vonHans-Peter Martin 06.09.2021

Game Over

Hans-Peter Martin bloggt über die globale Titanic der Politik und Wirtschaft – und wie es doch ein „New Game“ geben kann. Krieg oder Frieden.

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Wieder Theater, Theater, Burgtheater. In den Bergen und in Venedig verklärte sich Corona in den vergangenen 18 Monaten zum oft glückhaften Rückzug. Der Winter war wie nie und die Serenissima verwunschen. Ihr verfallen nun zurück nach Wien.

Welcher Eindruck hat sich durch Corona ins Gedächtnis geradezu hineingefressen? In einem Wort: die überbordende Dummheit. Höflicher und auch umfassender formuliert: Unvernunft allüberall. Unvernunft von so viel mehr Menschen, als ich in meinen Jahrzehnten im Journalismus und in der Politik annahm. Doch was ich wahrnahm, war falsch. Ein Mitglied des Europäischen Parlaments, die ehemalige ORF-Nachrichtendame Ursula Stenzel (zunächst bei der konservativen ÖVP,  später bei den Rechtsaußen der FPÖ), meinte seinerzeit beharrlich, so viele Menschen seien so dumm, doch das dürfe man nicht sagen. Ich widersprach ihr. Ich hielt sie für dumm, nicht die vielen Menschen, doch das durfte ich ihr nicht sagen.

Aber jetzt? Warum halten so viele Menschen in Corona-Zeiten weiterhin keinen Abstand zueinander? Er würde die vierte Welle abschwächen wie das neue Hochwasserschutzsystem Mose die Überflutungen in Venedig.Abstand halten – mit und ohne Maske – kostet nichts, man käme in der Schlange gleich schnell ans Ziel. Doch schmeck’s. Die Tore bedrängen die Tore und damit sich selbst. Auch das Herzen Wiens erfährt neue Belagerungen.Selbst wer den Sinn des Abstands nicht erkennen kann, wie wäre es einfach mit Respekt?

Traurig wurde ich ob so viel Aggression, als ich vielerorten beim Anstehen nur um Abstand bat, nicht einmal um Anstand. So viel himmelschreiende Dummheit und individuelle Rücksichtslosigkeit kann im politischen Westen nur pessimistisch stimmen. Wie soll damit die Klimakatastrophe abgewendet werden? Die Regenten in Peking werden wie bei Corona vielleicht machtbewusst und rücksichtslos durchgreifen, mit allen Mitteln, gerade auch chemischem Geoengineering. Doch wir?

„Ökodiktatur“ war ein Totschlagwort in den 1980ern. Doch wie soll es anders gehen? Großes Theater kann da helfen, um andere Blickwinkel einzunehmen. Ein Garant dafür ist Elfriede Jelinek, sie trifft die Zuschauer verlässlich mit ihren satzscharfen Giftpfeilen und erfrischenden Aufklärungsblitzen.

Alsdann:Was für eine Melange: Jelinek, inszeniert von Frank Castorf. Wild, lässig, rockig, suckig. Yes, it sucks in the best of all ways. Almost always. Berliner Volksbühne goes Akademietheater, the smaller Bühne of the Burgtheater. Das Bühnenbild, die gewohnt raffinierten Textcollagen, das bisweilen nervende Schreitheater, beständig Schrilles: nichts für prüde Hirne.Jelinek überhöht die alllähmende Dummheit und so augenscheinlich gewordene Dummheit in Corona-Zeiten. Redudant lässt sie ihre Protagonisten die hirnrissige These verbreiten, Impfung bedeute Unterjochung, sei aber immerhin der Beweis, dass die Mächtigen die kleinen Leute ernst nähmen. „Die Macht hat ein Auge auf uns geworfen.“ „Was ist denn nur an uns, dass sie sich plötzlich für uns interessieren?“ „Die Augen der Macht ruhen sich auf uns aus.“ „Dass wir überhaupt erkannt werden.“ Ganz im Sinne der Wahrnehmung, dass auch negative Zuwendung eine Form der Zuwendung bedeute. Der beim Impfen angeblich injizierte Chip wird in dieser Parallelwelt zur tödlichen Waffe bei Bedarf: „Sie wollen uns auslöschen, weil sie alleine leben wollen.“ Die Gekränkten, die nun ihr Heil in einem dämlichen Widerstand suchen, empfinden sich jäh als Subjekt der Geschichte.

