vonHans-Peter Martin 16.09.2020

Game Over

Hans-Peter Martin bloggt über die globale Titanic der Politik und Wirtschaft – und wie es doch ein „New Game“ geben kann. Krieg oder Frieden.

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In Wien gelingt Großes. Durch Vorausschau, durch Instinkt, durch Kalkül? Von allem etwas. Und durch den Zufall des politischen Augenblicks. Denn selten verwebt sich das Alltagsleben so unmittelbar mit dem Theater wie in diesen Tagen. Die Premieren zu Beginn der neuen Bühnensaison verschaffen den aktuellen Ereignissen um Corona und Moria einen erhellenden Tiefgang, nach dem sich suchende Menschen sehnen. Packend und stimulierend, wenn es nicht so beklemmend wäre.

Konkret: Kaum meldete der linksliberale „Standard“,  das Auswärtige Amt in Berlin werde binnen Stunden für die Stadt Wien eine Corona-Reisewarnung veröffentlichen und damit Rückkehrer nach Deutschland sowie Einreisende aus Österreich zu einem Test und zu einer Quarantäne verpflichten, eruptierte in Österreich die so gerne verleugnete Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Bewohnern im Nachbarland: „Yay, weniger Deutsche in Wien!“, postete „Cogitare vivimus“ spontan auf der Webseite dieses sich so weltoffen gebenden Mediums und erhielt Zuspruch. „Endlich weniger Deutsche!“, sekundierte „Rene B“.

Als Pendler zwischen Österreich und Deutschland habe ich diese Abneigung, die nicht selten in offene Aggression umschlägt, konstant erlebt. Neid, Missgunst, ein ausgeprägter Minderwertigkeitskomplex, Artikulationsschwierigkeiten – alles schwingt da mit. Und hat es nicht soeben Dominic Thiem dem übermächtigen Nachbarn wieder einmal so richtig gezeigt? „Cordoba 1978, New York 2020“, dieses Meme ging nach dem Finale der US Open am Sonntag viral. Und vor 42 Jahren schlug Österreichs Fußballteam das deutsche bei der WM in Argentinien. Fast jeder in der Alpenrepublik weiß, wo und wie er das seinerzeit miterlebt hat. Und viele, die damals noch nicht geboren waren, sehnten sich bislang danach. Bis Thiem aufschlug. A Wahnsinn, verstehst? A irrer Wahnsinn.

So berichtete der zuständige Reporter der „Krone“, Österreichs größter Tageszeitung, live vor seinem Fernsehschirm:

Solch emotionale Ausbrüche erlebe ich fast nur, wenn es um Sportler aus Deutschland geht. Selbst sprachlich stechen die Zeilen hervor.

Auch in linken Kreisen ist Fremdenfeindlichkeit gegenüber Deutschen eine geradezu liebevoll gepflegte Selbstverständlichkeit. Die pauschale Ablehnung von Türken oder Afroamerikanern gilt als No-Go, aber gegen „die Deitschen“ Stimmung zu machen? Das wird selten kritisiert. Im Gegenteil, wer dies zum Thema macht, wird selbst zum Thema. „A wos. Bist jo scho söber so streng wie a Deitscher“, wird mir  als gebürtigem Vorarlberger öfter vorgehalten als es Vollmondnächte gibt.

Die Deutschenbeschimpfung stützt die österreichische Identität

In dieser Beschimpfung finden sich alle politischen Schattierungen Österreichs wieder, auch bei den ehemaligen Deutschnationalen, seit der radikale Verführer Jörg Haider den Schwenk hin zum Österreichertum vollzog. Die Deutschenbeschimpfung stützt die österreichische Identität. Aus vermeintlicher Schwäche wird eingebildete Stärke. Es sind Mechanismen, die auch bei Rassisten greifen.

Hinzu kommt die so weit verbreitete Ablehnung von Flüchtlingen. „Franz A.“ postet spontan im „Standard“, und der „Ausgeflippte Lodenfreak“ ergänzt:

Was für eine neue Dolchstoßlegende: Weil Österreichs nationalchauvinistischer Kanzler Sebastian Kurz die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria kategorisch ablehnt, während die deutsche Regierung darauf drängt, will das Außenamt in Berlin eine Reisewarnung erlassen, und das Robert-Koch-Institut erklärt Österreichs Hauptstadt aus politischer Rache zum „Risikogebiet“? Dabei sind die internationalen Vergleichszahlen eindeutig, andere Städte wurden schon mit geringeren Infektionswerten mit einer Reisewarnung bedacht. Doch in Wien spielen Fakten allenfalls eine untergeordnete Rolle? Alles eine gemeine Verschwörung?

