Seit meinem 16. Lebensjahr verstehe ich mich als sozialer Demokrat. Mit gutem Grund. Wie sollen Gesellschaften denn sonst funktionieren, wenn wir in keinen Diktaturen leben wollen? Die liberale Demokratie allein ist eine Fehlkonstruktion, so lange sie nicht auf einem ernsthaften sozialen Fundament beruht.
1999 nominierte die österreichische sozialdemokratische Partei SPÖ mich als Spitzenkandidaten bei der Europawahl. Wir siegten, holten Platz eins von der konservativen ÖVP zurück.
Parteimitglied wurde ich aber nie. Ebenfalls mit gutem Grund. Denn die inneren Strukturen der Sozialdemokraten waren und sind demokratiegefährlich erstarrt. Viel zu viele Funktionäre und Parteianhänger schmoren lediglich im eigenen Saft, Fleisch ist kaum noch vorhanden. Dafür einige harte Knochen – in Österreich sind das vor allem Banker, Berater, Spitzenmanager. Tartuffes. Welche sozialdemokratischen Werte verkörpern sie? Mit wem sind sie solidarisch? Gerhard Schröder mit Gazprom, Steinbrück mit wem?
Der Dritte Weg und die vorschnelle EU-Erweiterung rächen sich
Der sogenannte Dritte Weg von Anthony Giddens, vertreten durch Tony Blair, ins deutsche Milieu übertragen von Gerhard Schröder, erwies sich für Millionen traditionell linker Wähler als Holzweg. Die SPD ließ sich dafür feiern, den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen zu haben. Dafür behielt Deutschland seine Position als Exportweltmeister, doch nicht nur Frankreich und Italien ächzen unter diesen verzerrten Wettbewerbsbedingungen. In Paris und Rom wurden die Roten zerrieben, auch deshalb, weil sie sich nicht dagegenstellten. Wer als Sozialdemokrat mit dem Neoliberalismus ins Bett geht, wacht mit dem Neonationalismus auf.
Vor zwei Jahrzehnten stellten die Sozialdemokraten in zehn der damals 15 EU-Mitgliedsstaaten den Regierungschef oder waren zumindest an der Regierung beteiligt. Und auch in sieben der damals zwölf EU-Beitrittskandidatenländern saßen sie an den Hebeln der politischen Macht. Doch sie verstrickten sich in eine Reihe verhängnisvoller Sündenfälle. Vor allem wurde die Chance vertan, die Finanzmärkte in Europa an die Kandare zu legen. So hätte die spätere, ab 2008 einsetzende Wirtschaftskrise zumindest massiv eingedämmt werden können. Doch die City of London saß damals mit am Kabinettstisch an der Downing Street, und Schröder mobbte in Berlin seinen Parteichef und kritischen Finanzminister Oskar Lafontaine 1999 aus dem Amt.
Ebenso rächte sich die vorschnelle, große EU-Erweiterung ab 2004. Wieder zählten deutsche und britische Sozialdemokraten zu den Treibern, Blairs Labourpartei setzte nicht einmal eine siebenjährige Übergangsfrist für Arbeitsbewilligungen durch. So übersiedelten von 2004 bis 2015 fast eine Million EU-Bürgerinnen und -Bürger nach Großbritannien, vor allem aus Polen. Lohndumping wurde Alltag. Auf dieser Schieflage schlitterten die Inselbewohner in ihr Brexit-Dilemma.
„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“, skandierten Demonstranten schon vor 100 Jahren in Berlin, auch wieder vor 50 Jahren. Und jetzt sollten es Timmermans-Barley mit ihrem Appell an den „Zusammenhalt“ richten? Da zeichnete sich ein ganz anderes Ergebnis ab: ein Game Over für die linke Bourgeoisie.
Mut zu neuer Radikalität
Um das gegenwärtig wieder so viel beschworene Europäische Haus nicht einstürzen zu lassen, brauchen wir jetzt einen neuen Mut zur Radikalität. Die Machtfrage muss wieder zum Thema werden, die Analysen müssen klar und verständlich sein:
Wem gehört was warum, und wozu führt das? Welche Interessen werden von wem wie verfolgt? Noch vor wenigen Jahren wäre die Frage der Enteignung von Wohnungen und Grundstücken als linke Spinnerei abgetan worden, jetzt ist es ein breit diskutiertes Thema. Das muss auch für die wirklich Reichen gelten: Wer braucht mehr als zehn Millionen Euro individuelles Gesamtvermögen? Welche verheerenden volkswirtschaftlichen Folgen hat es, dass Reiche fast die Hälfte ihres Einkommens in Geldanlagen investieren und damit die Vermögenspreisinflation befeuern und so unter anderem die Grundstückspreise hochtreiben? Wie können auch die Wohlhabenden wieder resozialisiert werden? Der Vorstoss von Kevin Kühnert zeigt doch, dass wunde Punkte getroffen werden können. Aua, schreien die Machthaber aber nicht öffentlich, im Stockholm-Syndrom gefangene Journalisten richten das schon.
