Von Dirk Knipphals
Bücher von Kolleg*innen werden in der taz nicht besprochen. Aus naheliegenden Gründen können sie nicht verrissen werden, wenn sie einem nicht gefallen, denn das wäre unkollegial. Das bedeutet aber eben auch, dass sie auch nicht glaubwürdig gelobt werden können, wenn sie einem gefallen (und allermeistens tun sie das ja auch) – auf jeden Fall gäbe es ein Geschmäckle. Selbst Besprechungen, die sorgsam argumentieren, könnten sich gegen Anwürfe, sie seien aus reiner kollegialer Gefälligkeit geschrieben, nicht wirklich wehren.
Nun schreiben allerdings viele Kolleg*innen Bücher, Sachbücher, persönliche Bücher, Romane. Und da es schade wäre, sie unseren Leser*innen vorzuenthalten, probiert die taz verschiedene Möglichkeiten aus, sie der Leserschaft vorzustellen. Vorabdrucke, taz Talks, Essays mit Hinweisen auf das neue Buch – da gibt es eine ganze Bandbreite. Und so soll es auch sein.
Als der Roman „Dschinns“ der Kollegin Fatma Aydemir im vergangenen Herbst auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, hatte ich als Literaturredakteur aber ein Problem. Was, wenn die Kollegin gewinnen würde? Wenn dazu nichts in der taz stehen würde, hätte das echt ein bisschen blöd ausgesehen. Also habe ich eine Besprechung des Romans vorbereitet, die wir im Falle des Falles ins Blatt gehoben hätten. Gewonnen hat dann bekanntlich allerdings das „Blutbuch“ vom Kim de l’Horizon, und so wurde mein Text über Fatmas Roman damals nicht gedruckt.
Nun gibt es aber viele Literaturpreise in Deutschland. Zum Beispiel auch den mit 15.000 Euro dotierten Preis der LiteraTour Nord, und den hat Fatma Aydemir für ihr Werk, vor allem ihren aktuellen Roman „Dschinns“ gewonnen. Er wird am 13. April im Literaturhaus von Hannover verliehen. Glückwunsch und alles! Und vor allem aber eine Gelegenheit, den Text zu „Dschinns“ an dieser Stelle doch noch zu veröffentlichen, der im vergangenen Herbst fast gedruckt worden wäre. Hier ist er. Ich habe, vielleicht kommt das heraus, den Roman wirklich gern gelesen. Nur die Sätze meines damaligen Textes, die sich direkt auf den Buchpreis bezogen haben, habe ich jetzt weggelassen.
Ziemlich genau in der Mitte dieses mehrstimmigen Familienromans fragt der 15-jährige Ümit seine ältere Schwester Perihan, genannt Peri, einmal: „Was ist ein Dschinn?“ Peri hat darauf Schwierigkeiten, es ihm zu erklären. Irgendwie sind Dschinns wie Geister, sagt sie, aber nicht nur. Dschinns sind auch das, was einen begleitet und man nicht so leicht erklären kann. Und vielleicht hat jeder Mensch seinen eigenen Dschinn.
Vielleicht seien Dschinns also, lässt Fatma Aydemir diese Peri schließlich in dem Roman sagen, „die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer“.
Roman mit Migrationshintergrund
Tatsächlich ist das eine Stelle, an der dieser dramaturgisch sehr sorgfältig komponierte Roman ein Stück weit seinen literarischen Einsatz vorstellt. Und so unterschiedlich die einzelnen Erzählstimmen in ihm auch ausfallen, so ist doch bei allen diesen Stimmen ein Vertrauen darauf geradezu greifbar, dass es gut ist, sich mit den Dschinns zu beschäftigen, weil es eben nicht stimmt, dass das Verborgene einen in Ruhe lässt und weil man eben doch aussprechen soll, wenigstens sich selbst gegenüber, was im Raum steht, ob man will oder nicht. „Dschinns“ ist so ein Roman mit Migrationshintergrund. Und zugleich ist es ein Roman über Sprachlosigkeit und Einsamkeit in der Familie und darüber, dass sich die Figuren damit aber nicht zufrieden geben können.
