Stephan Klecha, 35, untersucht am Göttinger Institut für Demokratieforschung pädophile Einflüsse auf die Grünen. Das Interview führten Nina Apin und Astrid Geisler.
Herr Klecha, Sie haben in den vergangenen Wochen auch im taz-Archiv recherchiert. Wie bewerten Sie die Rolle der taz in der Pädophiliedebatte?
Stephan Klecha: Die taz gehörte in ihren Gründungsjahren zu den Medien, in denen diese Debatte stattfand. Wir haben zwar auch ein paar frühe Belege in der Zeit gefunden, auch der Spiegel hat vereinzelt solche Ansätze gehabt. Aber in der taz kamen die Pädophilen selbst zu Wort und konnten ihre Forderungen verbreiten.
War die Blattlinie der taz damals pädophilenfreundlich?
Es gab damals keine redaktionelle Linie im engeren Sinne. Die redaktionelle Linie bestand darin, alles zuzulassen. Als wir die alten Zeitungsausgaben durchschauten, waren besonders meine jüngeren Kollegen irritiert, wie anarchisch die taz damals strukturiert war – nicht nur in Bezug auf die Inhalte, sondern auch auf die Gestaltung. Es gab keine klassische Ressortdifferenzierung.
Was heißt das für die Berichterstattung über Pädophilie?
Die taz war derart anarchisch strukturiert, dass sich neben den Pädophiliebefürwortern auch immer wieder die Gegenseite im Blatt fand. Beide Positionen standen relativ unkommentiert nebeneinander. Dazu kam, dass die taz-Redaktion immer mal von Gruppen besetzt wurde, die ihr erklärten: Ihr habt Quatsch gedruckt, jetzt muss die Gegenposition in die Zeitung. Entsprechend schwankte die Berichterstattung.
Wer vertrat in der taz besonders radikale Positionen?
Es gab eine ganze Bandbreite von Autoren und Einflüssen: Der taz-Autor Olaf Stüben, bekennender Päderast, eröffnete sehr prononciert die Debatte. Auch die Indianerkommune hat mal eine ganze Seite bekommen. Es gab Gruppen wie die taz-Initiative Nürnberg oder die “Förderation weibliche Pädophilie” – wer dahinterstand, wissen wir nicht. Viele Beiträge sind mit Vornamen, Kürzeln oder gar nicht namentlich gekennzeichnet.
Stüben schwärmte in der taz vom “Bumsen” mit einem Jungen. Wie konnte so etwas gedruckt werden?
In Teilen des linksalternativen Milieus gab es in der Zeit eine gewisse Akzeptanz der Pädophilie. Das war kein deutsches Phänomen allein. Es gab die Debatte auch in Frankreich, in den Niederlanden, in der Schweiz oder in Großbritannien. Insofern verwundert es nicht, dass auch die taz als selbst erklärtes Sprachrohr der Alternativbewegung dem einen Raum gab.
Hatte die taz eine Meinungsführerschaft bei dem Thema?
Die taz spiegelte stärker als andere Medien pädophilenfreundliche Positionen der damaligen Zeit wider. Sie verbreitete sie flächendeckender als der Frankfurter Pflasterstrand, die zitty aus Berlin oder Das Blatt aus München. Diese Medien erreichten im Gegensatz zur taz nur bestimmte regionale Szenen. Aber die taz wurde von der Studenten-WG in Tübingen genauso wie vom Politiklehrer in Berlin oder dem Ökolandwirt aus Schleswig-Holstein gelesen. Außerdem war die taz insofern bedeutend, als sie immer schon eng verbunden war mit den Debatten, die zeitgleich bei den Grünen liefen. Von Meinungsführerschaft würde ich trotzdem nicht sprechen. Schließlich vertrat die Zeitung ja nicht eine bestimmte Meinung, sondern bot sehr vielen Meinungen ein Forum.
Gilt Ihre Einschätzung nur für die Anfangszeit der taz?
Die Pluralität der Meinungen findet sich durchaus noch bis in die neunziger Jahre. Aber dass radikale pädophile Positionen eins zu eins übernommen werden, das lässt Mitte der Achtziger erkennbar nach.
