Wer nimmt sie noch ernst, die Polit-Talks in ARD und ZDF? Der Mainstream. In ewig ähnlichen Kommentaren wird jedes kleinste „Manöver“ eines herkömmlichen Politikers auch noch am Folgetag in den sogenannten „führenden Medien“ seziert. Da mögen die Einschaltquoten immer weiter sinken, die Auflagen sich teilweise im Sturzflug befinden. Noch immer wird so getan, als ob es hauptsächlich darum ginge, wer mit wem „kann“ oder nicht. Und was aus wem wird.
Das gilt nun auch wieder für die Postenbesetzungen auf europäischer Ebene. Dabei ist die „Hauptstadt-Community“, wie sie nunmehr ohne Sinn für die Abgründigkeit dieses Begriffs im „Spiegel“-Newsletter genannt wird, zum Opfer der eigenen Erzählung geworden. Immer stand fest, dass den Staats- und Regierungschefs das Vorschlagsrecht für den EU-Kommissionspräsidenten zusteht. Und längst war klar, dass es ab dieser EU-Wahl nicht mehr reichen würde, eine Koalition der Konservativen und Sozialdemokraten zu schmieden. Doch das Getöse um Manfred Weber und Frank Timmermans übertönte jede nüchterne Analyse.
Und in Berlin: Als ob es noch um mehr oder weniger AKK oder SPD ginge. Anton Tschechow fände da Stoff für seine Familienaufstellungen. Doch es sollte nicht um Theaterstücke gehen, sondern um grundsätzliche Fragen in der Politik.
Der „Spiegel“ macht hingegen fröhlich Personalpolitik, dämonisiert Kevin Kühnert und öffnet das Forum für Gesine Schwan als mögliche neue SPD-Parteichefin. Wow, was für ein Weitblick. Und wieder einmal zeigt sich: Die SPd ist so links wie der SPiegel links ist. Und so obsiegt der Neoliberalismus allenthalben.
Dabei implodieren die Volksparteien quer durch Europa. Bei allem Hype um Emmanuel Macron und seinen Winkelzügen ging unter, dass die Konservativen in Frankreich bei der EU-Wahl zerlegt wurden. Zehn Tage noch, so urteilt der Leitartikler im „Figaro“ in dieser Woche, bleiben den moderaten Rechten für eine „Rettung“ unter neuer Führung. Denn jetzt macht der Rassemblement National von Marine Le Pen den bisherigen konservativen Regional- und Lokalpolitikern systematisch auf breiter Front Lockangebote für die bevorstehenden Wahlen im Frühjahr 2020. Und die neue rechte Jeanne d’Arc, Le Pens Nichte Marine Maréchal, wird durch Einladungen auf die renommierte Sommeruniversität des Medef wieder ein Stück salonfähiger.
Das Brexit-Chaos ist eben auch keineswegs das Problem einzelner Politiker. Vielmehr ist ein ganzes Land aus den Fugen geraten.
Selbst in Schweden bleiben die Neonationalen mit der Selbstetikettierung „Schwedendemokraten“ unstoppbar. Auch in den Niederlanden entwickeln sich die neuen Rechten zur Hydra. Selbst wenn ein Kopf verloren geht, wachsen neue Köpfe nach. Die politischen Kräfte, die sich gegen diese Entwicklung stemmen, agieren hingegen vielfach kopflos, in vielen Ländern sind es ihre Parteien auch.
Und dieses pharisäische Wehklagen über Polen und Ungarn: Wer hat denn die Staaten in absurden Neoliberalismus getrieben und reibt sich jetzt bei der Abkehr von der Demokratie die Augen?
Der historische Zerfall der italienischen Großparteien Democrazia Cristiana und des Partito Socialista Italiano in den 1990er Jahren wurde inzwischen zur Blaupause. Doch die Hauptstadt-Journalisten gefallen sich in ihrer Herablassung gegenüber politischen Newcomern – und starren weiterhin auf die jeweils aktuellen Winkelzüge der Helden in ihren Bannmeilen – in Österreich etwa auf den Nochnichtwiederkanzler Sebastian Kurz.
Dabei verschärft sich die Systemkrise. Die Parteien wurden fast überall zum Selbstzweck. Der Autor dieses Blogs ist durch seine 15-jährige Tätigkeit als unabhängiges Mitglied des Europäischen Parlaments in dieser Frage befangen, aber auch erfahren. Niemals hätte ich gedacht, dass leider meistens zutrifft, was sich Herr und Frau Mustermann typischerweise über Politiker denken. Die Entwicklung ist aus dem Ruder gelaufen. In den westlichen Demokratien leisten wir uns ein System, das in hohem Maße systemzerstörerisch wirkt.
Es beginnt mit dem Auswahlprozess. Wer engagiert sich heutzutage noch in Parteien, wer kandidiert für ein Amt? Wer nimmt die Flut an zermürbenden Sitzungen und die unablässigen Intrigen auf sich, ehe eine politische Position erreicht ist, in der relevante Entscheidungen zu treffen sind? Wer beißt sich durch? Und wer schafft es schlussendlich? Verbreitet ist die Wehklage, dass es kaum noch kantige, von Sachverstand und Sinn fürs Gemeinwohl getriebene Politiker gibt. Wie viele kennen Sie?
