von 26.05.2020

Freiraum

Ausgewählte Einzelbeiträge von Autor*innen in- und außerhalb des taz-Kosmos'.

Mehr über diesen Blog

Von Asif Masimov

Vor 102 Jahren am 28. Mai erklärte Aserbaidschan sich als erste demokratische Republik im ganzen muslimischen Orient unabhängig. Die Demokratische Republik Aserbaidschan, die sich damals in einer angespannten und schwierigen Lage befand, existierte lediglich 23 Monate. Es ist der parlamentarischen Republik in dieser kurzen Phase aber dennoch gelungen, ein modernes politisches System zu gestalten, in dem Minderheiten wesentliche Rechte zugesichert wurden. So wurde u. a. auch Frauen noch lange vor einigen führenden westlichen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien oder den USA, das Wahlrecht zuerkannt.

Die Aserbaidschanische Republik gründete in kürzester Zeit eine nationale Armee und brachte eine Währung in Umlauf, indem eine Nationalbank geschaffen wurde. Des Weiteren wurden einige wirtschaftliche Reformen durchgeführt. Binnen zwei Jahren kämpfte Aserbaidschan bereits um die Anerkennung auf der internationalen Bühne. Zu diesem Zweck reiste eine Delegation unter der Leitung des Außenministers Alimardan bay Toptschubaschow zur Pariser Konferenz. Die Unabhängigkeit der Republik Aserbaidschan wurde während der Pariser Friedenskonferenz vom 20. Januar 1920 von den Entente-Staaten nur de facto anerkannt. Für eine vollständige Anerkennung durch die internationale Gemeinde reichte die Zeit jedoch nicht aus, denn bereits am 27. April 1920 überschritten die Rotarmisten die sowjetrussisch-aserbaidschanische Grenze. Desanten der Rotarmisten wurden von der 11. Armee Sowjetrusslands begleitet, die in derselben Nacht die aserbaidschanische Grenze verletzten und die Stadt Chudat besetzten.

Das ganze Geschehen ereignete sich in einer durchaus angespannten Situation, da bereits am 26. April 1920 Befürworter der russischen Annexion, die aserbaidschanischen Bolschewiki, in Baku einen Aufstand organisiert hatten. Des Weiteren begannen bereits im März Angriffe durch armenische Streitkräfte auf Aserbaidschaner in Karabach. Das alles lässt die Vermutung nahe, dass diese Unruhen innerhalb Aserbaidschans zunehmend von Moskau koordiniert wurden, damit das ölreiche Aserbaidschan schneller unter sowjetrussische Kontrolle fällt.

Es soll an dieser Stelle dennoch kein falsches Bild bzw. die Idee vermittelt werden, dass sich Aserbaidschan anstandslos mit der russischen Annexion zufrieden gab. Nach dem Einmarsch der Rotarmisten fanden in den Regionen einige Aufstände statt, die letztendlich gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Nach der zügigen Besetzung Bakus konzentrierten sich die Rotarmisten auf die Ausweitung ihrer Macht im westlichen Teil Aserbaidschans. Die russischen Rotarmisten besetzten alsbald Gändschä, die erste Hauptstadt der Aserbaidschanischen Republik, und die Nationalarmee wurde zeitnah in die Rote Armee umgewandelt. Es schien zunächst so, als ob die Besetzung ganz ruhig verlief. In der Nacht vom 25. auf den 26. Mai 1920 fand jedoch ein großer bewaffneter Aufstand der Bevölkerung Gandschäs statt, deren Mitstreiter vermehrt Anhänger der Müsavat-Partei waren. Die Rebellen griffen die Kaserne der Roten Armee an und entwaffneten die Rotarmisten. Dann erklärten sie den Sturz der Sowjetmacht in Gandschä und begannen eine Militäroperation zur Befreiung der Stadt.

Interessanterweise schlossen sich dem Aufstand noch die Anhänger der Denikin-Truppen, der georgischen Menschewiki und türkische Offiziere an.

