Beim EU-Gipfel in diesen Tagen in Brüssel geht es um eine historische Weichenstellung. Ja, so ein Superlativ ist dieses Mal angebracht. Das traue ich mich heute zu schreiben, gerade mit der Erfahrung von 15 Jahren als unabhängiger Europa-Parlamentarier.
Deutschland hat bis zum Ende dieses Jahres die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen. Das Thema hinter allen Themen wird der Umgang mit Italien sein. Der sogenannte „Wiederaufbau“ rund um die Corona-Krise wird vor allem südlich des Alpenhauptkammes gelingen müssen. 170 Milliarden Euro sollen nach Italien fließen, doch es kommt entscheidend darauf an, zu welchen Bedingungen und was noch folgen wird.
Ansonsten wird die Europäische Union scheitern, der Euro sowieso. Dazu muss aber Grundsätzliches verstanden und in Taten umgesetzt werden.
Große Teile der Bevölkerung in Deutschland, Österreich und in anderen Nordländern haben noch nicht begriffen, was alles auf dem Spiel steht. Viele halten an einer falsch verstandenen Sparsamkeitsdoktrin fest, allen voran Österreichs neuer Nationalchauvinist Sebastian Kurz. Das ist unverantwortlich, und ja, noch ein großes Wort: Die Geschichte wird es weisen.
Sebastian Kurz zum Fremdschämen
Aktueller Einschub am 20.7.2020, um 16 Uhr, am vierten Tag des Endlosgipfels: Kanzler Kurz ist mit seiner Verhandlungstaktik und den von ihm vertretenen „Inhalten“ inzwischen zum Fremdschämen. „Hier die Österreicher, seine möglichen Wähler, dort die anderen…Als Festungsbaumeister kann er in die Geschichte eingehen, als ein Marquis de Vauban einer postdemokratischen EU…Kurz ist aalglatt und von einer, je nachdem, beruhigenden oder verstörenden Beliebigkeit. Wenn Richard Grenell, der (ehemalige) US-Botschafter in Berlin, Kurz als ´richtigen Rockstar`bezeichnet, irrt er. Österreichs Kanzler ist lediglich ein Popstar mit gefälligem Sound und antiseptisch, ein Heimatsänger aus Kalkül. Ein solides inhaltliches Grundsatzkorsett festigt ihn nicht. Kurz ist Gegenwart plus, er richtet sich nach dem Zeitgeist. Wahrnehmbar ist seine machiavellistische Eiseskälte“, schrieb ich 2018 im Buch „Game Over“ .
Der „Kompromiss“ wird nicht ausreichen – Klub der Kleingeister
Aktueller Zusatz am 21.7.2020, 7 Uhr: Der nunmehr verkündete EU-Gipfelkompromiss lässt Österreichs Kanzler und den niederländischen Premierminister Rutte wie Sieger aussehen. Doch Sieger wobei? Da hat sich mit den „sparsamen Fünf“ in Wirklichkeit ein Klub der Kleingeister gebildet. 390 Milliarden Euro an Zuschüssen sind viel, doch für Italien wird der vorgesehene Anteil nicht ausreichen. Durch die insbesondere für Österreich und die Niederlande eingeräumten „Rabatte“ bei den Beitragszahlungen werden für die kommenden Jahre wichtige geplante Programme zusammengestrichen. Das wird gerade ökologisch wichtige Projekte massiv einschränken. Der „Just Transition Fund“, der Regionen beim Übergang zum ökologischen Wirtschaften helfen soll, verliert 20 Milliarden Euro.
(Und weil ich in dieser Serie zu meiner italienischen Reise mich auf Venedig konzentriert habe: Nicht nur dieser magischen Stadt werden dadurch wichtige Geldmittel fehlen.)
Rufezeichen, Rufzeichen, Rufzeichen
Mit vielen anderen Zeitgenossen aus Wirtschaft und Politik möchte ich weiterhin laut schreien: Aufwachen! Checkt doch endlich, worum es geht! Dieser Appell richtet sich gerade auch an Kollegen in den Medien. „Game Over“ ist nicht nur ein Schlagwort. Wir leben in hochgefährlichen Zeiten und befinden uns mitten in einer ökonomischen und politischen Crashspirale! Corona ist da nur ein Brandbeschleuniger!