Um gleich sechs Figuren geht es, ein Elternpaar und seine vier Kinder. Eine siebte Figur bleibt im Hintergrund und taucht erst ganz am Schluss auf.
Mit dem Tod des Vaters setzt die Handlung ein, im wesentlichen spielt sie in den neunziger Jahren. Hüseyin heißt der Vater, er ist als Arbeitsmigrant aus der Türkei nach Deutschland gekommen, hat seine Familie nachgeholt und sich mit den Jahren eine kleine Eigentumswohnung in Istanbul zusammengespart, die er mit Beginn seiner Frühverrentung beziehen will. Als er die Wohnung gerade fertig eingerichtet hat, stirbt er an einem Herzinfarkt, und Fatma Aydemir findet gleich einen guten Ton, um diese melodramatische Wendung nicht zu dick aufzutragen, aber auch nicht zu dünn, wir sind hier immer noch auf den ersten zehn Seiten des Buchs.
Unterwegs auf der alten Autoput-Strecke
Der Dschinn des Vaters, so wird sich ganz allmählich herausstellen, liegt nun zum Beispiel darin, dass er einst als türkischer Soldat in Kurdistan diente und wohl auch kämpfte und dass darüber hinaus die Familie auch einen kurdischen Hintergrund hat, den sie aber immer verschwiegen hat. Es ist auch ein Roman über Gefühlserbschaften, die man weitergibt, gerade wenn man sie sich nicht klarmacht.
Vor allem aber ist es auch ein Buch über Trauer, über den Tod des Vaters, aber auch über das jeweilige Gepäck, das man in seinem eigenen Leben zu tragen hat. Die vier Kinder machen sich nach Istanbul auf, um den Vater zu beerdigen und weil dabei die islamischen Regeln gelten, muss es schnell gehen, der Körper muss schnell unter die Erde, was der Handlung des Buches eine eigene Dramatik verleiht.
Ümit und Peri fliegen mit der Mutter und kommen rechtzeitig an. Sevda, die älteste Tochter, aber verpasst mit den beiden Enkeln Bahar und Cem ihren Flug und muss eine spätere Maschine nehmen. Hakan, der älteste Sohn, fährt gleich mit dem Auto, quer durch Österreich und das ehemalige Jugoslawien auf der alten Autoput-Strecke. Eine versprengte Familie, die in der Ausnahmesituation des Todes des Vaters zusammenkommt und über das jeweils eigene Leben nachdenkt, das ist der Plot.
Bedingungen des alltäglichen Rassismus
Jedes dieser vier Kinder bekommt nun einen eigenen Abschnitt mit einer eigener Erzählstimme. Gegenwärtige Eindrücke vermischen sich mit Erinnerungen. Ümit ist in einen anderen Jungen verliebt, was sein Fußballtrainer für therapierbar hält; die Szenen bei dem wohlmeinenden Therapeuten sind in aller Knappheit ziemlich absurd-lustig. Peri schlägt sich in einem Literaturstudium in Frankfurt mit Nietzsche und dem Suizid eines Freundes herum. Sevda, die Älteste, wurde erst in der Türkei bei Verwandten zurückgelassen und bekam, schließlich nach Deutschland nachgezogen, keine Schulausbildung. Sie musste früh heiraten, hat sich dann aber von ihrem Mann getrennt und wird letztlich als Besitzerin einer Pizzeria Geschäftsfrau. Hakan dagegen verkauft Autos, auch geklaute, hört HipHop, trinkt auf der Autofahrt dosenweise Red Bull und hadert mit seinem Bild von einem den deutschen Autoritäten gegenüber allzu demütigen Vater.
