vonMathias Broeckers 08.01.2019

taz Hausblog

Wie tickt die taz? Das Blog aus der und über die taz mit Innenansichten, Kontroversen und aktuellen Entwicklungen.

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„BÖSER MORGEN SCHWERE STUNDE Frühnebel über dem Chiemsee. Dissonante Vogelgeräusche. DIE VERBORGENE HARMONIE IST STÄRKER ALS DIE OFFENBARE, sagte der vierzehnte Evangelist. Auf der Terrasse seiner bescheiden betonierten Skihütte saß in Ledershorts, vor seinem ersten Bier nach dem Kathreiner, denkend der kleine Diktator, tief  katholisch GOTT SIEHT DIE AMEISE UNTER DEM STEIN in die Lektüre einer subversiven Schrift vertieft.“

„So, mit bisschen Wucht, Kleist-artig, könnte es anfangen …“ – hatte Heiner Müller vorgeschlagen. Er, geboren am 09. Januar 1929 und gestorben am 30. Dezember 1995, war einer der 30 SchrifstellerInnen, denen wir im Oktober 1987 für drei Tage (den ausführlichen Nachbericht von damals finden Sie hier als PDF) die taz übergeben hatten. Mit Gabriele Goettle und Hans-Magnus-Enzensberger als „CvDs“ (ChefInnen vom Dienst) in der Nachrichtenredaktion und den späteren Literatur-Nobelpreisträgerinnen Elfriede Jelinek und Herta Müller sowie vielen weiteren prominenten LiteratInnen in den einzelnen Ressorts der Zeitung.

Weil kaum einer der „hommes des lettres“ mit den in der taz schon üblichen Desktop-Computern klar kam, mussten aus den Kellern die „Olympia Monica“-Schreibmaschinen reaktiviert werden. Und weil keiner außer dem damals 77-jährigen Erich Kuby je in einer Tageszeitung gearbeitet hatte, war es ein kleines Wunder, dass an den ersten beiden Tagen tatsächlich zwei komplette aktuelle Zeitungen erschienen. Derart gestärkt sollte es nun am dritten Tag ein Experiment geben: „Das Extrablatt – Der Endlosroman, der aus dem Ticker kam.“

Die Zigarrenkiste unterm Arm

JedeR sollte aus  oder mit den Tickermeldungen seines Ressorts einen Text schreiben, welche dann in der Nachrichtenredaktion zusammengestellt werden sollten. Unter Leitung der CvDs sowie Heiner Müllers und Reinhard Lettaus – Claudio Magris hatte die Redaktion im Streit verlassen, weil ihm in der ersten Ausgabe die RAF zu wenig kritisiert wurde und der in den USA lehrende Lettau gezielt „anti-amerikanische Texte“  abdrucken wollte – mussten die getippten Texte nun zu einem Endlosroman collagiert werden.

Heiner Müller (stilecht mit Zigarre) und György Dalos arbeiten 1987 in den Redaktionsräumen der taz in der Weddinger Wattstrasse an der Literaten-taz | Foto: Anette Lesniewski

So schwer das mit „BÖSER MORGEN SCHWERE STUNDE“ losmüllert, so gut gelaunt und stets mit einer Zigarrenkiste unter dem Arm kam Heiner Müller an diesen drei Morgen in die Redaktion.

Um die Produktion halbwegs sicherzustellen, hatten wir beschlossen, geistige Getränke für die schreibende Interims-Belegschaft erst aufs Buffet zu stellen, wenn die Zeitung halbwegs im Kasten war.

An diesem letzten Tag war das anders und neben den ratternden Schreibmaschinen einiger DichterInnen standen Wein oder Whisky. Für die Scotch-Freunde Heiner Müller und Reinhard Lettau hatte ich gleich eine ganze Flasche in die Nachrichtenredaktion gestellt; und weil ja – selige Zeiten! – überall geraucht werden durfte, stand die Hütte gehörig unter Dampf. Müller: Zigarre, Goettle: Roth-Händle, Enzensberger: Rothmans, Lettau: „Ich kann nicht mehr rauchen aber rieche es gern!“

Als die CvDs gegangen waren, stieß der damalige taz-Archivar Randy mit einer Flasche Single Malt und gutem Gras zu uns. Wir hockten rauchend und trinkend bis in die Nacht in der Redaktion, Müller und Lettau liefen zu großer Form auf und erzählten mehr als zwei Stunden über alles was ihnen in den Sinn kam. Und, beachtlich, je leerer die Flasche wurde, desto klarer wurden die Beiden.

Leider habe ich nichts mitgeschrieben, aber wer zum 90. Geburtstag  von Heiner Müller nachlesen will, was er damals in der taz geschrieben hat, kann in diesem Endlosroman auf sieben Zeitungsseiten und in 31 Kapiteln (PDF) auf die Suche gehen. Oder online im taz Archiv stöbern, denn dort haben sich nicht nur einzelne Arbeiten des Jahres 1987 angesammelt, sondern auch Texte Heiner Müllers aus späteren Jahren. Darauf einen Single Malt.


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https://blogs.taz.de/hausblog/heiner-mueller-die-zigarren-und-die-taz/

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kommentare

  • Zigarren gibt es schon wirklich sehr lange. Das Sammeln von Zigarren hat sich auch über die ganze Welt ausgebreitet. Auch ein Humidor oder ein Dupont Feuerzeug sind sehr beliebt unter Sammlern.

  • Heiner Müller wäre heute ein Fall für metoo. Er geierte wie blöd nach jungen Frauen.

    Eine Freundin von mir erlebte ihn kurz nach der Wende im BE und konnte ein Lied davon singen.

    Also, liebe taz, lasst den Personenkult.

    • und metoo hätte auf jeden fall einen zynischen satz von HM abbekommen, der uns mehr unterhalten würde, als Ihr Kommentar. Also sparen Sie sich das spießige Gejammer.

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