von JAN-NIKLAS KEMPER
Wenn wir uns die Reaktionen auf Kevin Kühnerts Interview mit der Zeit anschauen, könnte man meinen, er habe auf dem Platz der Republik den Sozialismus ausgerufen. Ein ähnlicher Aufruhr war schon ein paar Wochen vorher zu vernehmen gewesen, als Robert Habecks Forderung, vom Enteignungsrecht öfter Gebrauch zu machen, für Schlagzeilen sorgte. Doch was haben die Beiden eigentlich gesagt? Und worum dreht sich letztendlich die hitzige Debatte?
Politischer Machtkampf ist keine neue Erscheinung. Schlägt eine linke Partei eine Richtung vor, werden rechte Parteien dagegen halten. Andersrum genauso. Die Politik gesteht ihren Gegner*innen kaum gute Vorschläge zu und wird in fast allen Fällen beanspruchen, eine bessere Lösung erarbeiten zu können. Das Streiten um die beste Lösungen ist dabei essenziell und wichtige Grundlage der Demokratie.
Was neu ist, ist die Entfremdung vom eigentlich Gesagten. Kommentare und Feedback erfolgen in unserer digitalisierten Welt mittlerweile innerhalb weniger Stunden, teilweise in Minuten. Das hat vor allem zur Folge, dass sich weniger mit dem Auslöser der Diskussion befasst wird. Stattdessen werden Halbwahrheiten für voll genommen und Reaktionen vorschnell verbreitet. Mit der Entfernung vom Ursprünglichen ist eine zunehmende Vergiftung der Debattenkultur zu vernehmen.
Reaktionen heftiger als erwartet
Das jüngste und prominenteste Beispiel dafür, ist wohl die Debatte um ein Interview mit Kevin Kühnert, dem Vorsitzenden der Jungsozialisten, das die Zeit am 1. Mai online veröffentlicht hatte. Darin beschreibt Kühnert, wie eine post-kapitalistische Welt aussehen könnte, spricht sich unter anderem für eine Kollektivierung von großen Konzernen wie BMW aus, um den Wohlstand in allen Bevölkerungsschichten besser verteilen zu können. Sein Kernanliegen sei eine Demokratisierung aller Bereiche. „Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden.“
Dass diese Ansichten und Vorschläge nicht alle Menschen teilen würden, war vorhersehbar. Die Reaktionen, die das Interview jedoch letztendlich auslöste, waren doch deutlich heftiger als erwartet. Die von Kühnert selbst als „reizvolle Utopie“ bezeichnete Ausgestaltung von einer Alternative zur marktwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung des Kapitalismus, den es zu „überwinden“ gelte, wurde von CSU-Generalsekretär Markus Blume als „Hirngespinst“ abgetan. Der Vorstoß sei „lächerlich“ und biete keine konstruktiven Ideen gegen den Wohnungsmangel. Auch Johannes Kahrs aus der eigenen Mutterpartei SPD äußerte sich entschieden bei Twitter: „Was für ein grober Unfug. Was hat der geraucht? Legal kann es nicht gewesen sein.“
was für ein grober unfug. was hat der geraucht? legal kann es nicht gewesen sein.
Gedankenspiele des Juso-Chefs: Kühnert will BMW verstaatlichen https://t.co/26sck5f7lz via @SPIEGELONLINE— Johannes Kahrs (@kahrs) 1. Mai 2019
Bundesverkehrsminister Scheuer bezeichnete Kühnert als einen „verirrten Fantasten“, CDU-Chef Strobl wirft ihn und seine Ideen in einen Topf mit den „kommunistischen Linken“. Dabei war von Kommunismus nie die Rede. Kühnert fordert auch nichts. Er beschreibt eine Gesellschaft, die mehr Demokratie erfahren soll und mit dessen Wohnraum nicht länger große Geschäfte betrieben werden sollen. Für Alice Weidel (AfD) Grund genug DDR-Vergleiche zu ziehen und die Einschaltung des Verfassungsschutzes zu fordern.
Wenig inhaltliche Kritik
Auch die Bundestagsfraktion der FDP schmettert Kühnerts Ideen ab, twittert dabei von „Verstaatlichung“, ein Begriff und ein Konzept, das im Interview gar nicht genannt wurde. Im selben Tweet fordern sie die Abschaffung des §15 im Grundgesetz, der die Vergesellschaftung von Grund, Boden und Produktionsmitteln erst möglich macht.
