von 23.09.2013

taz Hausblog

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Von Sebastian Heiser

Wir Politikjournalisten müssten jetzt eigentlich geschlossen zurücktreten. Zumindest dann, wenn wir – ausnahmsweise – einmal die Maßstäbe an uns anlegen, nach denen wir die Politiker bewerten. Dann müssten wir zum Ergebnis kommen: Wir haben versagt. Wir können es einfach nicht. Wir haben unsere Leser, Hörer und Zuschauer getäuscht.

Die Union hätte mit nur fünf Abgeordneten mehr die absolute Mehrheit. Foto: BundestagDie Union hat am Sonntag eine absolute Mehrheit im Bundestag nur knapp verfehlt. Niemand von uns hat das vorher auch nur für denkbar gehalten. Aber fünf Abgeordnete mehr für CDU und CSU, dann wäre es so gekommen. Fünf Abgeordnete von 630. Wir haben unseren Lesern vor der Wahl alle zu erwartenden Optionen des Wahlergebnisses vorgestellt – manche kamen auf sieben, andere auf acht. Wir beleuchteten sogar die Option einer Minderheitenregierung, die sich auf keine feste parlamentarische Mehrheit stützen kann (FAZ vom 7. März 2013, Seite 8, nicht online).

Eine absolute Mehrheit hatte niemand auf dem Schirm. Viele von uns haben sie sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Das klang dann so: „Wunder wie eine absolute Mehrheit von CDU/CSU oder SPD wird es nicht geben.“ Oder so: „Denn keine Partei wird die absolute Mehrheit erringen.“ Wir Journalisten waren uns wirklich ganz sicher: „Die Frage ist eigentlich nur noch, ob Kanzlerin Angela Merkel mit der FDP weiterregieren kann – oder die SPD in eine große Koalition einsteigen muss.“ Sogar noch in der Woche vor der Wahl schrieben wir, die SPD müsse „nicht fürchten, dass die [schwarz-gelbe] Koalition wegen einer absoluten Mehrheit der Union ein Ende findet“. Noch ein Beispiel gefällig? „Zwar steht eine absolute Mehrheit der Union nicht ins Haus.“

Es ist gar nicht wichtig, welcher Kollege das jeweils in welchem Medium geschrieben hat. Wir alle haben es gleichermaßen vergeigt, in der taz genauso wie überall anders auch. Wir Politikbeobachter und -erklärer haben unserem Publikum vorgemacht, dass wir etwas von unserem Beruf verstehen würden. Und jetzt kann jeder sehen: Der Kaiser ist nackt!

Deshalb sollten wir alle zurücktreten. Und wenn schon nicht von unserem Job, dann zumindest von unserem Anspruch, die Wahrheit zu kennen.

Na gut, könnte man sagen, wir haben doch nur das weitergetragen, das die Demoskopen uns an Zahlen geliefert haben. Warum soll der Bote die Schuld tragen? Ganz einfach: Weil es verdammt noch mal unsere Pflicht ist, zu überprüfen, was wir weitergeben. Im Kleingedruckten hätten wir dann überall solche Hinweise gefunden wie bei Infratest Dimap: „Die Sonntagsfrage misst aktuelle Wahlneigungen und nicht tatsächliches Wahlverhalten. Sie ermittelt damit gleichsam einen Zwischenstand im Meinungsbildungsprozess der Wahlbevölkerung, der erst am Wahlsonntag abgeschlossen ist. Rückschlüsse auf den Wahlausgang sind damit nur bedingt möglich.”

Wir haben Stimmungsbilder aus der Vergangenheit genommen und damit Prognosen für die Zukunft gemacht. Wir haben so getan, als ob es sich dabei um die absolute Wahrheit handelt. Am Sonntagabend hat uns dann per Eilmeldung die wirkliche Wahrheit erreicht: Man kann Wahlen nicht vorhersagen. Wir können es nicht. Die Demoskopen können es auch nicht. Niemand kann es. Wir sollten aufhören, unseren Lesern so etwas vorzumachen.

