Und wieder beschert die neue Direktion des Burgtheaters dem Publikum einen packenden Theaterabend. „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ ist ein Klassiker, doch in der Inszenierung von Martin Kušej wird daraus mit schlichtweg brillanten Schauspielern ein so intimes, schonungsloses Drama, dass sich ihm auch routinierte Theaterbesucher nicht entziehen können.
Kušejs erstes Mitbringsel aus seiner Intendantenzeit am Münchner Residenztheater bietet den Darstellern keine Chance, sich auch nur für einen Augenblick abzuwenden: Es gibt kein Bühnenbild, nur eine durchgängig weiße Wand, ganz dicht am Zuschauerraum. Als Requisiten dienen lediglich schlichte Gläser und Flaschen. Hunderte finden sich schon zu Beginn zerbrochen an der Rampe, während der zweistündigen Aufführung werden es immer mehr. Die Protagonisten schubsen, werfen und schmettern sie zu Boden. Es ist ein grandioses Scherbengericht, das sich da ausbreitet. In jeder Szene öffnen sich die Abgründe bürgerlicher Existenzen und ihrer menschlichen Beziehungen. Brutal. Und herrscht Krieg, wie schon in „Bakchen“ und in den „Vögeln“. Der Ehekrieg, der Beziehungskrieg ist es dieses Mal.
In jeder Sekunde ist die Mimik jedes Schauspielers grell ausgeleuchtet, keiner entkommt dem Publikum, doch das Publikum auch ihnen nicht. So dringen Stück und Darsteller gnadenlos in die Gedanken der Zuschauer ein. Der wiederholte Blick ins plüschige Burgtheaterrund, das durch die Lichtreflexion der weißen Wand selbst wie angestrahlt wirkt, offenbart hunderte mitfiebernde, aber auch schockierte Gesichter. Aus dem Bühnenschauspiel wird ein Dialog mit dem Publikum. Wir alle kennen die Grundzüge der ausgebreiteten Konflikte – und den Schrei nach Liebe.
Und wir alle können bestimmte Charakterzüge, Verhaltensweisen und Notlügen von Martha (Bibiana Beglau), Honey (Nora Buzalka), George (Norman Hacker) und Nick (Johannes Zirner) in uns selbst wiederfinden. „Eine harte Kost für die Rentnerkombo des Premierenpublikums“, findet meine Frau. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn in all den heftigen Szenen schillert immer auch menschliche Verletzlichkeit, nichts wirkt platt oder gar abgedroschen. Wie viele Reisen zu sich selbst kann dieser Abend bieten? Viele für die, die sich darauf einlassen.
Wer sich Sorgen um die neue Burgtheatermannschaft machte, weil der angekündigte Umbruch doch Theatertraditionalisten vor den Kopf stoßen könnte, kann kurz durchatmen: An der bisher gezeigten künstlerischen Qualität der neuen Inszenierungen wird das Kušej-Althoff-Projekt nicht scheitern.
Selbst Heinz Sichrovsky, multimedialer Theaterkritiker in österreichischen Medien wie der „Kronenzeitung“, „News“ und im ORF, zeigt sich beeindruckt: „Martin Kušej und ich sind seit Jahrzehnten verfeindet, aber man muß sagen, der Start ist wirklich geglückt.“ Die zweite Premiere („Vögel“) bezeichnet er wie viele Besucher als „sensationell.“ Auch die aufgekommene Kritik an den „Bakchen“ (der ersten Premiere am Donnerstag) relativiert er: „Die Wiener Theaterbesucher kommen ja ganz selten bis Salzburg oder München, wo Bühnenmaschinen von Ulrich Rasche schon zu sehen waren. Und das ist eben die Handschrift von Rasche.“ So steht es derzeit 3:0 für das neue Team in Wien. Doch es bleibt (bis auf Weiteres) ein Auswärtsspiel. Zu verhabert und mißtrauisch ist die Wiener Szene – und die herausgeforderten Politiker von Rechts bis Rechtsaußen , die auch im Kulturbereich auf Konter lauern.
Vor Kušejs Neuanfang in Wien hieß es, das Burgtheater wirke zwar wie ein Ferrari, unter der Motorhaube befinde sich aber lediglich ein VW-Motor. Not any more.
Die ersten drei Premieren an drei aufeinanderfolgenden Tagen strotzten vor Pferdestärken. Das neue Burgtheater röhrt und beschleunigt. Am Lenkrad sitzen verführerische Teufelchen. Da entwickelt sich ein diabolischer Sog – mit Suchtgefahr.
Die nächste Premiere findet am 21. September statt – mit dem Stück „The Party“.