Wie bewerten Sie die Solidarisierung der taz mit dem bekennenden Päderasten Peter Schult, dem seine Vorliebe für sehr junge Männer 1982 einen aufsehenerregenden Prozess einbrachte?
Diese Solidarisierung hatte verschiedene Ebenen, deshalb muss man auch die Berichterstattung über Schult differenziert betrachten. Bei Schult war in der Haft festgestellt worden, dass er unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war. Er erhielt aber erst Haftverschonung, als es schon zu spät war. Einige protestierten gegen die Art und Weise, wie man diesen todkranken Häftling behandelte. Es ging ihnen um humanen Strafvollzug, auf den natürlich auch ein Sexualstraftäter Anspruch hat. Andere aber solidarisierten sich mit Schult aus ganz anderen Gründen: Sie bestritten seine Tat, bezweifelten die Aussagen der Minderjährigen oder argumentierten mit der Freigabe von Pädophilie.
Die taz-Mitbegründerin Gisela Wülffing distanzierte sich 1979 in der taz von ihrem Freund Peter Schult: Sie hatte den Verdacht, dass er ihren 13-jährigen Sohn begehrte – und machte ihre Kritik in der taz öffentlich. War das eine Ausnahme in der damaligen Berichterstattung?
Nein, man sieht daran, dass es es auch Gegenstimmen gab. Vor allem Frauengruppen traten energisch der Ansicht entgegen, dass Sex mit unter 14-Jährigen okay sei. Sie wandten sich daher gegen die Senkung der Schutzaltersgrenze. Und sie sprachen von Opfern – die im pädophilenfreundlichen Diskurs nie vorkamen. Da war ja nur die Rede von einvernehmlichem, gewaltlosem Sex. Der Umgang mit Pädophilie war der Hauptstreitpunkt mit der Schwulenbewegung. Diesen Konflikt findet man auch in der taz wieder.
Ab Mitte der achtziger Jahre wurden pädophile Positionen in der taz zurückgedrängt. Wie kam es dazu?
Das gesellschaftliche Umfeld hatte sich erheblich verändert, die Sensibilität für sexuellen Missbrauch nahm stark zu. Die Pädophiliebewegung verlor erkennbar an Schlagkraft. Andererseits gab es immer noch Wissenschaftler, die die Anliegen von Pädophilen verbreiteten – so wie der Sozialpädagogikprofessor Helmut Kentler. Aber auch solche Wissenschaftler waren zunehmend mit Gegenstimmen konfrontiert. Denn auch der sexualwissenschaftliche Diskurs hatte sich weiterentwickelt. Die Schwierigkeit ist, die heutigen Maßstäbe mit den damaligen zu vergleichen.
Was war Ihrer Ansicht nach damals anders als heute?
Sexualkontakte mit Kindern ohne eindeutige Gewalteinwirkung wurden in den Achtzigern von vielen nicht als sexuelle Gewalt charakterisiert – heute schon. Deshalb hat es der Mythos “Gewaltfreiheit” heute viel schwerer.
Wie nehmen Sie die heutige Berichterstattung der taz zu diesem Thema wahr?
Der Diskurs ist ins Restriktive gekippt, auch in der taz. Die offene Pädophilenpropaganda von damals wäre heute auch in der taz nicht mehr möglich. Ein Autor wie Olaf Stüben würde unter keinen Umständen noch eine Seite in der Zeitung bekommen. In der Aufarbeitung sollte man vielleicht weniger der Frage nachgehen, was damals falsch gemacht wurde, als vielmehr klären, wie es überhaupt zu diesem Diskurs kam.
Siehe auch:
Über Pädophilie-Aktivisten im taz-Milieu: Kuscheln mit den Indianern, Nicht nur die Indianer und Die hässliche Seite des netten Didi
Interview mit Volker Beck: “Meine Begründung war unsäglich”
Ist “sehr junge Männer” in der heutigen taz-Redaktion eine akzeptierte Bezeichnung für männliche Kinder in einem solchen Zusammenhang, oder ist das ein Jenninger?