vonMaja Wiegemann 25.09.2022

Giftspritze

Dieser Blog serviert gut verdauliche Texte aus Ökologie, Forschung und Technik - informativ & kritisch.

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Während die nächste Corona-Saison um die Ecke lauert, blinzeln wir lieber noch einmal in die Sonne und erinnern uns an diesjährige Sommerhighlights: beispielsweise an den überschäumenden Bürgermeister von Venedig, in die Ecke getrieben durch zwei rebellische Windsurfer…

Kreuzfahrer vor Venedig
Kreuzfahrer im Herzen Venedigs profitieren von einer 18 Meter tiefen Fahrrinne. Die historischen Bauten profitieren nicht. (Seit Corona dürfen die Monster nicht mehr in die Lagune einlaufen.)

Die Pandemie hat der Natur an einigen Touri-Hotspots zu erstaunlichen Erholungseffekten verholfen – auch in Venedig wurde das Wasser deutlich klarer. Waren die Surfer also durch die nun gut sichtbaren Fischlein auf­gestachelt und konnten einfach nicht widerstehen? Wer sich schon einmal durch Venedig gondeln lassen hat und dabei versonnen seine Hand über die Bordwand ins Kanalwasser gleiten ließ, weiß Bescheid. Der Gestank lässt erst nach tagelangem Schrubben nach. Zumindest war das vor Corona so. Verständlich also, dass der Wasserkontakt von Bevölkerung und Gästen mit fürsorglichem Behördenauge über­wacht wird. Während die Abwasserentsorgung über die Regenrinne weiterhin gang und gäbe ist, zählt das Surfen in Venedig  traditionell zu den Unanständigkeiten. Doch die altbackenen Moralvorstellungen werden zunehmend in Frage gestellt.

Akrobatik auf Venedigs Gewässern

Seit das SUPen eine zahlungskräftige Masse befallen hat, wird es mit den Verboten auf Venedigs Wasserstraßen unübersichtlich.

Gondel und SUP
Gondeln und SUPs dürfen sich die schmalen Kanäle in den Häuserschluchten teilen.

Stand-Up-Paddeling (kurz SUP) – die Brettvariante mit dem Stechpaddel – ist leicht zu erlernen; Könner sind stehend unterwegs. Und da die aufgeblasenen SUP-Planken etwas mehr Freibord bieten als ein sportlicher Wellenreiter, kann der Kontakt mit dem versifften Kanalwasser auf die Fußsohlen reduziert werden.

Tatsächlich sind Venedigs Behörden mit den SUPs nachsichtig – Einheimische dürfen Boards registrieren und vermieten; nur das Reinfallen ist ganz offiziell verboten.

> mehr zum SUPen durch Venedig in der ARD-Mediathek

Wären da bloß nicht die Abgrenzungsschwierigkeiten zum Brettsegeln! Aus gegebenem Anlass ließ man sich in den Amtsstuben zu folgender Akrobatik hinreißen: Das Verbot gilt im Fall der Windsurfer, da die Vortriebseinrichtung fest mit dem Brett verbunden ist. – Aha! Und das Surfer-Herz grinst: Der neueste Hype – das Wingsurfen – wäre damit nämlich erlaubt! Wenn der fort­schrittlich orientierte Surf-Dude dann noch ein Foil unter sein Board schraubt und mit einem halben Meter Abstand über der Brühe rumflitzt – geht die Argumentation völlig in die Grütze!

Gondeln+SUP+Windsurfer+Wingsurfer
Links: Tandem-Gondolieri in Venedigs Lagune. Mitte: SUP und Windsurfer in Harmonie. Rechts: Foilende Wingsurfer.

Ein Blick ins Abwasser-System

Während der Bürgermeister für das Verpetzen der noch flüchtigen Windsurfer ein Abendessen ausgelobt hat, lohnt sich ein Blick ins Abwassersystem Venedigs:

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Gatolo – in Mehrzahl Gatoli: sollten nach Möglichkeit unter Wasser liegen, auch bei Niedrigwasser. Dann funktioniert der Geruchverschluss.

Die besten Teile stammen aus der Zeit Napoleons – die Gatoli, aus Tonziegel gemauerte Tunnel unter den Häusern. Sie trennen das Grobe vom Flüssigen; und das läuft in  die Kanäle, einfach so da rein, wo SUPs, Gondeln und Motorboote um freie Fahrt rangeln. Zum Glück erhalten die Kanäle zweimal täglich eine Durchspülung mit frischem Adria-Wasser – große Toiletten-Taste also bei Tide! Manchmal verstopfen die Gatoli-Ausgänge aber auch und der anstehende Abwasserdruck kann dann eine Mauer zum Wanken bringen. – Leider war man in Sachen Kanalreinigung im 20. Jahrhundert nicht mehr so auf Trab und die Ablagerungen lassen grüßen.

Aber nicht so voreilig gelästert: Die venezianische Bauordnung sieht natürlich den Einbau von Kläranlagen und die Aufbereitung von Abwässern zwingend vor. – Mit der Einschränkung: Wo es geht.

Klärgrube
Eine Mini-Klärkammer wird ins Fundament gequetscht. Da es nicht größer geht, werden mehrere – so weit möglich – hintereinander geschaltet. Zum Vergleich: Hierzulande muss allein für die Vorklärung ein Mindestvolumen von 2 Kubikmetern eingehalten werden.

