Hier sieht es ja aus wie im Gazastreifen, sagt mein Liebster, als wir endlich am Schwarzen Meer angekommen sind. Unser Ziel ist Kilyos, welches ein kleiner Badeort mit ursprünglich griechisch/byzantischen Bewohnern war. Heute sind dort jedoch keine Griechen mehr. Kilyos liegt am Ausgang des Bosporus zum Schwarzen Meer. Von hier aus könnte ich, wenn ich ein Fernrohr hätte, das bis dorthin reichte, eigentlich sogar hinüber bis in die Ukraine gucken. Aber die Ukraine kommt uns nicht in den Sinn hier in der Türkei, wo sie auch kaum ein Thema ist, obwohl seit Kriegsausbruch so viele Russen nach Istanbul gekommen sind. Hier in Istanbul beschäftigen sie sich eher mit dem Gazastreifen, der im Stadtbild überall gegenwärtig ist. Die Assoziation mit dem Gazastreifen stellt sich ein angesichts des Strandes bzw. der Hotelanlagen am Strand, die vom Ort ausgehend ca. einen Kilometer entlang des Wassers ein einziges Trümmermeer sind. Das aber nicht erst seit kurzem. Schon ca. 10 Jahre, sagt meine türkische Freundin, ist hier alles kaputt und verfällt immer mehr. Die einstmals schöne Promenade liegt in Stücken und wir müssen über diese Stücke hinwegklettern, um überhaupt ein Stück am Meer entlangzugehen. Ob das wohl etwas damit zu tun hat, dass Menschen in leichter Kleidung hier in der Türkei immer unbeliebter sind?
Als ich das letzte Mal hier war, war ich in einem Beachclub ein ganzes Stück weiter, der umzäunt und bewacht war und den man nur mit dem Auto erreichen kann. Am öffentlichen Strand Richtung Kilyos hingegen, an dem auch ein total verrosteter Steg ins Wasser ragt, auf dem sich höchstens Möwen aufhalten können, waren vor allem nicht schwimmende Mütter im Burkini. Auch die Badestellen am Bosporus, einst nach Männern und Frauen getrennt, sind fast alle aufgegeben. Das ist seltsam in einer Stadt wie Istanbul, wo es doch offensichtlich immer noch viele liberale und westlich denkende Menschen gibt. Das sind die Menschen, die sich am Protest gegen die Abholzung des Geziparks beteiligt haben und das sind die Frauen, die vor ein paar Tagen in Kadiköy den Tag der Frau geplant haben, an dem sie wieder versuchen werden, in meinem Wohnviertel Beyoglu zu demonstrieren.
Hier, am Ende der Istiklal, wo ich selber noch vor drei Jahren mit Tausenden Frauen auf der Straße unterwegs war,
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liegt der Gezipark. Der Gezipark ist ein kleiner Park am Rande des riesigen Taksimplatzes, ursprünglich entworfen im Auftrag von Atatürk von dem französischen Architekten Henri Prost. Damals, 1936, hatte Prost den Auftrag bekommen, das weiträumige Gelände, das zuvor einen Friedhof und eine Kaserne beherbergt hatte, zu begrünen und mit Sichtachsen in Richtung Bosporus zu versehen. Dieser Park, inzwischen schon so arg geschrumpft, dass man ihn kaum noch Park nennen kann, sollte 2013 planiert und an seiner Stelle große Gebäude gebaut werden, weshalb es einen landesweiten Protest gab, der auch Ausdruck der Unzufriedenheit der freiheitlichen Teile der Bevölkerung mit den immer reaktionäreren politischen Kräften war und blutig niedergeschlagen wurde. Aber den Park gibt es heute immerhin noch. Nur ist er zurzeit eingerüstet und die Sicht auf ihn versperrt durch ein riesiges neues Gebäude. Auf dem Gebäude sieht man Projektionen von Kindern vor Kriegshintergründen. Die aufmerksam Betrachtenden sehen sofort, dass es sich hierbei um Szenen aus dem Gazastreifen handeln muss, denn die Betroffenen sind offensichtlich muslimischer Herkunft. Den Kindern sieht man auch an, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen stammen, die Filmchen sind bunt und reißerisch und wechseln schnell.
Auch die Palästinafahne hängt allerorten hier in Istanbul, kurz nach Ausbruch des Gazakonfliktes herrschten hier in der Türkei verordnete 3 Tage Staatstrauer. Das ist doch alles nur Augenwischerei, sagt eine türkische Bekannte, mit der ich darüber spreche; in Wirklichkeit sind sie hier in der Türkei wirtschaftlich so eng mit Israel verbunden, produzieren so viel für den Staat Israel, dass sie sich gar keinen Konflikt erlauben können. Der türkische und der israelische Präsident würden es nicht riskieren, dass es zu einem Zerwürfnis kommt. Aber warum tun sie dann hier derzeit alle, als wenn sie so auf Seiten Palästinas wären, frage ich zurück. Weil Wahlkampf ist! Und weil die Islamisten natürlich auf Seiten Palästinas sind, ihrer muslimischen Brüder.
Ende nächsten Monats wird hier in Istanbul ein neuer Bürgermeister gewählt. Und das wird eine historische Wahl. Denn erstmals sieht es so aus, als wenn diesmal die Islamisten hier an die Macht kämen, was fatal wäre. Istanbul ist noch die einzige Hoffnung liberaler Menschen hier in der Türkei. Ein Gewinn der herrschenden Partei bei der Bürgermeisterwahl wäre natürlich auch ein Hinweis darauf, dass die derzeitige Politik von immer mehr Menschen gutgeheißen wird. Ein großer Schritt in Richtung Islamisierung. Aber Geschäfte mit dem religiösen Feind macht man weiterhin. Die Wahlkämpfer sind hier zurzeit überall präsent, am Sonntag gehen sie mit ihren Anhängern im Anzug durch die Hauptstraßen und an allen Anlegern stehen Zelte der Parteien, wehen Fahnen, erschallt laute Musik, werben sie mit allen Mitteln und kleinen Geschenken für ihre Ziele. Die Aufregung der Menschen hier in der Stadt steigt. Es gibt viel Furcht, Bangen, Hoffen. So wie es aussieht, geht es schlecht aus, sagt meine Bekannte. Gezi und Gaza. Istanbul hat nicht viel Hoffnung auf Besserung.