromm einst formulierte Kritik an der gängigen Marx-Interpretation liefern. Das Hauptproblem bestehe in vielfacher Hinsicht darin, so Fromm, dass die einseitig materialistische Interpretation von Marx dazu geführt habe, dessen Kernanliegen aus den Augen zu verlieren: die Emanzipation des Menschen selbst. Dadurch, so Fromm, wurde in letzter Konsequenz das Kernanliegen des Sozialismus selbst korrumpiert, da dieser letztendlich lediglich als ein Instrumentarium zur Befriedigung des menschlichen Konsumdrangs interpretiert wurde.
An dieser Stelle lohnt es sich, Fromm zu zitieren:
Die Schwierigkeit, Marx zu verstehen, ergibt sich aus der Tatsache, daß sowohl der sowjetische Marxismus, als auch die reformistischen westlichen Sozialisten das System von Marx in einer Weise vorstellen, als ob es diesem im Kern und ausschließlich nur um wirtschaftliche Fragen ginge. Sie haben den historischen (oder dialektischen) Materialismus – Begriffe, die Marx selbst nicht gebrauchte – so interpretiert, als sei die vorherrschende Triebkraft im Menschen seine Leidenschaft, immer mehr haben und konsumieren zu wollen, und daß der Sozialismus ein geeignetes Instrument sei, um zu immer mehr Produktion und Konsum für alle zu kommen. […] Die Idee vom Primat des Besitztriebs ist eine bürgerliche, und keine marxistische Vorstellung. Für Marx stellte die Geldgier das Produkt bestimmter gesellschaftlicher Umstände dar und war kein „Instinkt“, der als Ursache für diese Umstände verantwortlich gemacht werden könnte. Die Zielvorstellung, von der Karl Marx ausging, war die Befreiung des Menschen aus seiner Verkrüppelung, die Befreiung vom Verlust seiner selbst, von seiner Entfremdung. Die sozialistische Gesellschaft war für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur vollständigen Verwirklichung des Menschen.
Die kapitalistische Brille abnehmen
Das Scheitern, die Emanzipation des Menschen herbeizuführen – oder diesem zur eigenen Befreiung zu verhelfen – lässt sich damit laut Fromm auf den Umstand zurückführen, dass sowohl die realsozialistischen Systeme als auch die westlichen Sozialisten in ihrer Interpretation von Marx einem Fehler unterliegen, welcher eigentlich als ein paradigmatisches Beispiel für den Habitus eines Vulgärkapitalisten (im besten marxschen Sinne) betrachtet werden kann: Dass die materiellen Triebkräfte (in Form des Seins) die Wahrnehmung der Menschen (das Bewusstsein) vordeterminieren und damit zu einer Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen, d.i. kapitalistischen, Verhältnisse beitragen.
Um den Sozialismus nach Fromm adäquat zu erfassen, muss dieser wieder als das interpretiert werden, was er seinem Ideal nach war: ein Mittel zu vollständigen Befreiung der Menschen. Dies kann wiederum nur gelingen, wenn man – um es an dieser Stelle etwas drastischer zu formulieren – die kapitalistische Brille abnimmt und Marx (im Sinne Fromms) an dieser Stelle einer Neuinterpretation unterzieht.
Um an dieser Stelle zur Eingangs erwähnten Frage (welche Ypi unter anderem auch in ihrem Buch aufwirft) zurückzukehren: Kann der Mensch überhaupt zu Freiheit gelangen? Oder bleibt Freiheit immer ein Ideal, welche sich durch das Prinzip der Nicht-Erreichbarkeit auszeichnet?
Die Antwort auf diese Frage würde – nach Fromms Lesart wohl ja lauten (etwas, was Fromm in noch ausführlicherer Weise in seinem Werk „Die Furcht vor der Freiheit“ schildert). Es kommt in diesem Zusammenhang lediglich darauf an, die genuin bourgeoise Sichtweise zu verlassen, welche von einem Menschenbild ausgeht, dessen Motivation durch das Streben nach Konsum (oder in Fromms Terminologie: durch die Habenslogik) geprägt ist. Dies sollte jedoch nicht zu der irrigen Annahme verleiten, dass es zu einer genuin idealistischen Position zurückzukehren gilt, welche jegliche Form der materiellen Verhältnisse negiert. Vielmehr sollte das Konzept der Materialität nicht als Determinante, sondern als Hilfsmittel zur menschlichen Emanzipation gedacht werden. Dann bleibt die Freiheit selbst kein Ideal mehr, sondern gewinnt konkret an Materialität.
Von Florian Maiwald, Philosophie-Doktorand an der Universität Bonn. Er veröffentlicht im Freitag, The European, Pressenza und Unsere Zeitung.