Aber wie sonst sollten dann dann die ganzen Seiten und Sendezeiten vor einer Wahl füllen? Irgendetwas müssten wir ja dann stattdessen berichten …

Bisher haben wir einen guten Teil dieses Platzes für Sportberichterstattung genutzt: Wer liegt gerade vorne, wer holt jetzt mächtig auf, wer ist in ein Fettnäpfchen getreten? Und nebenbei haben wir noch Haltungsnoten für die Teams und ihre Spieler verteilet. Wie wäre es, wenn das bleiben lassen und uns in Zukunft auf die handelnden Personen und ihre Programme konzentrieren: Was sind das für Leute, wo kommen sie her, was treibt sie an? Und was bedeuten ihre Forderungen, was würde sich dadurch ändern, wer profitiert, wer zahlt drauf, und ist das überhaupt sinnvoll?

Ich bin davon überzeugt: Wir würden die Wahlberichterstattung auch mit Inhalten vollbekommen können. Und damit würden wir auf jeden Fall mehr über die reale Realität berichten als mit diesem Prognosenhokuspokus.

Sebastian Heiser ist Redakteur im Berlin-Ressort der taz und schreibt dort über Landespolitik. Er bereut inzwischen zum Beispiel diesen Artikel.

Foto: Bundestag

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https://blogs.taz.de/hausblog/warum-wir-journalisten-zuruecktreten-sollten/

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kommentare

  • guten tag,

    vllt geht es noch viel weiter?! von den meisten gar nicht wahrgenommen, stellte ich bereits am sonntag eine anmerkung in den raum:

    >> kurze zwischenfrage: um ca.19:30h (stand der #hochrechnung: absolute mehrheit für die #union) ging mehrfach die meldung „die #linke ist stärkste oppositionspartei“ über die sender – war da jemand etwas voreilig, #matrix? #verschwörungstheorie! <<

    eigentlich unvorstellbar in dieser dimension – doch was, wenn wir am ende tatsächlich die marionetten einer 80mio-truemen-show sind? man müsste den bilderbergern wirklich respekt zollen.

    schöne grüße!

  • Die Berliner Republik lässt grüssen. So ist das eben, wenn man sein Leben zwischen Bundespressekonferenz, Hintergrundgesprächen („unter 3“ – de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Presse_Club#.E2.80.9EUnter_3.E2.80.9C) und Häppchenempfängen von Ministerien, Abgeordneten und Verbänden verbringt. Da bleibt der Blick für die Realität im Land auf der Strecke.

    Zum Therma Unions-Mehrheit. Selbst wenn einige in ihrer Filterblase das geahnt hatten, oder sogar Indizien präsentieren hätten können. Niemand hätte sich aus dem Fenster gelehnt, weil ein „CDU vor der absoluten Mehrheit“ in der Schlagzeile genau das Gegenteil bewirkt hätte. Angst vor der Mehrheit, Mitleid mit der FDP als „Korrektiv“, Stimmen für die AfD, weil die CDU ja eh die Katze im Sack hat, usw. Politik-Journalisten werden missbraucht und lassen sich missbrauchen, weil das Gefühl am „Puls der Macht“ zu sein, blind macht.

  • Hallo Herr Heiser,
    vielen Dank, ich finde es lobenswert, dass zumindest ein Journalist mal Selbstkritik äußert. Mich stört diese Umfrage-Hörigkeit schon spätestens seit 2002. Allerdings „das Kleingedruckte“, mit Verlaub: So wahnsinnig kleingedruckt ist ist das Kleingedruckte von Umfragen nicht! Es ist völlig klar, dass Umfragen nur sehr bedingt das tatsächliche Wahlverhalten abbilden. Viele Milieus sind unterrepräsentiert und am Telefon etwas sagen ist etwas anderes, als am Ende ein Kreuz bei der Wahl machen. Seit 2002 liegen die Umfrage-Institute jedes Mal kolossal daneben, das weiss doch inzwischen sogar jeder „Otto-Normal-Politikbeaobachter“. Also bitte: Das nächste Mal auf Inhalte konzentrieren und Regierungsoptionen etwas mehr von dem Demoskopen-Getue abkoppeln, am Ende entscheiden nicht Infratest, Forsa und Allensbach die Wahl, sondern der Wähler!