Da eröffnet sich ein Grundwiderspruch. Wenn jemand tatsächlich kantig ist und eigenständig auftritt, wird ihm von Mitstreitern in der eigenen Partei und in den etablierten Medien sehr schnell vorgeworfen, sich nicht anzupassen. Wer sich hingegen als Neueinsteiger anpasst, muss sich unverzüglich vorhalten lassen, nur an einer Karriere und nicht an Inhalten interessiert zu sein.
Wer sich gar als »idealistisch« bezeichnet, dem schlägt Misstrauen entgegen, er wird verlacht. Wer in Parteikreisen überleben will, muss sich jedenfalls schnell einfügen, anpassen. Häufig muss sich der Neopolitiker dabei verbiegen, er wird auch verbogen und nicht selten gebrochen, ehe er oder sie als Parteivertreter an wichtigen politischen Gestaltungsprozessen teilnehmen darf. Dabei verlieren viele die Selbstachtung, gleichzeitig wächst bei jenen, die durchhalten, die Abhängigkeit von »der Partei«, oft auch die Sucht nach Macht und Insignien. Zur Kompensation von erbrachten »Opfern« und erlittenen Enttäuschungen lockt als Ersatzbefriedigung der übermäßige Konsum von Privilegien.
Im Rahmen einer üblichen Laufbahn als Vollzeitpolitiker auf zumindest nationaler Ebene geht der Bezug zur Lebenswirklichkeit der meisten Wählerinnen und Wähler verloren. Die unablässig angesprochenen »Sorgen und Nöte der einfachen Bürger« verkommen zur durchschaubaren Phrase.
»Ein üblicher Spitzenpolitiker will sich auf Schwierigkeiten gar nicht einlassen. Er trifft daher immer wieder die gleichen 50 Leute aus seiner kleinen Parteiwelt, und das in aller Regelmäßigkeit das ganze Jahr über. Sie sind für ihn wichtig, sie entscheiden über seine Zukunft. Ernsthafte Kontakte zu Menschen, die von den schnellen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft wirklich betroffen sind, sind hingegen dramatisch selten. Daher kam weitgehend das Gespür für die Massen abhanden, von denen die großen Parteien ja behaupten, dass sie sie vertreten«, analysiert Dietmar Ecker, ehemaliger Kommunikationschef der Sozialdemokratischen Partei Österreichs.
Über das berufliche Weiterkommen entscheiden in Deutschland und Österreich vor allem die Parteifunktionäre. So führen die meisten Abgeordneten ihre wichtigen Wahlkämpfe bei der Listenerstellung für die jeweiligen Parlamente, auch wenn es um die Nominierung des dann direkt gewählten Spitzenkandidaten in einem Wahlkreis geht. Da kommt es fast immer auf die Delegierten der Partei an, bisweilen auf die Parteimitglieder, aber nicht auf die Allgemeinheit der Wähler. Wer also in den Gremien nicht ankommt, hat kaum eine Chance auf den Verbleib in welcher demokratisch wählbaren Position auch immer. Der deutsche Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim hat errechnet, dass bei einer Bundestagswahl durchschnittlich lediglich 15 Prozent der Mandate von den Wählern entschieden werden, indem sie einer anderen Partei mehr Stimmen geben als zuletzt. Über 85 Prozent der Sitze entscheiden also Delegierte auf Parteitagen. So verselbstständigt sich eine unheilvolle Funktionärsinzucht.
Hinzu kommt das allerorten zelebrierte »Politikerbashing«, die öffentliche Beschimpfung, nicht nur in Medien und auf der Straße, sondern durch Politiker selbst. Wer einer anderen Partei angehört, darf oft nicht recht haben, weil er einer anderen Gruppierung als der eigenen zuzurechnen ist. Dabei wird kein Mensch als Ideologe oder gar Extremist geboren. Doch statt wenigstens Sachargumente auszutauschen, wird die wechselseitige persönliche Verächtlichmachung gepflegt. Würden die rivalisierenden Konzernchefs von Daimler und den Bayerischen Motoren Werken wechselseitig so abschätzig übereinander und ihre jeweiligen Produkte sprechen wie Spitzenvertreter von Parteien übereinander – wer würde dann noch einen Mercedes oder BMW – oder überhaupt ein Auto – wertschätzen?
Und wie steht es um die tatsächliche Gestaltungsmacht fast aller Politiker? Sie wurde in den Zeiten der Globalisierung durch den zunehmenden Verlust des Primats der Politik wesentlich eingeschränkt. »Ich will, aber ich kann nicht«, so beurteilt der Historiker Michael Wolffsohn die persönliche Einstellung von politischen Entscheidungsträgern und deren realen Handlungsspielraum.
