Gestern bin ich nach Berlin gefahren, um zur Berlinale zu gehen. Ich übernachte in Berlin bei meiner Tochter in ihrer WG in einer sehr schönen gepflegten Altbauwohnung. Abends gehen wir ins Kino am Alexanderplatz. Auf dem Weg dahin unterhalte ich mich mit meiner Tochter über den Film Barbie. In meiner Bubble sagt sie, wird der Film überhaupt nicht als feministischer Film angesehen, als der er ja angeblich gedreht worden sein soll und dass sie es genauso wie ich bedauere, dafür überhaupt Geld ausgegeben zu haben. Und auch der Film poor things, über den wir dann reden, sagt sie, sei sehr problematisch, selbst wenn er von der Selbstbestimmtheit einer Frau handeln würde. Aber diese Selbstbestimmtheit sei doch nur von Männern behauptet und der Film doch letztendlich von einem Mann gemacht und die Protagonistin letztendlich eine irgendwie auch sexistisch betrachtete Frau mit dem Gehirn eines Kindes; eine schlimmere männliche Projektion gäbe es ja gar nicht.
Der Film, den wir uns heute angucken wollen, heißt Faruk und ist von der türkischen Regisseurin Asli Özge, die schon einige mehr oder weniger erfolgreiche Filme gemacht hat und in Berlin und Istanbul wohnt und zehn Jahre jünger ist als ich. Dass der Film von einer Regisseurin ist, gefällt mir. Ich würde mir am liebsten nur noch Filme von Regisseurinnen angucken, aber leider gibt es nur sehr wenige. Glücklicherweise gibt es ja aber wenigstens in der Literatur in Deutschland inzwischen viele Bücher, die von Frauen geschrieben worden sind und darunter sind wunderbare Bücher von türkischstämmigen Autorinnen, einige davon wie die von Emine Sevgi Özdamar gehören zu den besten Büchern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Gerade heute morgen habe ich noch in der Wohnung meiner Tochter in einem Buch der aus Köln stammenden Autorin Şeyda Kurt gelesen, es heißt „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist “ und habe beim Lesen darüber gestaunt, wie hier, bei der Erfolgsautorin, Marxismus mit Feminismus verbunden wird. Sie spricht von Intersektionalem Feminismus, womit sie beschreibt, dass Frauen oft auf vielfältige Weise Diskriminierung nicht nur durch Sexismus, sondern auch durch Rassismus, Klassismus etc. erfahren.
Im Kino steuern wir als erstes den Verkaufstresen an, aber es gibt leider kein Popcorn. Das würde wohl nicht angeboten während der Berlinale, erfahren wir dort. Aber was hat die Berlinale mit Popcorn zu tun?, frage ich meine Tochter. Sie, die begeisterte Wahlberlinerin, hat keine Antwort darauf. Was mir im Foyer des Kinos gleich auffällt sind die Mengen an Menschen mit den unterschiedlichsten Sprachen, die treppauf- treppab wandern. Viele tragen neuerdings Schnäuzer, was ich nicht schön, aber irgendwie kurios finde. Die Mode ist zurzeit unisex und die für mich ersichtlich binären bzw. weiblich definierten Menschen (so sagt man hier) unterscheiden sich, soweit ich es erkennen kann, von den für mich ersichtlich männlich definierten wohl hauptsächlich dadurch, dass sie keinen Schnäuzer tragen. So ist es also in Berlin, der Trendvorgabestadt….
Wir gehen in einen riesigen Saal, bekommen Karten für die Panorama-Publikumsabstimmung und weil wir extra eine halbe Stunde eher gekommen sind, finden wir sogar noch zwei große freie Ledersessel, die sich zurückfahren und hochfahren lassen, so dass wir sehr bequem sitzen können. Es kommt mir so vor, als hätte ich noch nie in meinem Leben so bequem im Kino gesessen.