Einer neuen Radikalität bedarf es auch bei der persönlichen Glaubwürdigkeit in politischen Bewegungen. Meiner journalistischen und politischen Erfahrung nach ist sie essentiell: beim Einkommen, allfälligen Privilegien, beim Lebensstil, bei politischen Haltungen.
Ich denke, es ist Zeit, gerade auch in der Linken, Platz zu machen für die Jungen, für neue Bewegungen, für andere Zugänge und auch andere Biografien. Man sieht an der 29 Jahre alten US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, was eine einzelne Person – sicherlich begleitet von einem speziellen Medieninteresse – mit einer glaubwürdigen, sehr nachvollziehbaren Biographie auslösen kann. Das gilt auch für die Klimaaktivistin Greta Thunberg. Wo sind bei uns die neuen Jungen? Es können auch ältere Personen sein, die aber nicht von den politischen Apparaten im herkömmlichen Sinne deformiert wurden. Wo sind die Überzeugenden, die Strahlenden, die neuen Sozialaktivisten?
Interessant ist etwa der niederländische Historiker Rutger Bregman. Er verwies beim Weltwirtschaftsforum in Davos schnörkellos darauf, dass es schon unter dem republikanischen US-Präsidenten Dwight Eisenhower einen Spitzensteuersatz von 91 Prozent gab – und das Land florierte. In den USA konnte er bei Fox News einen prominenten Moderator als Millionär bloßstellen, der von Milliardären finanziert wird.
Dabei geht es mir nicht um die Jugend per se, sondern um Unangreifbarkeit. Junge Aktivistinnen und Aktivisten haben kürzere Lebensläufe, sie bieten im Regelfall weniger Angriffsfläche und sie kämpfen für ihre eigene Zukunft.
Ich hoffe auf Sozialaktivisten, die nicht nur persönlich glaubwürdig sind, sondern auch mit modernen Kommunikationsformen umgehen können. Das allein wird nicht genügen, aber daraus können Sammelbewegungen entstehen. Sarah Wagenknechts Bewegung kommt leider bisher zu sehr im alten Gewande daher. Da agieren zu viele der üblichen Verdächtigen und zu wenig andere, neue Gewächse. Dabei sind die Parteien in ihrer jetzigen Form doch nur noch hohle Scheingebilde. Und in den Medien wird noch immer so getan, als ob es wirklich um ein paar Prozentpunkte hier oder dort ginge. Ich denke, es ist an der Zeit, die politische Klasse mit neuen Personen und Organisationsformen aufzubrechen. Dazu gehören auch geloste Bürgerräte. Es muss wieder gelingen, im Rahmen eines sozialen, linken Kontextes der Begeisterung ein Zuhause zu verschaffen.
Raus aus den Blasen, rein in die Debatten und Aktionen
Den Begriff des linken Populismus lehne ich aus verschiedensten Gründen ab. Doch der anhaltende Siegeszug der Neonationalen lässt sich noch stoppen. Politisch und ökonomisch führen sie uns ins Verderben.
Im Auftreten bedienen sie sich aber vieler Stilmittel der früheren Linken, etwa wirkmächtiger Provokationen. Das lässt sich wieder drehen. Ein neuer linker Aufbruch ist möglich, durch Aktionen, intern auch durch eine zielgerichtete, nicht lähmende Debattenkultur. Da lässt sich etwa von Mediatoren und Kommunikationsabläufen in hierarchiearmen Unternehmen einiges lernen. Und ja, es soll, kann und muss wieder eine linke große Vision geben: Wie soll die Gesellschaft im Jahr 2100 aussehen, wie in 50 Jahren? Wie sehen umfassende, zur Beteiligung animierende Klima-, Wohn- und Verkehrskonzepte aus, welche die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehört auch die Wiederentdeckung einer Offenheit gegenüber Technik und Fortschritt. Die rasanten Entwicklungen bei der Künstlichen Intelligenz müssen in ihrer Ambivalenz verstanden, verarbeitet und in ein überzeugendes ökonomisch-politisches Programm aufgenommen werden. Natürlich bedarf es dabei einer gesicherten Datenkontrolle und der gerechten Verteilung des Gewinnes, den all die neuen Roboter erwirtschaften. Also: Raus aus den verengten Denkschablonen und Blasen, rein in die Debatten und Aktionen.