Trump ist wirklich überall.

Pfähle in unserer Haltlosigkeit

Kurz vor der Reisewarnung konnte das Burgtheater in Wien wieder eröffnen. Es lieferte am vergangenen Wochenende an zwei Abenden den untrüglichen Beweis, warum es unverzichtbar ist. In all dem Corona-Geplärre und der anhaltenden Moria-Schande bohren sich die beiden gezeigten Stücke wie Pfähle in den politisch so verseuchten Boden der Gegenwart und verschaffen Halt in unserer derzeitigen Haltlosigkeit.

Danke. Es sind die großen Fragen, die gestellt werden, und kein Besucher kann sich ihnen entziehen: Existieren ja, nein? Leben wie, wo? Wunder? Keine. Nur Träume?

Wo sind wir? Auf der Bühne des Corona-Irrsinns? Am Strand von Lesbos? Denken wir noch oder Lullen wir schon?

Burgtheaterdirektor Martin Kušej zeigt in seiner Regie „Das Leben ein Traum“ von Pedro Calderón de la Barca im großen Haus am Ring. Er kann zum Schlussapplaus mit vielen Bravos im weißen Hemd entspannt an die Rampe treten.

„Antigone, ein Requiem“ von Thomas Köck nach Sophokles folgt am Akademietheater. Der Autor zeigt eine ansteckende, aber bescheiden wirkende Freude, als er das Ensemble beklatscht. Eine Wohltat.

Puxa vida, heiliger Strohsack. Klassiker in voller Kraft, und immer denkst Du: Das ist heute, das ist jetzt, das sind wir, die Täter und die Toten, die Träumer und die Lebenden.

Thomas Köck hat sein aktuelles Stück, das bekannte Passagen aus der antiken Tragödie einwebt,  schon vor 18 Monaten vorgelegt. Doch an diesem Abend, der von Moria-Nachrichten bestimmt ist, wirkt es wie von einem Genie an einem einzigen Nachmittag in aufeinanderfolgenden Geistesblitzen verfasst. Nicht alle schlagen ein, doch so ist es bei Blitzen, den genialen und den realen.

Klar, man mag Köck mit Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard vergleichen und zu mäkeln beginnen. Überlängen bisweilen, noch keine Perfektion in der Präzision. Doch Köck ist Köck, jung, 34, und er wird und wird. Fuck, und dann diese Schauspieler. Fast jedes Gesicht ein Geschenk. Und so viele Verse, die in das eigene Denken eindringen. Die Bestattung der Toten, bei Antigone – und an den Stränden unserer Meere im Heute. How deppert can you be, da wegzusehen?

Kurz vor der ersten Premiere fand vor dem Burgtheater eine Demonstration statt. Keine Schauspieler. Flash. Realität.

Dann im Theater die Reflexion zum Thema, die Einordnung. Als ob die Straße auf die Bühne käme, doch eben mit der Perspektive über Menschenzeitläufe hinweg.

Mein Tipp: Hinfahren, anschauen, im Schaudern die Theaterkunst genießen, wer es sich derzeit noch leisten kann.

Und vielleicht währt dieser Lebenstraum von zwei Theaterabenden ohnehin kaum länger.

Wie aus der Zeit geworfen stand Martin Kušej nach den beiden Premieren am Samstagabend  vor seinem Akademietheater. Das Schließungsschwert hing schon über den Köpfen. Von einer bevorstehenden, neuen Reisewarnung des deutschen Außenamtes war bereits die Rede.

Jetzt, da sie Wien erfasst, könnte die Theaterauferstehung nur von bedrückend kurzer Dauer gewesen sein. Wenn Besucher von Österreichs Hauptstadt nach der Rückkehr nach Deutschland in die Quarantäne müssen, trifft dies auch das Ensemble. Einige der Schauspieler pendeln zwischen den Nachbarländern zu ihren Familien, wie soll das gehen? Und was wird aus den auftretenden Gästen aus dem Ausland?

„Yay, weniger Deutsche in Wien!“ Und vielleicht bald wieder geschlossene Theater, auf dass in der selbsternannten Kulturnation Österreich die Nationalchauvinisten noch mehr unter sich bleiben und sich aufgeilen können an den bösen Fremden. Tu felix Austria.

 

 

 

 

 

 

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