So viele Ausrufezeichen habe ich noch nie in einem Artikel gesetzt. Nicht wenige kritische Pro-Europäer wie ich haben schon vieles geschrieben und gesagt. Genügt hat es bislang nicht.
Jetzt ein neuer Versuch, eine Art feinsinniger Aufschrei. Ein Lebensfreund vermittelte mir auf meiner italienischen Reise ein Gespräch mit Piero Bassetti. Selbst sehr kluge, enorm erfolgreiche Italiener halten diesen Mann für einen der klügsten, belesensten und anregendsten Landsleute.
Bassetti ist eine intellektuelle Legende. Er war schon vieles: Politiker, Unternehmer, Universitätsprofessor, Radrennfahrer, aber vor allem Vordenker. Nicht wenigen wurde er zum herausragenden Mentor.
Auf dem Weg zu ihm streife ich durch das Stadtzentrum von Mailand, der Hauptstadt der Lombardei, mithin noch immer eine rote Zone in Corona-Zeiten.
Die norditalienische Metropole ist cool, von üblichen Touristen (glücklicherweise) völlig unterschätzt, geschätzt hingegen von jenen, die Wirtschaftskraft und guten Geschmack nicht für Gegensätze halten.
Die falschen Einschätzungen gründen sich auf Mailands schlechter Luft. Als meine Eltern 1967 erstmals mit mir von Vorarlberg aus ans Meer fuhren, mieden sie Mailand wie die Pest. Die Smogwolke schreckte und beeindruckte alle Vorbeifahrenden.
Mit Corona ist alles anders. Der Himmel ist blau, der Stadtpark eine Oase.
In der Modemetropole herrscht auch auf den Straßen weiterhin Schutzmaskenpflicht. Pfiffige Straßenhändler nahe des Bahnhofs Centrale personalisieren die Gesichtsbedeckungen gerne, mit Schriftzügen, Emblemen, Botschaften. Acht Euro kostet der Schmuck, Maske inklusive. Nur eine soziale Randgruppe benimmt sich gezielt daneben, das Virus erreicht ihre Köpfe nicht: Models, weiblich wie männlich. Je schöner, desto maskenloser. Lidschatten, Kajalstifte und Mascaras genügen nicht, zur Schau getragen wird Lippenstift. Auch dies ist die Gegenwart in der Corona-Welt.
Bassettis Büro liegt im Gründerzeitviertel, von dessen Existenz auch so manche Italienkenner nichts wissen. Mehr als pünktlich empfängt er mich. Wenn man geistig und physisch so fit ist wie er mit inzwischen 91 Jahren, möchte man gerne so alt werden.Meine erste Frage an ihn: „So nahe an Bergamo, mitten in einem Epidemiezentrum, in dem so viele ältere Menschen am Corona-Virus starben, müssten Sie doch auch tot sein. Warum leben Sie noch?“
Seine Antwort kommt spontan: „Ich bin so lebendig wie nie. Wir leben doch in hochspannenden Zeiten. Ja, es ist revolutionär. Der Kapitalismus in seiner bisherigen Form ist am Ende. Da ging es die möglichst effiziente Produktion von Waren. Jetzt liegt die Macht im Wissen.“
Inwiefern? „im Wissen um die Transformation der Mobilität. Das ist die große Chance in Europa. Bislang hat man Kriege doch durch Waffen und Aktivitäten gewonnen. Unsere Waffe, in Zeiten, in denen Mobilität doch fast alles bedeutet, war und ist gegen das Corona-Virus der Stillstand.“
Paradox, bemerke ich. Bassetti holt aus: „Ja und nein.“
Weitere Zitate:
„Die Österreicher verstehen gar nichts, Deutschlands Regierung inzwischen schon.“
Der Text wird in Kürze fortlaufend ergänzt.
Hier der erste Teil des Gesprächs als Tonbandaufnahme:
Die Daten werden am Dienstag, 21.7.2020, hochgeladen
Hier der zweite Teil des Gesprächs als Video:
Die Daten werden am Dienstag 21.7.2020, hochgeladen