Frank Volmer, vor zehn Jahren beim Telegraaf-Verlag für den Launch der Tageszeitung „Spits“ zuständig, hat nun zweierlei zugegeben. Einerseits hatten sie mit dem Management der Amsterdamer Verkehrsbetriebe GVB eine (in den Augen von Wettbewerbshütern sicherlich fragwürdige) Absprache – sollte die 1994 in Stockholm gestartete Gratis-Zeitung „Metro“ jemals in die Niederlande kommen, dann sollte der GVB dem Telegraaf-Verlag eine Art Vorrecht geben, eine kostenlose Zeitung herauszugeben (und vor allem sollte der GVB „Metro“ hinhalten und abblitzen lassen).
Vor den „Schweden“ starten konnte der Telegraaf-Konzern nicht, die damalige GVB-Direktion war schon froh, wenn die Straßenbahnen, Busse und U-Bahnen pünktlich fuhren. Eine kostenlose Tageszeitung nach dem Vorbild von Stockholm hätte a) für die GVB-Kollegen sehr viel anstrengende Publizität und b) vermutlich sehr viel organisatorischen Wirbel verursacht (bsw. Berge von Zeitungspapier in den Bussen und U-Bahnen). Andererseits war der GVB im Nachhinein gesehen eh nicht der optimale Ansprechpartner.
Denn Metro überraschte den Telegraaf-Konzern damit, dass die Strategie ganz anders war, als der Platzhirsch voraussah. Statt sich auf eine einzelne, zwar attraktive aber dennoch kleine Stadt wie Amsterdam zu beschränken, schnappte sich Metro gleich das ganze Land. Ich kann nun allerdings nicht schreiben, dass die „Schweden“ auf die Idee kamen.
Denn die Idee kam von Bart Lubbers, Tiago Jurgens und mir – zwei Niederländern und einem Deutschen. Genau genommen hatte ich in der Zeitung NRC Handelsblad einen Artikel von zwei geographischen Ökonomen gesehen, die die bestehende Landkarte der Niederlande modernisiert hatten. Neben der Landkarte gab es eine neu gezeichnete Karte des Systems der Niederländischen Eisenbahn (NS) – und die sah aus wie die Metro-Karte von London, Berlin etc. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: die hatten Recht. Das Gebiet zwischen den vier großen Städten Amsterdam, Utrecht, Den Haag und Rotterdam war und ist administrativ zwar getrennt, aber in Wahrheit war dieses Gebiet – die Randstad (kein so schöner Name wie „Amsterdam“) – mehr und mehr am Zusammenwachsen, ein urbanes Gebiet. Kurzum: wie nahmen Kontakt mit den Niederländischen Eisenbahnen auf!
Kurzum – natürlich eigentlich nicht „kurzum“. Überhaupt wird sich mancher jetzt fragen, wie kommt ein heutiger „Meine-Güte-Blogger“ aus Rostock bzw. Berlin in die Gelegenheit, um in einem anderen Land eine Zeitung zu starten? Zufall? Nein, keineswegs. Wer an der Ostsee geboren und aufgewachsen ist, kann auch schon mal eine Affinität mit den Nachbarländern entwickeln. Vor allem wenn man wie ich diese zu DDR-Zeiten erst mal gar nicht besuchen konnte. Die Liebe zum Norden begann mit Schweden-Krimis, während der Armee-Zeit in Stralsund mit dem heimlichen Abhören von Radio Schweden International, nach dem Mauerfall mit Fahrradtouren durch Dänemark, zig Besuchen in Kopenhagen, einer Silvester-Fahrt nach Schweden, einer Fahrt auf dem Götakanal… Und dann organisierte die Deutsche Journalistenschule (München, ich war da zw. 1990 und 1992) so um 1992 einen Austausch mit schwedischen Unis. Es war phantastisch. Wir durften überall unsere Nase hineinstecken (der schwedische Flugzeugproduzent Saab liess extra für mich ein Kampfflugzeug starten), hatten tolles Wetter und ich lernte, wie man sich als Mann verteidigt, wenn einem feministische Mitstudentinnen aus dem Ruhrgebiet mitverantwortlich für die Frauenbeschneidung in Afrika machen wollen. Obwohl ich weder je in Afrika war noch jemals für Frauenbeschneidung eingetreten bin.
Vor allem aber lernte ich Anne Rentzsch kennen, die übrigens bis heute Redakteurin bei eben jenem Radio Schweden International ist, das immer noch täglich eine halbe Stunde deutsches Programm anbietet. Anne stammt aus Berlin, hat in Greifswald schwedisch studiert und nach dem Mauerfall verschlug es sie nach Stockholm. Wir hielten Verbindung, und als ich Mitte der 90er ein Stipendium des Nordischen Ministerrates erhielt, nahm ich auf ihren Tip hin das 1995 gestartete Metro-Tageszeitungsprojekt unter die Lupe. Zurück in Amsterdam, wo ich bei Mieke wohnte, bekam ich via Mieke Kontakt zu Bart und Tiago. Bart = Ökonom, Tiago = Jurist, Falk = Journalist – das schien mir eine gute Kombination. Ich überzeugte die beiden, dass Metro ein gutes Konzept ist und wir nahmen die Initiative. Und in diese Zeit fiel der Artikel im NRC Handelsblad mit der neuen Karte der Niederlande.
