Die taz hat zwei Abonnenten auf der Insel Langeoog, einer von ihnen ist Lothar Redmann. Den nächtlichen Weg der Zeitung von der Druckerei bis zu seinem Briefkasten hat David Denk verfolgt.
Dienstag, 18.29 Uhr: Wenn ich nach links gucke, blicke ich in die Zukunft, sehe mich selbst in acht Stunden – oder in zehn: Mein Sitznachbar in der S-Bahn von Hamburg-Altona nach Pinneberg nickt immer wieder weg; sein Kopf fällt ihm auf die Brust und pendelt von links nach rechts und wieder zurück. Er muss einen langen Tag gehabt haben.
Vor uns liegt eine lange Nacht: Wir wollen den Weg einer taz verfolgen – von der Druckerei in Pinneberg bis zu Lothar Redmann, einem von zwei taz-Abonnenten auf Langeoog. Am nächsten Morgen, halb acht, werden die taz und wir mit der ersten Fähre auf der Ostfriesischen Insel ankommen – wenn alles gut geht.
19.05 Uhr: Sechs Tage die Woche werden bei A. Beig in Pinneberg je rund 20.000 Exemplare der taz Nord gedruckt. Druckkundenbetreuerin Christiane Rödel führt uns durch die Anlage: Es riecht nach Farbe und Maschinenöl. Die MAN Colorman XXL rattert ohrenbetäubend, wir haben Schwierigkeiten, Frau Rödels Ausführungen zu folgen. Das könnte allerdings auch an unserer mangelnden Erfahrung mit „Falztrichtern“, „Strangpaketen“ und „Schneidzylindern“ liegen. Wer für eine Zeitung schreibt und fotografiert, weiß eben längst nicht immer auch, wie die elektronisch übermittelten Daten aufs Papier kommen. Und noch weniger, wie die Zeitung dann zum Leser kommt. Deswegen sind wir hier.
20.11 Uhr: Ibrahim Kunuk ist das erste Glied der Vertriebskette. Auch wenn er kurzfristig für einen erkrankten Kollegen eingesprungen ist, kennt er die Tour gut: Früher ist er sie regelmäßig gefahren. Mit geschätzten 250 Kilogramm taz hinten im Sprinter – die Zahl der Exemplare ist für ihn irrelevant – geht es in Richtung Bremen. Elbtunnel. A 7. A 261. A 1. Kunuk lüftet ausgiebig – weil er beim Fahren raucht und es jedes Mal nach etwa einer Stunde Fahrtzeit aus der Dunkelheit penetrant nach Schlachthof stinkt. „Vitakraft grüßt alle Tierfreunde“, steht auf einer Fassade.
Bremen. Über den gottverlassenen Parkplatz eines Real-Supermarkts und vorbei an der Freien Evangelischen Bekenntnisschule steuert Kunuk auf den dunklen Hof der Zeitschriften-Handelsgesellschaft Müller & Schultz, wo er die ersten Pakete auslädt. Die Süddeutsche ist schon da.
22.10 Uhr: Nachdem er auf dem Postgelände am Bremer Flughafen noch einige Pakete mit Aboexemplaren abgelegt hat, trennt sich Ibrahim Kunuk auf einem Parkplatz von einem großen Teil seiner Ladung. Und von uns. Gegen halb elf soll uns hier der nächste Fahrer aufnehmen. Im Erdgeschoss des Gebäudes hinter uns sitzen zwei Leute Schreibtischen und wundern sich gar nicht, wer da vor ihrem Bürofenster rumspukt. Sie könnten uns allerdings ruhig eine Tasse Kaffee anbieten – uns ist nämlich kalt.
22.37 Uhr: Ein Mercedes-Kombi biegt auf den Parkplatz. Ein Kombi? Reicht das denn? Als Ralf Rüdebusch dann aber betont lässig wendet und mit dem Heck an die Rampe heranfährt, ist die Erleichterung groß – und dann bietet er auch noch an, in Oldenburg bei McDonalds zu halten. Er selbst esse da ja nicht mehr: „Ich habe es eine Zeit lang nachts übertrieben mit dem Scheiß, wog 130 Kilo.“ Bevor wir einsteigen können, muss Rüdebusch noch seine Hantel vom Beifahrersitz nehmen. „Ohne ist mir immer so langweilig“, sagt er.
Seit 1988 fährt er die taz und ist stolz darauf, dass sie „nicht einen Tag liegen geblieben“ sei. Für die Spedition Dekker, spezialisiert auf Pressevertrieb, und ihren 87-jährigen Chef plant er tagsüber die Touren. Und sitzt trotzdem jede Nacht selbst im Auto, „weil ich wissen muss, was so läuft“. Ein einziges Privileg gönnt er sich: die kürzeste Tour von allen. Mit 220 Stundenkilometern und zwei Fingern am Lenkrad schießt Rüdebusch den Kombi zu zwei Umschlagplätzen in Oldenburg und von da aus weiter nach Wilhelmshaven. Es ist kurz nach halb eins.
