Von Sebastian Heiser
Wir Politikjournalisten müssten jetzt eigentlich geschlossen zurücktreten. Zumindest dann, wenn wir – ausnahmsweise – einmal die Maßstäbe an uns anlegen, nach denen wir die Politiker bewerten. Dann müssten wir zum Ergebnis kommen: Wir haben versagt. Wir können es einfach nicht. Wir haben unsere Leser, Hörer und Zuschauer getäuscht.
Die Union hat am Sonntag eine absolute Mehrheit im Bundestag nur knapp verfehlt. Niemand von uns hat das vorher auch nur für denkbar gehalten. Aber fünf Abgeordnete mehr für CDU und CSU, dann wäre es so gekommen. Fünf Abgeordnete von 630. Wir haben unseren Lesern vor der Wahl alle zu erwartenden Optionen des Wahlergebnisses vorgestellt – manche kamen auf sieben, andere auf acht. Wir beleuchteten sogar die Option einer Minderheitenregierung, die sich auf keine feste parlamentarische Mehrheit stützen kann (FAZ vom 7. März 2013, Seite 8, nicht online).
Eine absolute Mehrheit hatte niemand auf dem Schirm. Viele von uns haben sie sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Das klang dann so: „Wunder wie eine absolute Mehrheit von CDU/CSU oder SPD wird es nicht geben.“ Oder so: „Denn keine Partei wird die absolute Mehrheit erringen.“ Wir Journalisten waren uns wirklich ganz sicher: „Die Frage ist eigentlich nur noch, ob Kanzlerin Angela Merkel mit der FDP weiterregieren kann – oder die SPD in eine große Koalition einsteigen muss.“ Sogar noch in der Woche vor der Wahl schrieben wir, die SPD müsse „nicht fürchten, dass die [schwarz-gelbe] Koalition wegen einer absoluten Mehrheit der Union ein Ende findet“. Noch ein Beispiel gefällig? „Zwar steht eine absolute Mehrheit der Union nicht ins Haus.“
Es ist gar nicht wichtig, welcher Kollege das jeweils in welchem Medium geschrieben hat. Wir alle haben es gleichermaßen vergeigt, in der taz genauso wie überall anders auch. Wir Politikbeobachter und -erklärer haben unserem Publikum vorgemacht, dass wir etwas von unserem Beruf verstehen würden. Und jetzt kann jeder sehen: Der Kaiser ist nackt!
Deshalb sollten wir alle zurücktreten. Und wenn schon nicht von unserem Job, dann zumindest von unserem Anspruch, die Wahrheit zu kennen.
Na gut, könnte man sagen, wir haben doch nur das weitergetragen, das die Demoskopen uns an Zahlen geliefert haben. Warum soll der Bote die Schuld tragen? Ganz einfach: Weil es verdammt noch mal unsere Pflicht ist, zu überprüfen, was wir weitergeben. Im Kleingedruckten hätten wir dann überall solche Hinweise gefunden wie bei Infratest Dimap: „Die Sonntagsfrage misst aktuelle Wahlneigungen und nicht tatsächliches Wahlverhalten. Sie ermittelt damit gleichsam einen Zwischenstand im Meinungsbildungsprozess der Wahlbevölkerung, der erst am Wahlsonntag abgeschlossen ist. Rückschlüsse auf den Wahlausgang sind damit nur bedingt möglich.”
Wir haben Stimmungsbilder aus der Vergangenheit genommen und damit Prognosen für die Zukunft gemacht. Wir haben so getan, als ob es sich dabei um die absolute Wahrheit handelt. Am Sonntagabend hat uns dann per Eilmeldung die wirkliche Wahrheit erreicht: Man kann Wahlen nicht vorhersagen. Wir können es nicht. Die Demoskopen können es auch nicht. Niemand kann es. Wir sollten aufhören, unseren Lesern so etwas vorzumachen.
Aber wie sonst sollten dann dann die ganzen Seiten und Sendezeiten vor einer Wahl füllen? Irgendetwas müssten wir ja dann stattdessen berichten …
Bisher haben wir einen guten Teil dieses Platzes für Sportberichterstattung genutzt: Wer liegt gerade vorne, wer holt jetzt mächtig auf, wer ist in ein Fettnäpfchen getreten? Und nebenbei haben wir noch Haltungsnoten für die Teams und ihre Spieler verteilet. Wie wäre es, wenn das bleiben lassen und uns in Zukunft auf die handelnden Personen und ihre Programme konzentrieren: Was sind das für Leute, wo kommen sie her, was treibt sie an? Und was bedeuten ihre Forderungen, was würde sich dadurch ändern, wer profitiert, wer zahlt drauf, und ist das überhaupt sinnvoll?
Ich bin davon überzeugt: Wir würden die Wahlberichterstattung auch mit Inhalten vollbekommen können. Und damit würden wir auf jeden Fall mehr über die reale Realität berichten als mit diesem Prognosenhokuspokus.
Sebastian Heiser ist Redakteur im Berlin-Ressort der taz und schreibt dort über Landespolitik. Er bereut inzwischen zum Beispiel diesen Artikel.
Foto: Bundestag
[…] die eigene Arbeit zu reflektieren. Im Falle der taz fällt das Resümee eher ungnädig aus: “Warum wir Journalisten zurücktreten sollten”, betitelt Sebastian Heiser seinen Beitrag – und hat darauf auch eine probate Antwort: Eine […]