Es werden verschiedene abstrakte Begriffe gleich gesetzt, sodass deren Bedeutungen verwischen. Die ganze Debatte erhitzt sich, wird durch überspitzte historische Vergleiche emotional aufgeladen und sorgt so tagelang für Schlagzeilen. Doch wirklich inhaltliche Kritik gibt es wenig. Argumente auch kaum. Aus all den Tweets und Stellungnahmen sind lediglich entschiedene Ablehnung und hoffnungsvolle Zustimmung zu verspüren, eine wirkliche Diskussion um das Gesagt von Kühnert bleibt aus, findet wenn dann im Hintergrund statt.
Ein paar Wochen zuvor hatte sich der Parteichef von Bündnis 90/Die Grünen Robert Habeck in einem Interview mit der Welt am Sonntag dafür ausgesprochen, Eigentümer, die Grundstücke weder bebauen noch zum Verkauf stellen wollen, notfalls zu enteignen. „Das Grundgesetz sieht solche Enteignungen zum Allgemeinwohl ausdrücklich vor.“
Auch an diesen Forderungen reiben sich andere Parteien. FDP-Chef Lindner spricht von „DDR- Ideen“. Vor allem die Union zeigt sich empört: Es handele sich um eine „schwachsinnige Debatte“ und „sozialistische Ideen“. Enteignungen werden dabei als radikales Mittel geframed, das nicht mit unserem Verständnis von Wohnungsmarktpolitik übereinstimmen könne. Den Reaktionen ist zu entnehmen, dass konservative und liberale Parteien Enteignungen grundsätzlich und mit Nachdruck ablehnen.
Kein bloßes Mittel des Populismus mehr
Doch ist dem auch wirklich so? Eine Anfrage im Bundestag deckt ein paar Tage später auf, dass derzeit in zehn Bundesländern insgesamt 65 Enteignungsverfahren gegen Privathaushalte laufen, um Bundesstrassen und Bundesautobahnen an selbiger Stelle bauen zu können. Wo Enteignungen von Immobilienkonzernen im Sinne des Allgemeinwohls noch als „DDR-Ideen“ abgetan werden, sind Enteignungen von privaten Haushalten in der Praxis an der Tagesordnung.
Hier stehen Theorie und Praxis der regierenden Fraktionen im direkten Widerspruch zueinander. Wer glaubhafte Politik machen will – und das sollte Ziel einer jeden demokratischen Partei sein – sollte alles daran legen, die Diskussion wieder zu versachlichen. Längst sind emotionale Vergleiche, die durch affektiv hervorgerufene Gefühle den Diskurs bestimmen sollen, kein bloßes Mittel des Populismus mehr, sondern haben sich über die gesamte Debattenlandschaft in Deutschland ausgebreitet. Die deutsche Politik muss sich wieder gezielter mit Sachverhalten auseinander setzen und weniger munter drauf los twittern. Langfristig führt diese Art von Debattenkultur zu Frustration, Unverständnis und Intransparenz.
Vor allem wollen Menschen in Deutschland Antworten auf wichtige Fragen und die sollten diese auch bekommen. Was tun gegen den Klimawandel, wie kann eine gerechte Altersvorsorge aussehen oder wie beenden wir endlich den Wohnungsmangel in deutschen Großstädten? Nichts davon ist durch lautes Posaunen schlecht recherchierter und nur zur Hälfte geprüfter Stellungnahmen zu beantworten.
Wer diskutieren will, muss sich der Faktenlage und der Argumente bewusst sein. Sind diese Vorraussetzungen nicht erfüllt, ist eine Debatte destruktiv und keineswegs gewinnbringend. Schlimmer noch ist das bewusste Verbreiten überspitzter Vergleiche, die sich von der Diskussionsgrundlage längst entfremdet haben.
Doch genau diese Art von Überspitzung und Desinformation erleben wir dieser Tage viel zu häufig. Auch wenn die Meinungen und Konzepte auseinander gehen, sollte die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Aspekten wieder in den Fokus gestellt werden, denn nur so kann eine gewinnbringende Debatte funktionieren.
[…] Anm.: Dieser Text erschien zuerst im taz Freiraum-Blog. […]