  • Ich glaube Sie machen die Unfähigkeit der Journalisten am falschen Punkt fest: es liegt einfach nicht, daran, dass Prognosen und Umfrageergebnisse zitiert wurden. (Die Umfragen aller Institute waren übrigens alle sehr genau) Sondern darin, dass niemand die Umfrageergebnisse in konkrete Szenarien übersetzt hat. Insbesondere hat sich keiner Gedanken gemacht, dass Umfragewerte von 5,0% für FDP wie AfD genaugenommen als 5,0 +/- 0,5 % zu verstehen sind. Und keiner hat realisiert, dass bei einem möglichen Wegfall von fast 15% der Wählerstimmen (FDP, AfD, Piraten …) aufgrund der 5%-Klausel eine absolute MEhrheit bereits mit 42,5% der Stimmen möglich ist.

  • Ihren Kommentar hier eingeben
    Sehr geehrter Herr Heiser,
    schön dass Sie und Ihre Kollegen endlich zur Einsicht kommen, dass die Berichterstattung in den letzten Monaten von einer Überheblichkeit der Journalisten im Allgemeinen geprägt war.
    Die Journalisten hätten sich mit den Wahlprogrammen und deren Hauptfiguren auseinader setzen müssen und nicht mit Belanglosigkeiten.
    Ich hoffe, dass man endlich begriffen hat, was Frau Merkel wirklich will. Lesen Sie dazu das Buch „Die Patin“, dann wissen Sie das diese Frau alles was uns lieb war kaputt machen wird und zwar ganz systematisch. Was Ihnen als Journalisten daraus entstehen kann, muss ich Ihnen nicht erzählen, vielleicht hat Frau Merkel bereits in die Meinungsäußerung eingegriffen?

  • „Ich bin davon überzeugt: Wir würden die Wahlberichterstattung auch mit Inhalten vollbekommen können.“

    Na dann tut es mal, und ihr werdet sehen, daß ihr gegen die herrschende Ideologie, die tatsächlich die Ideologie der Herrschenden ist. widerstehen müsst.

    Und schon seid ihr Partei in diesem Streit, und das wollt ihr nicht.

  • Lieber Sebastian Heiser,

    willkommen in der Realität, deren harten Boden bei dieser Wahl nicht nur die FDP kennengelernt hat. So ist das nunmal, wenn man im Inneren einer Seifenblase lebt, hoch über den Dingen schwebt und der Blick nach draußen schillernd und schön ist. Ich stelle auch dieses Mal wieder mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen fest, wie sehr das Platzen der eigenen „Filter-Bubble“ die Beteiligten trifft. Vielleicht sollten Sie – und dieser Rat gilt auch allen Politikern – sich einmal selbst und öfters ein eigenes Bild von der Realität besorgen und nicht nur auf gefilterte Komfortinformationen zurückgreifen. Aber wie sang Andrea Nahles doch so schön im Bundestag: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“. Sehen Sie: Genau das ist das Problem.

  • Ich möchte gar nicht so sehr auf den ersten Teil eingehen. Aber der letzte trifft den Nagel auf den Kopf.

    Noch niemals hat der Journalismus so versagt wie in diesem Wahlkampf. Noch niemals wurde er geschlossen von Skandalen gelenkt. Noch niemals hat er so wenig Information gebracht.

    Mit „mir war permanent schlecht“ ist die Situation schon nicht mehr treffend beschreibbar. Und direkt nach der Wahl wird es ja nicht bsser. Da gibt es Lobeshymnen überall da wird vom „Stolz der Partei“ geredet (nein nicht nur im BR, auch in SpOn), da wird munter weitr Wahlkampf für Mutti betrieben. Und dabei gibt es doch gar keine Wahl mehr.