Was, wenn man die Handlungsstränge so zusammenzieht, etwas nach Sozialreportage klingt, ist im Roman doch literarisch sorgfältig ausgeführt. Bei Sevdi kann Fatma Aydemir dezent ihre eigenen Erfahrungen als Studentin der Germanistik in Frankfurt am Main unterbringen. Bei Hakan merkt man, dass sie kulturjournalistisch auch im Popbereich unterwegs ist.
Von manchen Kritiker*innen ist Fatma Aydemir ein allzu kaltes Deutschlandbild vorgeworfen worden, doch das verfehlt den eigentlichen Impuls des Buches. Klar spießt es die Bedingungen des alltäglichen Rassismus, unter denen die Figuren leben müssen, auf. Die Brandanschläge in Solingen und Mölln sind in die Handlung genauso eingearbeitet wie etwa ein racial profiling durch Verkehrspolizisten Hakan gegenüber. Doch wäre es falsch, diesen Roman auf Rassismuskritik oder überhaupt auf die thematische Ebene zu reduzieren. Sein literarischer Einsatz besteht vor allem auch darin, Stimmen und Szenen dafür zu finden, über bislang familiär Verschwiegenes zu reden.
Istanbul als Fluchtpunkt
Im letzten Abschnitt laufen die Fäden bei der Mutter zusammen. Wie zu Beginn rutscht der Roman jetzt in die Du-Perspektive, und es ist, als würde der Dschinn jetzt selbst mit Emine, der Mutter, reden. Ihr Anteil am Unglück ihrer Kinder wird klar benannt, und auch hier findet Fatma Aydemir einen guten Ton, um das, was leicht zu sentimental hätte werden können, in der Schwebe zu halten.
Leser*innen der taz ist Fatma Aydemir als Autorin selbstverständlich bekannt. Seit gut zehn Jahren arbeitet sie für diese Zeitung, mit Schreibunterbrechungen für ihre Bücher. Mit einem Praktikum in der Kulturredaktion fing es an. Derzeit hat sie eine Teilzeitstelle als Redakteurin im Ressort tazzwei und schreibt die vierzehntägliche Kolumne „Red Flag“ in der Wochenendausgabe. Zusammen mit Hengameh Yogboobifarah gab sie den Sammelband „Heimat ist Albtraum“ heraus, unter anderem Mac Czollek, Olga Grjasnowa, Sharon Dodua Otoo, Sasha Marianna Salzmann und Margarete Stokowski schrieben darin.
Fatma Aydemirs Debütroman „Ellbogen“ war 2017 noch ganz anders als jetzt „Dschinns“. „Ellbogen“ zeigte, wie hart es sein kann, um seine eigene Stimme zu kämpfen. Die Loslösung der Heldin Hazal von ihrer Familie agierte dieses Buch voll aus, als Spiel auf Leben und Tod, selbst wenn das Hazal, der Hauptfigur, gar nicht so klar ist. Zugleich war das Debüt auch das Drama eines Sprungs in die Freiheit, eines Sprungs mit langem Anlauf, schief angesetzt, mit hartem Aufschlag und vor allem mit einem höchst unsicheren Ausgang. Und wie bei „Dschinns“ funktioniert Istanbul als Fluchtpunkt, wobei die Hoffnung nach gesellschaftlichem Aufbruch, die mit dieser Stadt ein paar Jahre lang verbunden war, längst ins Erdogan-Repressive gekippt war.
„Dschinns“ ist breiter angelegt. In ihm geht es darum, Stimmen für ganz unterschiedliche Lebensentwürfe zu finden. Und dafür, was in ihnen dann doch familiär zusammengehört. Es ist ein überzeugender Familienroman über Figuren, die in einer Wirklichkeit leben, in der die Leute Gründe haben, ihre Gefühle zu unterdrücken. Und dabei nimmt das Buch jede einzelne Figur so ernst, ihr jeweils Handlungsspielraum und Möglichkeiten, mit dieser Wirklichkeit umzugehen, zuzugestehen.
Dirk Knipphals, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs „Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind“ und des Romans „Der Wellenreiter“ (beide Rowohlt.Berlin).