Reinhard Wolff ist einer der dienstältesten taz-Auslandskorrespondenten. Er lebt in der Nähe von Stockholm und schreibt seit 1985 unermüdlich über Skandinavien und das Baltikum. Die Redaktion und viele taz-LeserInnen sind echte Wolff-Fans. Das zeigt das besonders positive Feedback auf seine Texte – und deren oft erstaunlich hohe Klickzahlen. Die Beliebtheit liegt aber wohl auch an Wolffs Sujet: Daran, dass die lange als besonders liberal geltenden skandinavischen Gesellschaften linke Utopien verwirklichten, die zum Vorbild für viele Deutsche wurden.
Nun regiert aber auch in Schweden mittlerweile eine Rechtskoalition, die sogar Anfang 2023 den Neubau von Atomkraftwerken erleichterte. Natürlich ein Thema für die taz. Wolff berichtete für die Print- und Onlineausgabe der taz – und ordnete das Ganze in einem Kommentar mit dem Titel „Nichts als Augenwischerei“ ein. Dass der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats die taz nun wegen mangelnder Sorgfalt für diesen Kommentar missbilligte, überraschte Wolff wie das ihn koordinierende taz-Ressort Wirtschaft und Umwelt gleichermaßen.
Wir achten und schätzen zwar die Funktion des Presserats als freiwilliges Selbstkontrollgremium der deutschen Print- und Onlinemedien, halten jedoch diese Missbilligung für nicht gerechtfertigt – und möchten das im Folgenden auch begründen.
Vattenfalls (Des-)Interesse
In Wolffs Bericht heisst es: „Schwedens Regierung will die gesetzlichen Voraussetzungen zum Bau neuer Atomkraftwerke schaffen. Man werde im Parlament einen Gesetzentwurf einbringen, mit dem bestehende gesetzliche Hürden für AKW-Neubauprojekte beseitigt werden würden, kündigte Ministerpräsident Ulf Kristersson am Mittwoch an. Das Gesetz soll im Frühjahr 2024 in Kraft treten.“ Im Kommentar ging es um die Frage, wie realistisch die Pläne der Regierung – die aktuelle Stromengpässe mit neuem Atomstrom decken will, in dieser Legislaturperiode sein könnten. Dies wird vehement verneint:
„Auch mit der Ankündigung, die Voraussetzungen zum Bau neuer Atomreaktoren zu schaffen, soll offenbar vor allem Handlungskraft demonstriert werden. Was die Regierung von Ulf Kristersson als Lösung für den Bedarf künftiger Energieversorgung präsentiert, ist indes reine Augenwischerei. Sollte es wirklich eine Mehrheit für die Pläne der Regierung geben, so ist weit und breit kein Energieunternehmen in Sicht, das das Risiko eingehen würde, einen künftigen AKW-Neubau auch nur zu planen.“
Etwas später die umstrittene Stelle: „Der staatliche Energieversorger Vattenfall jedenfalls macht aus seinem Desinteresse an neuen AKWs keinen Hehl…“ „Niemand könne das Unternehmen zwingen, in die unprofitable Atomstromproduktion zu investieren, betonte jüngst die Chefin des Unternehmens.“
Schnelle Investitionen in neue Atomkraftwerke?
Bei beiden Texten ging es also um die Absicht der Regierung, neue konventionelle AKW zu bauen. Wolff meint in dem Kommentar, dazu werde es nicht kommen, weil die Industrie, allen voran der staatliche Energieversorger Vattenfall, das ablehnt. Als wichtiges Argument dient ihm in dem Meinungsbeitrag die Erfahrung mit dem letzten skandinavischen AKW-Neubau.
Er schreibt: „Die Planungen für den dritten Reaktor des finnischen AKWs Olkiluoto begannen vor zwei Jahrzehnten. Um 14 Jahre verspätet und viermal teurer als geplant soll er nach den letzten Ankündigungen nun im Februar ans Netz gehen. Aber Schweden braucht jetzt neue Stromquellen. Nicht erst 2037.“
Der Presserat bemängelt nun, es lasse sich aus anderen als von Wolff genutzten Quellen entnehmen, „dass die internen Analysen bei Vattenfall bezüglich Atomkraft noch nicht abgeschlossen sind und Frau Borg (die Vattenfall-Chefin, die Red.) auch nicht ausschließt, dass das Unternehmen in diesem Bereich tätig wird. Der Meinungsbeitrag erweckt aber diesen Eindruck.“
Bei genauer Betrachtung ihrer Statements ist Vattenfall-Chefin Anna Borg zur Frage der Möglichkeit von Investitionen ihres Konzerns in neue Atomkraftwerke allerdings eindeutig.
Vattenfall-Chefin fordert Energieabkommen zwischen den Parteien
In einem Debattenbeitrag der Tageszeitung Dagens Nyheter vom 4.12.2021 schreibt sie: „Neue Atomkraft ist in den nächsten 10-15 Jahren unwahrscheinlich. Es dauert lange, bis ein neues großes Kernkraftwerk errichtet wird. Darüber hinaus ist die heute verfügbare Technologie in der Herstellung teurer als die Alternativen. Bis Mitte der 2030er Jahre wird vor allem die Windkraft den gestiegenen Strombedarf decken.“
In einem Interview der Nachrichtensendung Rapport des schwedischen Public Service-TV SVT vom 9.12.2022 und in einem Seminar der Königlichen Ingenieurswissenschaftsakademie in der gleichen Woche konstatierte Borg, die schwedische Regierung dürfe bei einem staatlichen Unternehmen nicht über Details bestimmen. Es sei die Entscheidung von Vattenfall, in welche Stromquellen es investieren wolle. Außerdem stellte Borg folgende Voraussetzungen auf, die erfüllt sein müssten, damit Investitionen in neue AKW in Frage kommen könnten:
1. Atomkraftanlagen sollten nur gebaut werden, wenn sie rentabel seien.
2. Dafür seien neue Gesetze erforderlich.
3. Es bedürfe dafür breiter politischer Unterstützung über die Parteiblöcke hinweg. Zwingend sei ein Energieabkommen zwischen den Parteien, denn man benötige für den Bau von Atomkraftwerken Planungssicherheit über mehrere Legislaturperioden. Borg: „Das ist eine Entscheidung, die für mindestens 100 Jahre Gültigkeit hat.“
4. Neue Personalressourcen sowohl für den Bau als auch für den Betrieb der Kernkraft seien Voraussetzung. Wollen auch junge Menschen mit Atomkraft arbeiten?
5. Es sei notwendig, Gemeinden zu finden, die neue Atomreaktoren akzeptierten.
6. Behörden müssten aufgebaut werden, die über eine ausreichend hohe Kompetenz verfügen, um die Genehmigungsprüfung bewältigen zu können.
7. Man müsse abwarten, wie sich die Technik entwickelt.
Legislaturübergreifende Planung notwendig
Borg betonte, es seien „umfassende und langfristige Vereinbarungen und Rahmenbedingungen“ erforderlich, das seien keine Fragen „die in ein oder zwei Legislaturperioden gelöst werden können“.
Der Presserat bezieht sich in seiner Missbilligung auf Aussagen Borgs in einem Interview mit einer der größten schwedischen Zeitungen aus dem Dezember 2022. Hier bestätigt sie zwar ihre prinzipielle Ablehnung, demnächst Atomkraftwerke zu bauen: „Aber kurzfristig, in 5 bis 10 Jahren, kann uns die Windenergie mehr Strom liefern. Bei der Kernkraft geht es um die Planung und die Beantragung von Genehmigungen und Zulassungen. Hier werden die großen Investitionen erst später getätigt, und es kann sein, dass sie erst in zehn Jahren anfallen.“
Allerdings macht Borg eine Einschränkung bezüglich sogenannter kleiner modularer Reaktoren (SMR): Der Bau dieser SMR sei „durchaus sinnvoll“. „Sie haben das Potenzial, Strom zu niedrigeren Kosten zu produzieren als herkömmliche Reaktoren, und die kürzere Bauzeit verschafft den Investoren auch eine Rendite auf ihr Geld.“
Rein hypothetisch
SMR sind jedoch etwas weitgehend anderes als konventionelle Atomkraftwerke. Sie sind zum Betrieb von Industrieanlagen, Atom-U-Booten oder entlegener kleinerer Orte gedacht. Es gibt derzeit weltweit keine marktreifen SMR. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung schreibt in einer Studie aus dem Jahr 2021: „Entsprechend wäre zur Bereitstellung derselben elektrischen Leistung eine um den Faktor 3-1000 größere Anzahl an Anlagen erforderlich. Anstelle von heute circa 400 Reaktoren mit großer Leistung würde dies also den Bau von mehreren tausend bis zehntausend SMR-Anlagen bedeuten. Dieses Ziel liegt in weiter Ferne. Zudem werden verschiedene Risiken, die mit Vervielfachung der Zahl der Anlagen einhergehen, bei der Planung weitgehend vernachlässigt: insbesondere Fragen des Transports, des Rückbaus sowie der Zwischen- und Endlagerung.“
Also redet Frau Borg hier im reinen Zukunftsmodus – und über eine weitgehend andere Sache als den Bau von Atomkraftwerken.
Wenn der Presserat nun also in seiner Missbilligung schreibt, Frau Borg schließe nicht aus „dass das Unternehmen in diesem Bereich tätig wird“, blendet er aus Sicht der taz wichtige technische Details und den Zeitfaktor aus. Die meisten ExpertInnen halten es für unmöglich, dass alle oder nur ein Großteil der von Borg aufgestellten Voraussetzungen für eine mögliche Investitionsentscheidung in AKW-Neubauten sich in absehbarer Zukunft, speziell aber nicht in dieser Legislaturperiode verwirklichen lassen könnten. Der vom Presserat angegriffene Kommentar bezieht sich aber ausdrücklich auf die derzeitige Regierung, die laufende Legislaturperiode und mögliche aktuelle AKW-Pläne.
Von Kai Schöneberg, Ressortleiter Wirtschaft und Umwelt