    Ich bin ein Auslandsdeutscher, meine Hauptinformationsquelle sollten momentan deutsche Medien sein. Aber sie sind so grässlich, so parteiisch, so informationsarm. Wenn ich wissen will, was in Deutschland abgeht, muss ich internationale Publikationen lesen.

    Taz ist da nicht besser als Bild, Faz, Welt und Spiegel. Das Schlimme ist nur, dass ihr den Anspruch habt. Und doch nutzt ihr den Wahlkampf um eurer Wahlpartei mit einer 30 jahre alten „Affaire“ (doch eher seit 30 jahren öffentlich beekannte tatsache) den Dolch in dn Rücken zu rammen. Warum? Warum spilt ihr das verlogene und durchschaubare Spiel mit? Ist der Reizd er Leiche im Keller zu groß?

    • Sie haben mit Ihren zeilen den Nagel auf den Kopf getroffen,
      gegen eine solche Medienkampagne ist jeder der wirklich was
      für sein Land tun will chancenlos und das ist eigentliche
      Verwerfliche. Da sind alle demokraischen Strukturen gebrochen
      worden. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät.

    • Es geht nicht darum, dass die „Affäre“ seit 30 Jahren bekannt war, sondern darum, dass man sich nach 30 Jahren immer noch nicht davon distanziert hat. Und das von einem Menschen, der immer als erster „Rücktritt“ schreit. Frau Schavans Verfehlungen liegen gar noch länger zurück und dennoch…

  • Merkwürdiger Artikel, der sich, wie so oft, mehr um die Selbstverliebtheit und Selbstbeweihräucherung von Journalisten dreht. Niemand nimmt sie mehr ernst, Umfragen zeigen, dass die Deutschen Journalisten für korrupter halten als das Parlament! Viel tiefer kann ein Berufsstand nicht sinken.

    Die Idee des Zurücktretens von Journalisten begrüße ich. Sie haben immernoch am meisten Macht, wer nicht mitspielt von den Politikern wird gnadenlos fertig gemacht. Schön wäre es, wenn Journalisten bei Fehlern nicht, die die sie darauf hinweisen medial erledigen, sondern ihren Job aufgeben. Sie müssen sich immer klar machen was veröffentlich Worte anrichten können, das ist ein große Verantwortung. Wer der nicht gerecht wird muss zurücktreten.

    • So, Mike, und was bist du von Beruf, dass dir offenbar niemals irgendwelche Fehler unterlaufen?

      Oder trittst du konsequenterweise immer, wenn was schiefgeht, von deinem jeweils aktuellen Broterwerb zurück und suchst dir was ganz Neues?

      • Wie ich bereits in meinem Beitrag erwähnte: Journalisten haben im Land am meisten Macht von daher gelten auch andere Regeln für sie. Eben genau die Regeln, die sie auch allen anderen anlegen, nur an sich selbst nicht.
        Was ist denn schlimmer: Wenn ein Politiker einen Teppich auf Steuerzahlerkosten ins Land bringt oder wenn Journalisten gezielt einen Menschen mobben? Wenn Parteien gezielt ausgelassen werden in der Berichterstattung oder bewusst gepusht werden?
        Das richtet alles viel mehr schaden an als die meisten anderen Berufe anrichten können.

        Meistens sind es ja auch keine Fehler sondern bewusste Kampagnen. Wer die Pressefreiheit so extrem missbraucht, wie es in diesem Land Gang und Gäbe ist muss eben irgendwann auch mal Konsequenzen des Handelns tragen.

        • „Journalisten haben im Land am meisten Macht“? Ich glaube, wir leben in verschiedenen Ländern. Die meiste Macht haben in diesem Land immer noch die Banken und Arbeitgeberverbände, aber bestimmt nicht Journalisten. Und für die sollten deiner Meinung nach also „andere Regeln“ gelten, sprich: Sie dürfen sich keinen Fehlgriff leisten, sonst müssen sie sofort abtreten? Also, nur damit ich das richtig verstehe: Deiner Ansicht zufolge dürfen sich alle anderen Berufsgruppen mehr Fehler erlauben, also Ärzte, Bauingenieure, Chemiker …?

