vonsabineschiffner 08.03.2024

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Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Du musst Dir den Film “Das Lehrerzimmer” angucken, hat meine türkische Freundin Zeynep gesagt, die den Film natürlich schon gesehen hat. Ich wollte diesen Film eigentlich lange sehen, habe ihn aber verpasst, er läuft lange nicht mehr in den Kinos. Aber hier in Istanbul kann man ihn in allen Kinos sehen, sogar in den Kinos, die sonst nur Billigfilme zeigen, läuft er, zu meinem großen Erstaunen. Das liegt daran, dass er ein Oscarkandidat ist, sagt meine Freundin Zeynep, die keinen Oscar-verdächtigen Film verpasst, weil sie das Kino liebt. Da er im Original mit türkischen Untertiteln gezeigt wird, können wir ihn ohne Verständnisprobleme ansehen. Das Majestic-Kino ist gleich bei mir um die Ecke, der Eintritt beträgt 4 Euro, eine Tüte Popcorn kaufen wir auch und sehen uns dann den Film an. Während des Films, den ich mit den Augen der Lehrerin ansehe, die ich einmal war, herrscht in dem sehr schlecht gefüllten Saal eine große Anspannung, die psychologische Spannung ist hoch. Auch ich drücke angespannt die Finger meines Liebsten. An einer Stelle verstehen wir nichts, die Gespräche der türkischen Eltern sind natürlich nicht untertitelt, was seltsam ist. Im Nachspann erfahren wir dann, dass der Film von einem türkischen Regisseur gemacht wurde, was wir nicht wussten. Wir sind alle drei begeistert von dem Film, aber jeder auf eine andere Weise und alle drei irgendwie erzürnt auf eine andere Weise. Wir diskutieren beim abschließenden Bier noch lange über den Film und darüber, ob das, was er dort vom Schulleben zeigt, typisch für die Jetztzeit ist und ob es früher auch schon so war und ob nicht die Protagonistin sich durch ihr Fehlverhalten die ganzen Probleme eingehandelt hat oder ob sie ein Opfer der Verhältnisse ist, in denen gute Menschen wie sie einfach untergehen müssen. Dann tritt ein ca. vierjähriger Junge zu unserem Tisch und verkauft langstielige Rosen und kleine Katzenbabys streichen um unsere Beine und lenken uns von der erhitzten Diskussion ab. Und überhaupt: Ist nicht die ganze Atmosphäre hier in der Istanbuler Straße, die früher das Hollywood der Türkei war, irgendwie total irreal? Und wieso gucken wir uns einen deutschen Film mitten in Istanbul an und tun so, als sei das normal? Mir fällt ein, dass es im Kino am Ring in Köln auch oft türkische Filme gibt. Aber in die würde wohl niemand gehen, der kein Türkisch kann, sie sind ja auch nicht untertitelt.

Am nächsten Morgen stehen wir etwas früher auf und gehen die Istiklalstraße hoch in Richtung der Deutsch-Türkischen Buchhandlung. Denn heute werde ich gemeinsam mit Zeynep in der Deutschen Schule Istanbul  aus meinem neuen Buch “Zeynep Suchen” lesen, das davon handelt, wie ich mich in Istanbul auf die Suche nach ihr gemacht habe. Die Deutsche Schule Istanbul ist die Schule, die Zeynep 1982 besucht hat und mit der sie auf einer Deutschlandtour unterwegs war, als sie im Sommer nach Bremen kam. Es ist eine so genannte Auslandsschule, das heißt, dass fünfzig Prozent der Lehrer aus Deutschland kommen und vom deutschen Staat bezahlt werden.

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Trotzdem müssen die ca. 600 Schüler, die auf diese Schule gehen, Schulgeld zahlen. Von dem recht happigen Schulgeld werden dann auch die 80 Lehrer bezahlt, die Hälfte davon Türken. Der Direktor erklärt uns, dass die Deutsche Schule die zweitbeste Schule in der Türkei ist und von den 1 Million Schülern, die jedes Jahr die Prüfungen für die weitergehende Schule machen, somit nur eine totale Elite hier landet. Achtzig bis Neunzig Prozent dieser Schuler gehen später ins Ausland, die meisten von ihnen nach Deutschland, erzählt der Direktor, während die türkische Vizedirektorin bedauernd den Kopf schüttelt. Denn diese Elite der türkischen Abiturabsolvent*innen (in keiner deutschen Auslandsschule gibt es so viele Abitursabsolvent*innen wie in der türkischen) verlässt ihr Land Richtung Deutschland und die meisten von ihnen kehren auch nicht mehr zurück. Die Schüler*innen wiederholen die 8. Klasse, um sehr intensiv Deutsch zu lernen, 22 Stunden in der Woche gehen nur für Deutschunterricht drauf.

Dann füllt sich schon die Aula, heute sind hier vier Klassen, eine davon ist die Klasse, die nur mit “deutschen” Kindern gefüllt ist, Kindern deutscher Expads also, die sich das Schulgeld leisten können und unabhängig von ihren Leistungen angenommen werden müssen. Dann beginnt die Lesung. Anderthalb Stunden sind im Nu um, ich lese die Stellen aus unserem Buch, in denen es darum geht, wie wir uns getroffen und kennengelernt haben. Zwei Schülerinnen jubeln, als sie hören, dass wir uns in Bremen kennengelernt haben und dass ich in Köln wohne. Denn sie sind auch gerade vor zwei Jahren aus Bremen bzw. Köln hier nach Istanbul gekommen. Als ich sie nach vorne hole, damit sie beim Vorlesen helfen, klatschen die anderen wieder begeistert Beifall. Auch hier halten sie zusammen, genauso wie im Film “Lehrerzimmer”, für den eine digitale Werbung neben dem Lehrerzimmer der Deutschen Istanbul wirbt.

Dann müssen wir die Lesung beenden, denn, so erklärt es uns die Vizedirektorin, es ist gleich Zeit für das Absingen der Nationalhymne. Das findet im Hof statt. Ich stehe gerade noch vor dem Lehrerzimmer, wo ich mich von dem Direktor verabschiede, als plötzlich die Leute im Raum erstarren. Es ist, als wenn alle eingefroren sind. Dann erklingt eine Stimme: Stillgestanden und die Hymne ehren! Und schon beginnt die Musik. Wir stehen still und ehren die Hymne, wo wir auch gerade stehen. Mitsingen können wir natürlich nicht. Als die Musik vorbei ist, bewegen wir uns wieder und verlassen dann die Schule. Draußen ist noch normaler Betrieb. Aber nicht mehr lange. Es ist 13h, heute ist der Tag der Frauen.

Es ist schon irgendwie irreal, was eben passiert ist. Wie die Lehrer*innen im Schulflur plötzlich stehen blieben und sich nicht mehr bewegten. Auf einmal fällt mir der Film von gestern Nacht wieder ein, mit der bedrückenden  Stimmung an der Schule. So war es hier heute nicht. Aber auch schon wieder irreal. Und völlig irreal wird es nachher weiter gehen. Denn heute ist der 8. März und gleich wird die Polizei hier deswegen alle Straßen absperren. Was dann passiert, davon erzähle ich auf meinem nächsten Blog…

 

 

 

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