Wir suchten Kontakt bei der Niederländischen Bahn. Nicht, dass wir sofort einen Vertriebs-Vertrag herausschlagen konnten, die Verhandlungen waren zäh und dauerten mehr als zwei Jahre. Wieder und wieder fuhren wir nach Utrecht, die NS hatte anfangs Mühe um überhaupt Verhandlungspartner zu definieren. Die Bahn wurde umstrukturiert, aus einer Firma wurde NS Reisenden, NS Bahnhöfe etc. und die Verantwortlichkeiten wurden neu gemischt. Wie oft stockten die Verhandlungen! Für mich als Deutscher war es auch lustig, die kulturellen Unterschiede zwischen niederländischen und schwedischen Geschäftsleuten bei Verhandlungen zu beobachten (Niederländer sind fest davon überzeugt, die besten Witze der Welt reissen zu können und Schweden lachen dennoch nicht), ab und zu weniger lustig, denn ich war hauptsächlich freiberuflicher Journalist für diverse deutsche Zeitungen, Zeitschriften und TV-Sender – und der Verhandlungs-Marathon stresste meine finanziellen Möglichkeiten (Meeting = Verdienstausfall).
Irgendwann schlug ich vor, dass wir die Eisenbahner eine niederländische Nullnummer machen sollten, und ein Präsentations-Video. Paula, Margot, Robert etc. schafften wir es innerhalb von einer Woche, was haben wir in Amsterdam und Stockholm geschwitzt. Nach meiner Überzeugung halfen Nullnummer und Video, weil nun auf einmal alles nicht mehr so „abstrakt schwedisch“ war.
Inzwischen war Metro in Prag und Budapest gestartet. Und Metro verhandelte in zig Städten der Welt, darunter auch in Deutschland. Viel zu viele Meetings für das relativ kleine Management-Team aus Stockholm. Aber schliesslich, das zählte, hatten wir Ende 1998 einen Vertriebsvertrag mit der NS. Und das beste war: weder die Verhandlungen noch der Vertragsabschluss waren der Konkurrenz bekannt geworden. Zig Leute waren dabei, niemand hatte geplaudert!
Naja, irgendwann schon, denn dann mussten wir ja dann mit Druckereien usw. verhandeln. Unsere Freunde von De Telegraaf waren wie vor den Kopf geschlagen – wie konnten sie die Idee mit dem „ganzen Land statt nur Amsterdam“ nur übersehen? Wahrscheinlich, weil die verantwortlichen Manager immer mit Lease-Auto statt öffentlichem Nahverkehr zur Arbeit kamen. Wer weiss. Ich jedenfalls habe keinen Führerschein, fahre immer mit U-Bahn, Straßenbahn, Zug oder Bus.
Aber „De Telegraaf“ hatte ja alles im Haus: Geld, Büros, Druckereien, Vertriebs-Infrastruktur – und so entwickelten sie schliesslich ein (kurios layoutetes) Copy-Stück namens „Spits“. Am 21. Juni 1999 erschienen dann Metro und Spits zum ersten Mal.
Das ist jetzt also zehn Jahre her. Metro hat mit fast 1,9 Lesern im Markt den zweiten Platz hinter „De Telegraaf“ erreicht – allerdings fällt die Auflage von Telegraaf seit Jahren dramatisch. Es sind jetzt noch ca. 2,2 Millionen Leser. Telegraaf-Tochter „Spits“ ist die dritte Zeitung des Landes mit 1,7 Millionen Lesern. Spektiker gab es viele, am meisten fällt mir der heute trotz dramatischer Auflagenverluste kurioserweise immer noch amtierende Chefredakteur der Zeitung „De Volkskrant“, Pieter Broertjes, ein. Der äusserte sich lange Jahre abfällig über diese Zeitungsinnovation – seiner Meinung durfte Metro nicht mal Zeitung genannt werden. (Ich amüsiere mich heute, wenn „De Volkskrant“ auf dem populären Blog „Geenstijl“ „Azijnbode“ – Essig-Kurier, weil so moralinsauer – genannt wird.)
Heute gibt es in 56 Ländern kostenlose Zeitungen, das konnte Broertjes dann doch nicht mehr ignorieren. Jahre später, viel zu spät, wurde vom Volkskrant-Mutterkonzern PCM dann die Gratis-Zeitung „Dag“ gestartet – Broetjes war in einem komplizierten Prozess einer der Initiatoren. „Dag“ war eine einzige Katastrophe – erschein fast ohne Anzeigen und bescherte dem PCM-Verlag riesige Verluste. Etwa zur gleichen Zeit startete die heute immer noch erscheinende Gratis-Zeitung „De Pers“. Während Metro Niederlande heute eine der profitabelsten Zeitungen der Welt sein dürfte, soll bei „De Pers“ dem Vernehmen nach ein Betrag von 50 Millionen Euro versenkt worden sein.
Und meine eigenen Träume? Sind nicht alle in Erfüllung gegangen, ich wäre gern jeden Tag bei Metro ein und ausgegangen – und hätte vielleicht gern auch eine deutsche Metro-Zeitung initiert. (Die Pläne gab und gibt es, aber sie werden wahrscheinlich nicht realisiert.) Immerhin blieben ein paar inzwischen abgegebene Anteile übrig. Und ich habe aber in den drei Jahren Startphase sehr viel von verschiedensten Leuten über Vertrieb, Kosten, das Schreiben von Business-Plänen, Layout, Marketing, Personal-Management, Organisations-Strukturen etc. gelernt.
Die schwedische Mutterfirma, Metro International, erwies sich leider als keine einfache Firma. Jahrelang traten sie Prozess-Hanseln auf – das kostete Nerven, auch wenn wir alles gewannen. Am Ende war ich dann im Aufsichtsrat. Vor ein paar Jahren sind wir dann ausgestiegen und heute habe ich meinen Frieden gefunden.
Mehr über kostenlose Zeitungen: Newspaperinnovation.com. Hier blogt der niederländische Wissenschaftler Piet Bakker über mehr und nicht weniger als alle Gratis-Zeitungen der Welt.