          Wenn du dich gegen Journalisten wenden willst, die „gezielt einen Menschen mobben“, dann habe ich nichts dagegen – nur wärst du dann in den Kommentarspalten der Springerblätter weitaus besser aufgehoben. Auch was Kampagnen oder gezielte Auslassungen oder Gepushe angeht. Ach, was verschwende ich meine Zeit – was du hier verbreitest, ist bloße Verschwörungsrhetorik, lieber Mike. Wenn Journalisten also nur Schaden anrichten, dann bestell deine Zeitung ab und lies am besten gleich die Pressemitteilungen der Regierung, da steht alles drin, was du für deine politische Meinungsbildung brauchst.

  • Och Ihr habt noch einiges mehr vergeigt. Alleine wie man im Pressekollektiv den Außenminister gar nicht mehr hat stattfinden lassen. Wie man lieber die AfD als Euro-Gegener positioniert hatte, anstatt ständig darauf hinzuweisen, wie unglaublich weit braun und rechts die denken. Wie Ihr kein bisschen darauf eingegangen seid, welche Wahlversprechen der CDU nicht eingehalten wurden – was fast alle waren.

    Ich habe mich in einem Wahlkampf selten so geekelt, wie dieses Mal. Daran ist nicht nur Brüderle schuld. Die Presse trägt ein sehr großes Maß daran.

  • Moment. Es haben also fast alle Journalisten vorhergesagt, dass es keine absolute Mehrheit geben wird.

    Dann ist dieser Fall eingetreten, und nun sollen die Journalisten „zurücktreten“?

    Ich glaube, Sie haben eine verquere Vorstellung vom Job des Journalisten. Es geht nicht um einen Wettbewerb, bei dem der gewinnt, der die Wahl am genauesten vorhersagt. Das ist der Job von Meinungsforschungsinstituten.

    • Die Institute haben Stimmungsbilder erhoben. Es waren die Journalisten, die aus diesen Stimmungsbildern dann Vorhersagen für den Wahltag abgeleitet haben und diese Vorhersagen zur Wahrheit erklärt haben. Es ist der Job von Journalisten, die Dinge richtig zu beschreiben und sich dabei auf zuverlässige Quellen zu stützen. Die Institute weisen, wenn man es genau liest, auch korrekt aus, was sie machen. Infratest dimap zum Beispiel: „Die Sonntagsfrage misst aktuelle Wahlneigungen und nicht tatsächliches Wahlverhalten. Sie ermittelt damit gleichsam einen Zwischenstand im Meinungsbildungsprozess der Wahlbevölkerung, der erst am Wahlsonntag abgeschlossen ist. Rückschlüsse auf den Wahlausgang sind damit nur bedingt möglich.“ Die Journalisten dachten, sie könnten das, was die Institute nicht können, nämlich Rückschlüsse auf den Wahlausgang zu ziehen. Das geht nicht, das sollten wir bleiben lassen.

  • Die gespielte Zerknirschtheit und aufgesetzte Selbstkritik des Herrn Heisers, die bei genauerer Betrachtung doch nur schlecht kaschierte Eitelkeit ist, in allen Ehren: Aber wovon bitte sollen Journalisten zurücktreten? Von welchem Amt? Wurden sie gewählt? Von wem? Und warum ist es dramatisch, dass Politikjournalisten den Ausgang der Wahl nicht vorhersehen konnten? Hat irgendjemand erwartet, dass Leute, die den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen in die Köpfe der Wähler blicken können? Richtig witzig wird es aber wenn Herr Heiser formuliert, er hätte den Anspruch die Wahrheit zu kennen? Gesegnet sei der, der von solch Selbstbewusstsein beseelt ist. Der letzte, den ich kenne, der den Anspruch hatte die Wahrheit zu kennen, war mein Staatsbürgerkundelehrer in der DDR. In einem kann ich Herrn Heiser aber beruhigen: Zu keinem Zeitpunkt hat er den Lesern etwas vorgemacht. Kein Mensch dürfte sich daran stören, wenn „hauptberufliche Politikbeobachter“ danebenliegen und dass uns Herr Heiser oder Kollgen die Politik erklären, hat wohl keiner erwartet. Zumindest die, die wissen, dass „Politikbeobachtung“ darin besteht, die Zahlen der Umfrageinstitute zu kommentieren und sich ab und zu mit einem Abgeordneten auf einen Kaffee zu treffen. Eine Frage hätte ich aber noch: Wie hätten denn die verhinderten Hellseher in den Redaktionsstuben die Zahlen der Umfrageinstitute überprüfen sollen? Selbst noch mal bei den Leuten anrufen? Bleibt die Frage: soll man über so einen Text schmunzeln oder staunenn, mit welcher Chuzpe mancher Schreiber seinen Größenwahn in Demut kleidet.