Doch es ist nur ein „anschwellender Lärm“, so Jelinek. Was wurde aus dem „anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß? Vielleicht dies: „In dieser Quarantäne bleibt keinem seine Gestalt.“ Oder doch viel banaler die gedankliche Verbindung zweier Leerdenkersätze: „Die Sargphotos sind gefälscht, da müßten ja mehr tot sein, als Leute dort leben. Die Massenmorde sind auch gefälscht.“

Die jelinekschen Wiederholungen gebieren Entlarvung, inmitten einer großen, auch politisch breiter aufgestellten Ferkelei voller Schweine.„Dippel, dippel“, summen die Darsteller in einer slapstickartigen Szene mantrahaft und bewegen sich wie Truthähne, turkeys. Türkis ist die neue Farbe der von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz auf Ausländerfeindlichkeit und Anführertreue getrimmten ÖVP. „Sie machen etwas, das wir nur nachmachen müssen“, heißt es auf der Bühne im Chor. Und „kurz, kurz, Jesus, kurz“, summen die Schauspieler auch. Oder sind es schon die Delegierten des jüngsten Parteitages, bei dem Kurz mit 99,4 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde? Kurz kann nichts für seinen Namen, wohl aber für seine Taten.

So wird die Menschenverachtung wird auch Thema der Sonntagsmatinee, mit der die neue Theatersaison in Wien offiziell eröffnet wird. Denn die österreichische Regierung weigert sich beharrlich, Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen. Die Schriftstellerin Nava Ebrahimi beschließt ihre Rede mit „zwei Sätzen aus voller Lunge“, wie sie selbst ankündigt: „Spätestens, allerspätestens mit dem, was wir in Moria, an allen EU-Außengrenzen, was wir in Afghanistan zulassen, haben wir jeglichen Anspruch auf moralische oder gar zivilisatorische Überlegenheit verwirkt. Bitte schminken wir uns jede Form von Überheblichkeit ab.“ Der Applaus ist tosend, doch wie verhalten sich die klatschenden Festgäste im Alltag? Auf den neuen hellroten, statt bislang bordeauxfarbenen Stühlen des Burgtheaters sitzen viele, welche die gegenwärtigen Regierungsparteien wählen: Schwarz und Grün.Macht und Aktualität

Am Abend entwickelt sich schließlich die Premiere von „Maria Stuart“ unter der Regie von Martin Kušej zur Krönung. Er hat den Schülerquälstoff dramatisch, aber kunstvoll eingekürzt. Bei der Ausleuchtung und Musik mögen sich auch Cineasten verwöhnt fühlen.

„Macht ist, die mich hier unterdrückt.“ So beginnt die unablässig grandiose Birgit Minichmayr als todgeweihte Königin von Schottland ihren Auftritt. Ihr Gegenüber ist eine andere Königin der Schauspielkunst, Bibiana Beglau. Sie zaubert eine glaubwürdig zweifelnde, letztlich doch diabolisch machtgeile Regentin Englands auf diese Ausnahmebühne, eingebettet in zweieinhalb Stunden schreckensvoller Falschheit und gnadenloser Intrigen.Da können nicht einmal die Akteure auf dem Wiener politischen Parkett mithalten. Oder sind einige bei Friedrich Schillers durchtriebenem Baron von Burleigh in die Lehre gegangen, etwa die jeweils allgegenwärtigen Rasputins der Kanzler, allen voran Andreas Rudas? Was für ein Klima.

Ja, Martin Kušej hat schon recht. Das Burgtheater ist seines. So möge es bleiben. Auf der Marmortafel der Direktoren ist sein Name bereits eingraviert. Er strahlt. Zu Recht.Und nu?Und das in Wien? Karl Kraus noch immer falsifiziert? Schön.

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