Mittwoch, 1.05 Uhr: In dieser Nacht bleibt Lothar Redmanns taz lange beim, so Rüdebusch, „wie Fort Knox gesicherten“ Pressegrossisten Friesenpresse liegen, weil die Bild auf sich warten lässt: Die Fußballergebnisse vom Abend mussten noch in die Zeitung. „Und ohne die Bild brauchen wir gar nicht beim Kunden aufzutauchen“, sagt Thomas Klingenberg, Abteilungsleiter Technik bei dem Pressegroßhändler, einem Monopolisten in seiner Region, wie fas überall in Deutschland. Klingenberg ist extra für uns nachts noch mal ins Büro gekommen und kocht Kaffee. Zu tun gibt es wenig für ihn: Den Nachtdienst schmeißt Schichtleiter Reinhard Hechler, der die Zeitungen in Empfang nimmt. Wie die elf Fahrer ist er bei einem Subunternehmer angestellt. Hinzu kommen bei der Friesenpresse 80 Festangestellte.
Tour 25 rund um Wittmund und Esens fährt in dieser Nacht Fredy Tholn, der ebenfalls für seinen Chef, im Hauptberuf Steuerberater, die Touren disponiert, aber auch sieben Tage die Woche selbst auf dem Bock sitzt, „weil wir nicht genug Personal haben, um nur fünf Tage zu fahren und ich mir das auch nicht leisten könnte“. Wie viel er verdient, will Tholn nicht verraten. Am Aero, einem intelligenten Regalsystem, kommissioniert er die Zeitungen für seine Tour: Ein Display zeigt ihm an, wie viele Exemplare eines Titels der jeweilige Kunde bekommt und in welchem Fach sie abzulegen sind. Als um um kurz vor halb drei endlich die Bild-Zeitung eintrifft, muss Tholn sich beeilen, um auch rechtzeitig am Fähranleger in Bensersiel anzukommen.
3.50 Uhr: Tholn stoppt beim Spar-Markt Burger in Burhafe. Für die meisten seiner 75 Kunden hat er Schlüssel – zumindest für den Vorraum, wo er die Lieferung einsperrt. Oder das Klo. Mit an Bord ist auch die Zeitung für Lothar Redmann, der sie nicht wie sonst in ländlichen Gebieten üblich per Post bekommt, sondern vom selben Austräger, der auch insgesamt 19 Verkaufsstellen auf Langeoog beliefert – mit dem Fahrrad. Zehn taz-Exemplare gehen an diesem Tag auf die Insel, in der Saison sind es bis zu 30.
Aldi. Bäckerei. Netto. Tankstelle. Lidl. Kiosk. So geht das die nächsten zwei Stunden. Während Tholn sich abrackert, fallen uns die Köpfe auf die Brust, pendeln nach links und rechts und wieder zurück.
5.53 Uhr: Die Fotografin kann kaum ihre Kamera halten, als wir am Fähranleger in Bensersiel aus dem Auto stolpern. Tholn deponiert die für die Insel bestimmten Zeitungen in einem Anhänger und muss gleich wieder los. Wegen der Verspätung der Bild musste er seine Tour umstellen, sodass er jetzt noch einige Kunden zu beliefern hat. Und die wollen ihre Zeitungen haben, bevor sie den Laden aufsperren. In einem ansonsten menschenleeren Aufenthaltsraum warten wir auf die erste Fähre um 6.45 Uhr.
7.30 Uhr: Lothar Redmann erwartet uns am Bahnhof Langeoog. Nur wir sind nicht da. Ein Missverständnis: Wir dachten, er würde uns am Anleger abholen. Deswegen sitzen wir erst verspätet und nach einem unfreiwilligen Erkundungsspaziergang bei grünem Tee und selbst gebackenem Brot in seinem Wohnzimmer. 1974 kam der heute 66-Jährige auf die Insel, als Lehrer. Seit seiner Pensionierung vor sechs Jahren engagiert er sich verstärkt politisch: Für die SPD sitzt er seit 2006 im Rat der Inselgemeinde und wurde zum Schiedsmann gewählt. „Dabei gehöre ich noch nicht mal zur Ratsmehrheit“ – ein schöner Vertrauensbeweis, findet Redmann.
taz-Abonnent ist Redmann, der sich selbst für „in manchen Dingen ein wenig solitär“ hält, übrigens erst seit etwa einem halben Jahr. An seiner Zeitung schätzt er die „orginale, eigenständige, reflektierte Art“, andere Medien kämen ihm immer „seltsam gleichgeschaltet“ vor, sagt er. Trotz seiner Pensionierung hat Redmann fast immer zu wenig Zeit, sie auch zu lesen: „Ich habe im Kern eigentlich nichts zu tun“, sagt er, „und deswegen umso mehr.“ Auch an diesem Tag wird er vorerst nur fürs Foto reingucken: Später will er nämlich noch seine Tochter besuchen. Auf dem Festland.
David Denk arbeitet in der Medienredaktion der taz. In dieser Woche der freundlichen Übernahme gehörte er zur Leitung der taz Nord.
[…] unsere drei Druckereien wollten 4 Millionen Euro von uns. Die Spediteure und Zusteller, die die taz Nacht für Nacht zu unseren Abonnenten und zu den Kiosken transportieren, wollten 5,7 Millionen Euro. Noch teurer ist, was wir taz-Mitarbeiter selbst wollten: Für […]