Was bleibt? Eine Unzahl von Politikern stößt nicht mehr nur auf Gleichgültigkeit, sondern auf massive Ablehnung. Die Enttäuschung über die allermeisten demokratisch gewählten Repräsentanten ist in allen westlichen Staaten riesengroß. Auch prominente, öffentlichkeitserfahrene, als besonnen wahrgenommene, eloquente und politisch Gebildete können da sehr deutlich werden. »Eitel, egoistisch, narzisstisch, alle. Alles A…«, sagt einer, ganz nüchtern. »Die wollen sich doch alle nur selbst verwirklichen.«
Kluge, erfahrene, verlässliche, belastbare und integre Menschen sind fast nie mehr so dumm, aktiv in die Politik zu gehen. Das ist eine demokratiepolitische Katastrophe.
Doch wem kann man es verdenken, sich trotz vorhandener Fähigkeiten und ehrlichem Interesse von parteipolitischem Engagement fernzuhalten? Wer es wagt, verliert. Der Unternehmer Jost Stollmann wurde, anders als versprochen, 1998 unter Gerhard Schröder nicht Wirtschaftsminister. Paul Kirchhof, Experte für Steuerrecht, war 2005 Mitglied des Schattenkabinetts von Angela Merkel, wurde aber als »Professor aus Heidelberg« verspottet und nicht Finanzminister. Die »Zeit«-Journalistin Susanne Gaschke blieb als Oberbürgermeisterin von Kiel nur ein knappes Jahr im Amt. Der Ökonom Horst Köhler trat als Bundespräsident nach einer umstrittenen Äußerung zurück. In Österreich hielt sich selbst der frühere Präsident der Tiroler Arbeiterkammer, Fritz Dinkhauser, nur kurz. Und immer wurde den Betroffenen der Vorwurf gemacht, an ihrem Scheitern vor allem selbst schuld zu sein. Wer sich gar auf das »freie Mandat« beruft, gilt unverzüglich als Quertreiber, sehr schnell als Verräter. Zuerst werden solche Personen zu Unpersonen erklärt, dann gerne für »verrückt«, schlussendlich bisweilen auch kriminalisiert.
In Politikzirkeln hat sich eine Festungsmentalität entwickelt, die Seiteneinsteigern fast keine Chance lässt. Wenn Fehler vertuscht werden sollen, lautet die Devise »Korrekt kommunizieren«. Auf Nachfrage übersetzt dies der Bundesgeschäftsführer einer Regierungspartei mit »Drüberlügen«. Wer anders ist, steht auf verlorenem Posten, egal, wie qualifiziert er sein mag. Zumeist mittelmäßige, langgediente Parteifunktionsträger haben das Sagen.
Dabei ist Politik, also die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens, etwas Ernsthaftes, Verantwortungsvolles und Unverzichtbares. Jedes Unternehmen, das so geführt würde wie die politischen Parteien in der westlichen Welt, wäre längst pleite.
So sind die Parteien in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit inzwischen politische Dinosaurier im Digitalzeitalter. Je mehr sie an Vertrauen verlieren, desto mehr schotten sie sich ab. Zeitgemäße vernetzte Kommunikation, flache Hierarchien, Entwicklung neuer Themen und Design-Thinking im agilen Schwarm? Kritische Selbstreflexion, gar eine professionelle Analyse und Durchleuchtung der Apparate durch Beratungsprofis? Riesengroße Fehlanzeige. Das widerspräche doch dem Prinzip des frei gewählten Volksvertreters, wird argumentiert. Dabei ist Unabhängigkeit, zumal gelebte, für fast alle im Politikbetrieb ein Fremdwort. Wirklich.
Ach herrje. Wollen täten’s schon dürfen. Nur: Mit dem Versagen der Parteien funktioniert ein entscheidendes Scharnier der Demokratie nicht mehr. Dies ist ein niederschmetternder Befund.
Gerade für die „Hauptstadt-Community“. Wo bleiben die großen Berichte über andere, lebbare Demokratieformen? Wo die Reportagen zu gelosten Bürgerräten?
„Und die neue rechte Jeanne d’Arc, Le Pens Nichte Marine Maréchal, wird durch Einladungen auf die renommierte Sommeruniversität Medef wieder ein Stück salonfähiger.“
Wenn Le Pen einmal in Ämter kommt, dann ist sie eben nicht mehr der alte Front National.
Das muss man verstehen. In Frankreich waren die Rechten an der Regierung früher richtig rechts. Der FN dagegen rechtsextrem. Heute ist das alles Geschichte. FN kommt also irgendwo wie die AfD an. Ich meine, man würde sich ja nicht einnässen, wenn jetzt in Deutschland der Kanzler Meuthen hiesse. Demokratie funktioniert nach dem Medianprinzip, alles Extreme werden über kurz oder lang abgeschliffen.
Weil Du in Kategorien von Symbolpolitik denkst, verzettelst dich in „Einladungen zu Sommeruniversitäten“.
Das Problem ist doch auf einer ganz anderen Ebene. Es gibt volkstümliche und ökonomisch getragene Bewegungen. Die FN Rechte kommt bei meinen linksradikalen Freunden auch deshalb an, weil sie eben nicht durch die Lobby korrumpiert sind, weil sie da Paria-Status haben.
Enttäuscht sind die Leute durch die Sozialisten und auch durch Macron. Protestwählerpotenzial gibt es, das zeigen die Geldwesten an.