  • Schön ist, dass die Wahlen doch überraschen. Dieses Mal lagen die Umfragen – das lässt sich gerade schön auf Sp.On. ablesen – gerade mal bei zweien der sechs relevanten Parteien noch grob zutreffend, während das Ergebnis der vier anderen Parteien in keiner einzigen Umfrage vorher gesehen wurde. Dabei sind die Union und die AfD nach oben, die Grünen und die FDP nach unten abgewichen bzw. heraus gefallen – nicht viel, manchmal geht es nur um Prozentpunkte nach dem Komma, aber im Fall der FDP z. B. entscheidende Prozentpunkte, und zur absoluten Mehrheit für Merkel haben auch nur Nachkommastellen gefehlt, bezogen auf beide Lager. Da fragt man sich schon, weshalb die politische Fantasie der Medien im Vorfeld so begrenzt ist bzw. sie sich von Umfragen so begrenzen lässt. Damit bekommen die viel mehr Einfluss und Gewicht.

  • „Aber wie sonst sollen wir in Zukunft dann bloß die ganzen Seiten und Sendezeiten vor einer Wahl füllen?“ Gute Frage. Man könnte beispielsweise einen fairen Anteil dieser Seiten und Sendezeiten der Piratenpartei widmen, statt sie totzuschweigen und/oder der Öffentlichkeit weißzumachen versuchen, sie habe nicht einmal zum NSA-Skandal irgendwas Relevantes beizutragen.

    Wäre so ein Anfang.

    Man könnte beispielsweise darüber berichten, dass sie deswegen keine gelackten PR-Experten und durchgestylten Profipressesprecher besitzt, weil ihr Wahlkampfbudget nur ein Zehntel so groß ist wie die Summe von vier Millionen Euro, die von der AfD mal als unterste Untergrenze genannt wurde, unter der man gar nicht erst anzufangen brauche.

    Man könnte die Hintermänner der AfD aufdecken, die dieses Geld so spendabel rausrücken, und das Publikum sich seinen Teil denken lassen, warum die das wohl tun

    Man könnte auch mal, wo wir beim Thema Europa sind, klarstellen, dass die Zerschlagung des Euro der aller-aller-allersicherste Weg wäre, zum einen Deutschland in eine Riesenkrise zu stürzen (weil Binnenmarkt haben wir ja nicht, weil die Altparteien, Rot-Grün allen voran, Deutschland ja zum größten Billiglohnland weit und breit umbgebaut haben, und zwei Drittel oder so der Exportmärkte würden unweigerlich sofort kollabieren bei der Euro-Abspaltung, weil sich die Südländer unsere Exportprodukte schlicht nicht mehr leisten könnten.)

    Und man könnte veranschaulichen, dass eine Zerschlagung des Euro zugleich auch der absolut sicherste Weg wäre zu garantieren, dass „wir“ wirklich auf absolut gar keinen Fall mehr irgend etwas, auch nicht den kleinsten Bruchteil, von dem ganzen „Geld“ wieder bekommen würden, um das sich die AfD und ihre Anhänger so große Sorgen machen. Weil die Schuldner in Südeuropa würden ja dann sofort diese Gelegenheit dankbar nutzen und ihr EIGENTLICHES Problem, das Produktivitätsdefizit gegenüber Deutschland, dann auf die einfachste Art und Weise lösen: Durch eine Währungsabwertung. Und dann wäre das Produktivitätsdefizit IMMER noch nicht aufgeholt und würde es auch nie und diese Schulden KÖNNEN sie ja letztlich nur durch Güter begleichen, weil Geld ist ja nun mal eine Fiktion, wie jeder weiß, der beim Professor Flassbeck ein klein wenig aufgepasst hat.