Der Aufstand dauerte, je nach Quellen, ungefähr vom 26. Mai bis 01. Juni 1920. Die wichtigsten Figuren des Gändschä-Aufstandes waren Generalmajor Mammad Mirza Kadschar, Generalmajor Dschavad baj Schichlinski, Polkovnik Dschahangir baj Kazımbajov u. v. m. Viele der Rebellen hatten Militärerfahrung im Zarenreich oder in der jungen Aserbaidschanischen Republik.

Wie sich später Kazımbajov erinnerte, planten die Führer des Aufstands zunächst einen Überraschungsangriff auf die Rote Armee, um diese so schnell wie möglich zu entwaffnen. Danach wollten sie sich mit weiteren aserbaidschanischen Einheiten in Karabach verbinden, um dann zielgerichtet gegen die armenischen Streitkräfte für eine Befreiung des Landes kämpfen zu können.

Am 01. Juni 1920 wurde der Aufstand jedoch brutal niedergeschlagen, landwirtschaftliche Güter zerstört und die Straßen Gändschäs erinnerten, vollkommen überfüllt mit Leichen, an einen Friedhof.

Die Hauptursache der Rebellion war einfach auszumachen: die Nicht-Anerkennung der russischen Sowjetmacht. Es wurden aber noch weitere Beweggründe, wie die Willkür und der Missbrauch der Rotarmisten gegenüber der aserbaidschanischen Bevölkerung in Baku und in den anderen Regionen, erwähnt. Darüber hinaus begannen die Rotarmisten Repressalien gegen die aserbaidschanische Intelligenz durchzuführen, die den Kern der Aserbaidschanischen Republik ausmachten.

Man sollte dennoch eine Tatsache nicht außer Acht lassen: In Gändschä ereignete sich bereits am Anfang des 19. Jh. ein ähnliches Szenario, als das Zarenreich Stück für Stück die aserbaidschanischen Chanaten eroberte. 1804 stießen die Russen nach dem Einmarsch in Gändschä auf Widerstand der lokalen Bevölkerung unter der Leitung von Cavad Xan. Nach der Eroberung der Stadt seitens der Russen wurde sogar der historische Name Gändschä abgeändert. Bis 1918 hieß die Stadt nun Jelisavetpol zu Ehren der Großfürstin Elisabeth Alexejewna.

Mit der Annexion Aserbaidschans seitens Sowjetrusslands begann die Sowjetisierung im gesamten Land. Die etablierte Sowjetmacht existierte bis 1991. Am 18. Oktober 1991 erlangte Aserbaidschan seine Unabhängigkeit wieder. Aserbaidschan begeht dennoch jedes Jahr am 28. Mai den Jahrestag der ersten nationalen Unabhängigkeit.

Die heutige Aserbaidschanische Republik erklärte sich als rechtlicher, politischer und geistiger Nachfolger der ersten Aserbaidschanischen Republik, indem wichtige Symbole und Attribute, sowie bedeutende Tage übernommen wurden.

Eine wichtige Rolle beim Aufstand spielte Dschahangir baj Kazımbajov, der nach der Emigration in verschiedenen Ländern, u. a. in Deutschland, lebte. Sein Grab befindet sich heute in der Şehitlik-Moschee in Berlin. Fast jedes Jahr organisiert die aserbaidschanische Gemeinde von Berlin eine Gedenkveranstaltung, in welcher die Gräber von Dschahangir baj Kazımbajov und anderen aserbaidschanischen Exil-Aktivisten besucht werden.

Asif Masimov hat Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften studiert. Er ist Doktorand im Fach Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er bloggt auf masimovasif.net zu historischen und politischen Themen rund um Deutschland, Aserbaidschan und Russland.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/freiraum/verzweifelter-kampf-gegen-die-annexion-der-rotarmisten-die-erste-aserbaidschanische-republik/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert