Von ihrem ersten Tag an war die taz Aufbruch und Experiment. Anders als andere Zeitungen hat sie nie den Anspruch formuliert, fertig und perfekt zu sein. Im Gegenteil, ausprobieren, sich immer wieder neu erfinden, das ist erfolgreich geübte Praxis. Daher sind wir auch ganz unbescheiden und wollen – die taz neu erfinden.
Die Verhältnisse in der Medienbranche verändern sich in einer Rasanz, die Deutschland überrascht. Viele konnten oder wollten sich gar nicht vorstellen, dass die Zeitungskrise, die in den USA schon seit fast zehn Jahren tobt, auch den deutschen Markt so brutal erfassen würde. Sie spüren es sicher auch an sich ganz persönlich: Die Online-Nachrichtenangebote verändern das Medienverhalten. Auch durch die Möglichkeiten, sich im Internet in sozialen Netzwerken zusammenzuschließen, Informationen und Meinungen auszutauschen, will man heute andere Dinge von Journalistinnen und Journalisten als in der Vergangenheit.
Die Zeiten sind vorbei, in denen JournalistInnen und die Verlagshäuser eine Art Wächterfunktion hatten und bestimmen konnten, welche Informationen an die Öffentlichkeit kommen oder nicht. War die Information als solche einst ein Machtfaktor, müssen Journalisten erkennen, dass es die Kanzel der Machtausübung nicht mehr gibt. All die Informationen, die aus der LeserInnenschaft, den Communities kommen, müssen ernst genommen werden. Wollen Medien eine Zukunft haben, müssen sie die sozialen Medien als ein Gegenüber, als Partner nutzen. Ein Beispiel aus der Praxis: Wenn ich an einem Bericht über einen Flüchtling arbeite, der während des Abschiebeflugs misshandelt wurde, können mir meine Netzwerke Informationen liefern, die ich nie allein recherchieren könnte. Meine Twitter-Follower, meine Facebook-Freunde können zu wichtigen Verbündeten werden. Saß einer von euch in diesem Flugzeug, kennt ihr jemanden, habt ihr Informationen, die mir weiterhelfen? Entsprechend wird die kuratierende Funktion wichtiger werden. Es wird bedeutsamer, Argumente zu sortieren, einzuordnen und zu erläutern.
Dabei sind die gesellschaftlichen Verhältnisse so taz-affin wie selten. Wir leben in einer Zeit der Entdeckungen, es gibt ein großes Bedürfnis nach Ausprobieren und Beteiligung. Was kann eine Bürgergesellschaft ausrichten, was sollte sie wie bewegen? Wo sind die Grenzen der modernen Demokratie in einer globalen Welt? Wer geht wirklich neue Wege, wer scheitert? Diese Umbruchzeiten schreien nach Einordnung und Haltung. Entsprechend arbeiten wir daran, die taz als Auswahl- und Scoutmedium klarer zu positionieren und unsere Diskursqualitäten noch deutlicher herauszustellen. Das bedeutet, Debatten nicht nur abzubilden, sondern noch offensiver anzustoßen. Letztlich mit den Möglichkeiten der neuen Medien das zu stärken und mit Hochdruck weiterzuentwickeln, was die taz ausmacht. Von ihrem ersten Tag an.
Die Wucht, mit der die veränderten Bedürfnisse auf uns prallen, ist groß. Und es wäre vermessen zu behaupten, dass wir VerantwortungsträgerInnen nicht einen immensen Druck spüren, in diesen Zeiten des Medienbruches die richtigen Entscheidungen in angemessenen Zeiträumen zu fällen und dann auch umzusetzen.
Was heißen all diese Überlegungen und Planungen nun konkret? Im November werden wir mit einer neuen Lokalausgabe in Berlin erscheinen, die als eine Art Experimentier- und Lehrwerkstatt für das Großprojekt für das kommende Jahr fungiert. Der Berlinteil mit fokussiertem Journalismus am Wochenende, ist eine Art Pionier, die dem Rest der Zeitung vorangeht. Im April, pünktlich zum 34. Geburtstag, wird die neue Wochenendausgabe der gesamten taz erscheinen, die die Bedürfnisse des Lesers an den müßigen Tagen der Woche aufnehmen und umsetzen will. Im Kern der Reformen steht ein neues, klares Bekenntnis zu den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in denen Journalismus im Jahr 2012 gedacht werden muss. Wir sind nicht mehr nur eine Tageszeitung, die sich auf einer Geraden bewegt, sondern ein dreidimensionales Medium mit Wochenende, Tageszeitung und taz.de. Am Wochenende sollen die Stärken, die unsere sonntaz so erfolgreich sein lassen, ergänzt werden durch eine Weiterentwicklung der Arbeit der aktuellen Ressorts hin zu einem taz-Wochenend-Magazin-Journalismus. Natürlich politisch, selbstverständlich kritisch, alternativ und links. Dabei bleibt die taz anspruchsvoll, ohne belehrend zu sein, sie ist unterhaltsam und tiefgründig, analysiert das Geschehene und gibt einen Ausblick in die kommende Woche. Ganz selbstbewusst unter der Maßgabe, das linke alternative Leitmedium am Wochenende sein zu wollen, das die Argumente liefert, das Spaß macht, weil es informiert und unterhält, anregt und aufregt.
Ja, es gibt unendlich viele Fragen, Unsicherheiten, Befürchtungen und Herausforderungen – und eigentlich nur eine einzige Sicherheit: Wenn der Journalismus so bleibt, wie er ist, dann bleibt er eben nicht, sondern schafft sich selber ab. Für die taz ist das keine bedrohliche Nachricht: Denn die taz war ja schon immer prinzipiell unfertig und stets im Aufbruch.
Wir versprechen: Das bleibt so.
Besteht da nicht die Gefahr einer Boulevardisierung der Medien, wenn man die Gatekeeper-Funktion vernachlässigt und sich immer mehr auf die sozialen Netze zur Informationsbeschaffung verlässt? Man beobachtet doch viel zu oft wie sich auf Facebook & Co Falschmeldungen verbreiten bzw. von nicht authorisierten Quellen stammend um den Erdball gehen und fast nicht mehr zu stoppen sind. Tage nachher glauben manchmal noch Menschen, dass etwas stimmen muss, weil Sie es ja auf Facebook gelesen haben. Mein Anspruch an Zeitungen ist da ein anderer, ich erwarte mir dort Fakten!
Beste Grüße,
David Neuner