    Alles Dinge, die in deutschen Medien noch nicht besprochen wurden. Weil oh Gott, dann müsste man ja eingestehen, dass womöglich sogar das heilige Deutschland in Europa mal irgendwas falsch gemacht hat.

    Oder mal verdeutlichen, dass mit einer PLeite der Südländer und ihrer Banken direkt auch unsere Renten komplett futsch wären.

    Geschweige denn mal die Lösung anreißen: Heftige Lohnzuwächse über Jahre und Jahrzehnte in Deutschland, baldmöglichst, und zumindest für die nächsten Jahre DEUTLICH oberhalb des Produktivitätswachstums.

    Aber das ist ja alles kompliziert und überhaupt waren wir bei der Berichterstattung über deutsche Parteien und verdeckte Parteienfinanzierung. Da könnte man seinem geneigten Publikum mal von den Mandatsträgerabgaben der Altparteien erzählen, und wie sehr dieses System dem Schutzgeld der Mafia ähnelt. Und dass es bei den Piraten auch deswegen so stark klemmt, finanziell, weil sie sich auch dieser sonst in der deutschen Parteienlandschaft so wohlfeilen Geldquelle verweigern. UND dem ganzen Lobbyquatsch, der jetzt so dringend neue Abnehmer sucht, nachdem die FDP ja Gottseidank abgemeldet wurde.

    Reicht ersma? Ich hätte noch ein paar Themenvorschläge, sonst.

    PS den eigentlichen Artikel, so mit „wir sollten alle zurücktreten“, fand ich echt groß.

  • Das ist ja gerade das spannende an der Wahl! Dass keiner weiß, wie sie ausgeht! Wüsste man das vorher und könnte sich auf die Verhorsagen, Befragungen und Demoskopen verlassen, bräuchte man gar nicht mehr wählen. Und deshalb haben Sie alles richtig gemacht. Der Wähler hat auch alles richtig gemacht. Nur eine Gruppierung sagt uns nie die Wahrheit: die Politiker!

    • „alles richtig gemacht“ kann ich so wirklich nicht sehen. Genau der formulierte Ansatz, die Nachrichten lieber mit Substanz zu den Parteien, Hintergründen, Personen und v.a. auch einer ordentlich Aufarbeitung und Einordnung der Wahlversprechen/Programmziele der einzelnen Parteien zu füllen, wäre doch viel sinnvoller. Dummes Gewäsch über den Stinkefinger eines SPD-Spizenkandidaten, die „gefühlte Unfähigkeit“ einer Piratenpartei oder die „gefährliche Rechtsausrichtung“ einer AfD hilft nicht weiter. Ich habe im Vorfeld der Wahl viel Zeit damit verbracht mit Freunden Konzepte aus diversen Parteiprogrammen wie z.B. die verschiedenen Mindestlohn-Modelle oder das BGE zu diskutieren und da merkt man schnell, dass hier kaum jemand weiß, wovon er spricht – aber genau zu solchen konkreten Themen war ja auch leider nirgendwo was halbwegs substanzielles zu lesen/hören/sehen.

  • Außerdem bitte Hans-Ulrich Jörges ausnehmen. Hans-Ulrich Jörges hat immer recht. Und wenn nicht, dann hat sich die Realität getäuscht.

  • Ich empfehle Ihnen den Aufmacher der Süddeutschen Zeitung vom 21. September. Dort wird die Option absolute Mehrheit für die Union genannt. Ich fürchte, mit diesem Artikel haben Sie die eigene Unfähigkeit für gute Recherche bewiesen.

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