von 12.04.2011

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Markus Kirste aus Karlsruhe schreibt uns zu dem Kommentar “Steigbügelhalter der Anarchie” von unserem Zentralasien-Korrespondenten Marcus Bensmann:

Es verwundert mich immer wieder, wie der Begriff „Anarchie“ in den Medien falsch verwendet wird. Ob im Zusammenhang mit sogenannten Naturkatastrophen oder bei politischen Ereignissen. Anarchie heißt verkürzt: „Ordnung ohne Herrschaft“ und nicht „Chaos und Verderben“. Schmerzlich, dass auch die taz den Begriff Anarchie immer wieder in ähnlich diskreditierender oder oberflächlicherWeise benutzt, wie viele ihrer journalistischen Mitbewerber. Wäre in Kasachstan wirklich die Anarchie ausgebrochen, würde Ihr Kommentator das vermutlich gar nicht bemerken. Vielleicht ist Marcus Bensmann ja nur ein Steigbügelhalter des Kapitalismus?

Marcus Bensmann antwortet:

In Zentralasien dient die Staatsmacht vor allem der Willkürherrschaft der dortigen Despoten. In Kirgisien aber wurde 2005 und 2010 der jeweilige Präsident verjagt. Eine Erosion der Staatsmacht setzte ein. Kirgisien hat zwar heute eine Präsidentin, Parlament, Richter und Polizisten, aber diese sind jedweder Autorität und damit ihrer eigentlichen Funktion beraubt. „ANARCHIE existiert, wenn es keinen Senat, kein Recht und kein Gesetz gibt“, zitiert Wikipedia das „Lexicon Philosophicon“ aus dem 17. Jahrhundert. Nach dieser Definition beschreibt das aus dem Altgriechischen stammendeWort für „ohne Herrscher“ den Zustand in Kirgisien recht treffend. Allerdings führte es dort nicht zu mehr Freiheit, wie es der utopische Anarchismus erwartet und in einigen indigenen Gesellschaften vielleicht gelebt wird, sondern Klanführer und ein entfesselter Mob wüten im Gefühl der völligen Sanktionslosigkeit. Damit gilt für Kirgisien die Schlussfolgerung des „Lexicon Philosophicon“: „Anarchie ist von größerem Übel als die Tyrannei.“

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kommentare

  • > „Lexicon Philosophicon“ aus dem 17. Jahrhundert …
    Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich. Zitiert doch mal den ehrbaren Martin Luther über Behinderte, Juden und die Bauern. Damit könnt Ihr dann Euthanasie, den Holocaust, und Diktatur begründen und rechtfertigen.
    Ist ja nicht so, als wüsstet Ihr es nicht besser, Ihr beteiligt Euch halt einfach an der Hetze mittels Verdrehung und Falschdarstellung gegen jeden, der die bestehenden Verhältnisse nicht toll findet. Auf die Art hat Hitler den Mord an tausenden Menschen gerechtfertigt, und Stalin auch, da seid Ihr in guter Tradition.

  • Links und Anarchie>
    Anarchisten (etwa: graswurzelrevolution) würden sich auf Nachfrage wohl als ‘links’ bezeichnen. Wer sich sonst noch als ‘links’ sieht, hat hingegen von anarchistischem Denken meist nichtmal ne entfernte Ahnung. Diese Assymmetrie liegt einem Projekt wie der Taz ebenso zugrunde wie den meisten ‘Bewegungen’, seien sie nun eher links gefärbt (Anti-Pershing?) oder eher quer durchs philosophische Spektrum (Anti-AKW?). Und eigentlich sagt ja alles der direkte Weg vom ‘alternativen’ Anspruch der 70er Jahre stantepede hinein in Staatsknete und Institutionen> Heute noch gibt es ‘soziokulturelle Projekte’, die nix anderes sind als mit z.B. städtischer Kohle finanzierte private Arbeitsplätze, mithin selbstbestimmtes Arbeiten auf Steuerzahlers Kosten [mit zum Teil ja durchaus sinnvollen Angeboten und Inhalten]. Da kannste Staatsferne – und sei es nur jene im Geiste – natürlich lange suchen…

  • Die TAZ zeigt sich doch ständig bewusst ignorant gegen den Anarchismus. Wir haben es nicht nötig bei diesen Leuten betteln zu gehn.

    Taz. Da weiß man was man hat!

    Ein Anarchist

  • Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch die patriarchale Herrschaft, die eine grundlegende Ursache “anomischer” Gewaltexzesse ist. Geht es nicht fast ausschließlich um Männergewalt? Ohne Patriarchat verliert der Hobbessche Naturzustand viel von seiner Bedrohlichkeit. Ähnliches gilt für Rassismus und Kapitalismus…
    Der Staat stellt sich zwar gerne als Alleinherrscher mit Gewaltmonopol dar, erfüllt diesen Anspruch aber offensichtlich nicht, weshalb eine staatenlose Gesellschaft nicht zwangsläufig anarchisch oder anarchistisch ist. Eine anarchistische Gesellschaft würde ich als eine solche sehen, die über Institutionen verfügt, die das Aufkommen von Herrschaft (zumindest in der Mehrheit der Fälle) verhindern können.