Es geht in „Faruk“, einer deutsch-französisch-türkischen Koproduktion, um einen neunzigjährigen Mann in Istanbul, der aus seiner Eigentumswohnung raus muss, weil sein Haus neu erbaut werden soll. Bei dem Darsteller dieses Mannes handelt es sich um den Vater der Regisseurin. Auch der Prozess des Filmemachens ist im Film zu sehen. So eine Art von Film nennt sich heutzutage „Spiel- und Dokumentarfilmhybrid“, lese ich später. Als ich noch Filmwissenschaften studierte, waren Regisseure wie Horst Königstein mit Ähnlichem beschäftigt und diese Art Filme hießen „Dokudrama“. Faruk beginnt damit, dass die Regisseurin, die im ganzen Film kaum zu sehen ist und oft nur über Sprachnachrichten zu hören, ihren Vater auffordert, mit nacktem Oberkörper zu tanzen. Auch als er später mal auf dem Rücken liegend einschläft und laut schnarcht, filmt sie ihn noch weiter. Weil es so bequem und der Film ein wenig langweilig ist, schlafe ich während der Vorführung mehrmals kurz ein und wache aber schnell wieder auf. Der alte Mann guckt sich da gerade mit einer Lupe halbnackte Frauen an und träumt dann davon, splitterfasernackt einer enorm attraktiven nackten jungen Frau in seine Küche zu folgen. Kurze Zeit danach kommt die eben noch nackte Frau mit einem Bademantel wieder aus dieser Küche heraus, während der alte Mann sich aus dem Off beschwert, warum sie denn schon ginge; offensichtlich ist der Dreh zu Ende. Spätestens in diesem Moment habe ich keine Lust mehr auf den Film, der schlecht ausgeht, insofern als die Tochter ihren Vater am Ende übers Ohr haut. Eigentlich möchte ich immer gerne, dass Filme gut ausgehen. Aber hier ist es mir egal, weder mit dem Vater noch mit seiner Regieführenden Tochter habe ich Sympathien. Das einzig Gute an dem Film ist die Musik von Karim Sebastian, das findet auch meine Tochter, als wir anschließend darüber reden. Aber genauso wie ich findet sie auch, dass die so überaus schöne und dramatische klassische Musik gar nicht zum Film passt. Wir füllen unseren Abstimmungszettel aus und geben eine Note zwischen drei und vier. Und verlassen den Saal.
Will frau wirklich zwei Stunden lang einem oft nackten, alten und zudem permanent schlecht gelaunt wirkenden Mann zusehen, wie er geifernd jungen Frauen nachstellt? Nein, sagen wir, als wir in der Nacht vor dem Kino am Alex stehen, inmitten von englisch, französisch, chinesisch und sonstigen Mehrheitsgesellschaftssprachen sprechenden Menschen. Der Mond wächst heute Nacht über dem Alex nach oben. Daneben ragen riesige Kräne, die schon wieder neue große hässliche Gebäude bauen, in den sehr dunklen Berliner Himmel. Als ich zu den Kränen hinsehe, fällt mir plötzlich wieder der Film ein, in dem ich eben war, in dem doch auch riesige Kräne damit beschäftigt waren, das Haus des alten Mannes erst zu zerstören und dann neu zu erbauen. Und ich bemerke, dass ich noch nicht wirklich aus dem Film ausgetreten bin, in dieser Berliner Nacht. Ich bin, angeregt durch die Baustellen hier am Alex, die mich an die hässlichsten Seiten von Istanbul erinnern, in einer Art Film- und lebenshybriden Zustand. Meiner Tochter sage ich allerdings nichts davon, während wir gut gelaunt Richtung S-Bahnhof gehen, um wieder nach Hause zu fahren. Ich kann nur hoffen, dass sie nicht eines Tages auch auf die Idee kommt, einen solchen Film über mich zu drehen, wenn ich mal neunzig Jahre alt werden sollte!