Tja, Platz ist eigentlich nirgends bei der engen Bebauung, die vor 1500 Jahren auf Sandbänken und Schwemmland begann. Chance ergibt sich nur bei umfangreichem Umbau. Die Erd­geschosse der mehrstöckigen Häuser, die regelmäßig im winterlichen Hochwasser geflutet werden, will man offenbar nicht den Kläranlagen opfern; kann man ja im Sommer noch als Geschäft nutzen oder an Touris vermieten.

Die venezianischen „Kläranlagen“ sind genaugenommen nur Sammelgruben, die regelmäßig per Boot abgefahren werden müssen. Selbst wenn alle Haushalte eine solche Grube hätten: Bei 60000 Einwohnern und täglich bis zu 100000 Touristen (gezählt vor Corona) würde die Abfuhr der Fäkalien über die kleinen Kanäle der Altstadt zu einer logistischen und olfaktorischen Herausforderung avancieren – mehr als bisher. Dann doch lieber weg damit über Regenrinnen und Gatoli! Dabei belasten nicht nur die häuslichen Abwässer die Lagune. On Top gibts eine Mixtur aus den angrenzenden Industrie-Zentren (von der Petrochemie zum Beispiel). Was solls? – Die Adria als Vorfluter hat ja eine ordentliche Hydraulik!

Maroder Charme
Maroder Charme im ‚Erd‘-Geschoss – bewohnbar allenfalls im Sommer.

Defekte Spülung – Acqua alta

„Diese surreale Stadt, die seit Jahrhunderten ihren Untergang zelebriert“ (Gunnar Decker), nimmt es offenbar nicht so genau mit lebenserhaltenden Maßnahmen.

Markusplatz unter Wasser
Markusplatz bei winterlichem Acqua alta.

Doch nun hakt die Spülung. Massiv. Mal kommt zu wenig (wie diesen Sommer wieder), aber meistens zu viel. Im Winterhalbjahr nagt die Adria regelmäßig an der Substanz – wobei das Acqua alta von Jahr zu Jahr früher und ausdauernder eintritt. Dabei ist das starke Hochwasser eben nicht nur dem Klimawandel mit Meeresspiegelanstieg oder heftigen Regenfällen zuzuschreiben, sondern auch das Resultat einer ganzen Palette von hausgemachten Problemen: der Verlegung von Flussarmen in zurückliegenden Jahrhunderten, der Entnahme von Grundwasser in den 60ern (mit der Folge der Absenkung der Stadt um über 20 cm) und in jüngerer Zeit der Reduzierung von Überflutungsflächen und der Fahrrinnenvertiefung auf 18 Meter; Letzteres verstärkt die Strömung erheblich. Die Konsequenzen lernen kleine Kinder leidvoll schon beim Buddeln am Strand: Die hingebungsvoll erbaute Kleckerburg wird über- oder unterspült. Wer es imposanter benötigt, kann auch die Fundamente entlang des Canal Grande studieren.

Abseits des Selbstzerstörungsmodus machten sich einige Venezianer in den 80ern Gedanken, wie man die Stadt gegen die Fluten schützen könnte. Heraus kam MOSE – eine riesige, im Bedarfsfall aufrichtbare Unterwasser-Wand. Sie hat im Oktober 2020 nach 16 Jahren Bauzeit und etlichen Milliarden Euro, inklusive einiger deftiger Korruptionsskandale, ihr erstes Hochwasser abgewehrt.

MOSE
MOSE (Modulo Sperimentale Elettromeccanico).

Doch MOSE kann das Desaster nur hinauszögern – ab 2100 steht Venedig ganzjährig unter Wasser – auf Nimmerwiedersehen, einzigartiges Weltkulturerbe! Naheliegende Impulsiv-Reaktion: Die Lagune komplett und dauerhaft vom Meer abschotten.  – In dem Fall: Arrivederci, wertvolles Lagunen-Biotop! Und auch die adriatische Toilettenspülung geht dann nicht mehr.
In tutto: Venedig wird im Meer oder eben im eigenen Dreck untergehen. Finito.

Genug gen Süden geschielt! Erstmal um den Schlamassel vor der eigenen Haustür kümmern.

Schiff vor Otterndorf/ Elbmündung
Nein, nicht Venedig, sondern Otterndorf (Elbmündung): Um Schiffsriesen der NeoPanMax-Klasse (bis 14,5 Meter Tiefgang) die Tide-unabhängige Einfahrt nach Hamburg zu ermöglichen, wurde die Fahrrinne direkt vor Otterndorf in 2020 auf 19 Meter unter Normalnull vertieft. Es ging dem Hamburger Hafen aber auch darum, bei der Megamanie mithalten zu können – aktuell liegen die größten Container-Schiffe bei 400 Metern Länge und bis zu 18 Metern Tiefgang (ein Vertreter ist z. B. der Quertreiber im Suezkanal von 2021). Foto: Lutz Lühmann

Die Hamburger können ja in der Elbe baden gehen… Aber auch in den Gräben des norddeutschen Tieflands wäre das Rumplanschen nicht unbedingt gesundheitsförder­lich. Dazu mehr ein anderes Mal.

 

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