  • Eine anarchistische Gesellschaft ist, wie eine kommunistische, solange nicht möglich, wie wir humanoiden Primaten nicht bestimmte Säugetierreflexe und Bewusstseinsstrukturen überwunden haben (v.a. Egoismus, Gier, Machtstreben / -verteidigung). Ansonsten wird uns immer jemand ausbeuten, umbringen, bescheissen, vergiften usw. und so fort … Aber das gefällt der Krone der Schöpfung ja auch so. Den Planeten zerstören, uns selbst – alles nur, um noch mehr zu konsumieren, um noch mehr aufs Konto zu packen. Lasst uns nur so weitermachen – mein Wunsch: bitte noch hardcoremässiger, damits schneller rumgeht …

  • Und hier noch eine selektive Textstelle aus genanntem Wikipedia Artikel:

    “Schon im 18. Jahrhundert wurde Anarchie in Lexika zur Beschreibung einer nicht deutlich ablehnend gewerteten Urform von vorstaatlicher Gemeinschaft und Gesellschaft herangezogen. Immanuel Kant definierte Anarchie als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“.”

    Es ist nicht peinlich einen Fehler zu machen. Peinlich ist es ihn nicht zuzugeben.

  • bitte auch zu unterscheiden zwischen
    Anarchie = anarchisch
    und
    Anarchie = anarchistisch

    “Zustände” sind wohl eher als anarchisch zu bezeichnen
    was – auch – positiv besetzt sein kann. Woodstock hat funktioniert (hat es ?)

    eine anarchische Einstellung: siehe Spaßguerrilla, siehe Fritz Teufel, siehe aber auch freie Schule. Siehe Bundschuh ebenso wie Wutbürger.

    eine anarchsiche Handlungsweise kann einem freien Geist entspringen, ebenso lässt sich mit dem Begriff aber ein aus dem Ruder laufendes Organsiationschaos infolge gutgemeinter aber im Kontext sinn-loser “organisatoischer” Aktivitäten beschreiben – im schlimmsten Falle sowas wie die fehlgeleitete Absperraktion bei der Love-Parade …

    anarchistisch hingegen der dtsch. oder polnische Bombenleger im Chikago des 19. Jhdts (Versuche zum Sturz der Macht durch, eben, Chaos) ebenso wie die Pazifisten von Graswurzelrevolution.

    Nicht anarchsitisch, weder nach eigenem Verständnis noch nach dem politischer Anarchisten oder jenem ernstzunehmender Geschicktsschreibung hingegen die von der Bundespresse andauernd so etikettierten RAF etc.

  • wenn schon wikipedia bemüht wird

    “Der Begriff Anarchie (altgr. ἀναρχία anarchía ‚Herrschaftslosigkeit‘; Wortbildung aus verneinendem Alpha privativum und ἀρχία archía ‚Herrschaft‘) bezeichnet einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft.”

    also eine abwesenheit von herrschaft und nicht abwesenheit von einem herrscher… was wohl einen großen unterschied macht!

    bzw.

    “Allen obigen Anarchien gemeinsam ist per Definition die Abwesenheit von Herrschaft, die als repressiver Modus von Macht verstanden werden kann.[1] Demnach sind bestimmte Machtverhältnisse wie die Beeinflussung durch freiwillig angenommene Autoritäten (Mentoren, Trainer, Berater, etc.) mit Anarchie vereinbar, werden aber nicht durch Repression erzwungen.werden aber nicht durch Repression erzwungen. ”

    aha ohne repression, freiwillig angenommen… wie genau machen das die klanführer denn so wenn sie ihre “anarchie” verbreiten ;)?

    anomie, wie weiter oben angeführt, ist wohl eher zutreffend!

  • “Landläufig wird Anarchie auch mit einem durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingten Zustand gesellschaftlicher Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit beschrieben und vor allem in den Medien häufig im Schlagwort „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die exakte Bezeichnung für diesen Zustand ist Anomie.”

    Das steht doch explizit so drin.

    Und wie es KlanFÜHRER ohne Herrschaft geben soll, das verstehe ich auch nicht so ganz.

  • Ich unterstütze auch die Definition von Herrn Kirste. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass es eben diese andere(n) Definition(en) auch gibt. Im Sinne von Herrn Kirste möchte ich daher sagen: Es wäre wünschenswert, wenn die jeweiligen JournalistInnen deshalb näher darauf eingingen, in welchem Sinn sie eine Situation als anarchistisch betrachten. Entgegen manch anderen JournalistInnen, würde ich denen der TAZ das auch zu trauen. Vielleicht wird ja auch Herr Bensmann dies demnächst berücksichtigen. Ich lasse mich gerne positiv überraschen.

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