Die besten Hausmeister und Aushilfshausmeister gibt es glaube ich in Tschechien. Sie sind dort zwar noch unwilliger als hier, wenn es gilt, Reparaturen durchzuführen, dafür hängt ihnen noch die alte österreichische Tradition nach: Damals saßen die Hauswarte in den Mietshäusern und Versicherungen in einer Art gläserner Conciergerie, von wo aus sie den Hausbewohnern und – besuchern vor allem moralisch dienten – ob diese das nun wollten oder nicht. Sie waren so nicht selten vorgeschobene Posten der Polizei. Ähnlich wie in Russland. In Griechenland erfüllten die Feldhüter (Agrophylakon) früher diese Funktion und auf den Philipinen seit 1998 die „New Cops on the Block“. Der Weddinger Polizist und taz-Leser der ersten Stunde, Kurt Borowski, hat noch gedacht, er könnte über eine Fortbildung zum Kontaktbereichsbeamten (KOB) direkt – d.h. ohne Hausmeister und Aushilfshausmeister als Transmissionsriemen – in das Herz der Finsternis (der Weddinger Mietskasernen) vorstoßen. Und das ließ sich auch anfangs alles ganz gut an, d.h. die Informationen über gerichtsrelevante Vorfälle in seinem KOB-Wirkungskreis prasselten nur so auf ihn ein – aber schon bald mußte Borowski enttäuscht feststellen: „bei diesem ganzen Getratsche war kaum etwas polizeilich Verwertbares dabei“.
Ich habe mich lange mit den tschechischen Hausmeistern und Aushilfshausmeistern beschäftigt, weil ihre Arbeitsplätze immer wieder Zentren der Dissidenz waren. Auch in Russland – bis Mitte der Neunzigerjahre noch. So verkehrte Olga Kaminer z.B. in St.Petersburg in einem Intellektuellenclub, der von dem Heizer einer Zentralheizungsanlage eines Bürokomplexes – im Keller desselben – gegründet worden war. Die Besucher saßen dort buchstäblich auf Kohlen. In Tschechien wechselten die Hausmeister und Heizer dagegen schlagartig mit der Wende: Die Dissidenten wurden Botschafter, Direktoren, Staatspräsident sogar. Und umgekehrt rückten die vormaligen kommunistischen Kader in Größenordnungen in die Heizungskeller der Mietshäuser ein – als Hausmeister. Jedenfalls all die Nicht-Flexiblen unter ihnen. Dieses ganze Auf und Ab findet sich in den Schriften von Bohumil Hrabal wieder.
2004 wurde in Tschechien, aber auch in Dresden und Berlin, des seit dem Zweiten Weltkrieg wohl berühmtesten tschechischen Dichters gedacht. Er wäre im Frühjahr 2004 neunzig Jahre alt geworden, hatte es jedoch vorgezogen, 1997 durch einen Prager Fenstersturz sozusagen vorzeitig und im Freien zu sterben: „…das habe ich nicht verdient, ein solches Alter,“ schrieb er seiner Deutsch-Übersetzerin Susanna Roth – bereits 1989, die darüber wiederum einen eigenen Text verfaßte – und bald darauf ebenfalls starb. Sein Freund, Sekretär und „Leibphotograph“, der Sicherheits- und Brandschutztechniker Tomas Mazal veröffentlichte 2004 ein dickes Buch über den „Schriftsteller Bohumil Hrabal“, aus dem er Ende Juni 2005 im Rahmen der „Bohemian Night“ des tschechischen Kulturzentrums in Berlin vorlas.
In den letzten Jahren häuften sich die Ehrungen für Hrabal: In der Nymburker Brauerei, wo er aufwuchs, wurde eine Tafel für ihn enthüllt: in Fußhöhe, damit die Hunde da ranpissen können, wie er es sich gewünscht hatte. Außerdem wurde das dort gebraute Bier nach seinem 1980 von Jiri Menzel verfilmten Roman „Postriziny“ benannt, auch das ehemalige Nymburker „Grand-Hotel“ heißt nun „Hotel Postriziny“. Der Suhrkamp-Verlag, der mindestens 20 Bücher von Hrabal verlegt hat, übersetzte es mit „Die Schur“, sein DDR-Verlag Volk&Welt mit „Das Haaropfer“. „Postriziny“ ist fast eine Worterfindung von Hrabal, wobei es ihm in dem Roman um die Zwanziger- und Dreißigerjahre seiner 1970 verstorbenen Mutter ging, die als Frau des Brauereiverwalters, seines Adoptivvaters, ein leicht mondänes Leben in der Elbe-Kleinstadt Nymburk führte, sich demzufolge dort auch regelmäßig an die Spitze der „Weltmode“ setzte – und also auch auf einmal alles kürzte: Röcke, Pferdeschweife, Hundeschwänze, Haare („à la Josephine Baker“) usw.. Eine andere Hrabalsche Worterfindung „Pabitele“ kennzeichnet jedoch sein erzählerisches Werk weit besser: „Die Bafler“ auf Deutsch. Dabei handelt es sich um den am Liebsten in Kneipen sitzenden Teil des Volkes, der dort biertrinkenderweise Geschichten produziert – die dann von anderen Baflern, wie etwa Hrabal, bloß noch aufgegriffen zu werden brauchen. Zu den wichtigsten Hrabal-Gedenkstätten gehören denn auch neben dem ihm gewidmeten Nymburker Museum, wo man eine ganze Kneipe zum besseren Verständnis seines Werkes aufgebaut hat, zwei noch heute von Baflern aus nah und fern gern frequentierte Restaurants: das „Hajenka“ (Forsthaus) in Kersko, einer Waldsiedlung in der Nähe von Nymburk, wo die hauptstädtische Intelligenz nach dem Krieg ihre Datschen baute, und das „U zlateho tygra“ (Zum Goldenen Tiger) in der Prager Altstadt – Hrabals letzte Stammkneipe, wenn er sich in der Stadt aufhielt. Dort erinnern nun überall Photographien an ihn: Auf einer zecht er zusammen mit Bill Clinton und Vaclav Havel. Von letzterem stammt der Gegenbegriff zum Hrabalschen Bafeln der kleinen Leute: „Ptydepe“ – das inhaltlose Reden der Herrschenden, dessen Destruktion sich Havel in vielen seiner Theaterstücke widmete. Er war übrigens der erste, der sich mit „Bohumil Hrabals Prosa“ auseinandersetzte – 1956 in der von Josef Hirsal und Jiri Kolar herausgegebenen Samisdat-„Revue K“. Hrabal war damals schon über 40 und hatte noch kein einziges Buch veröffentlicht. Havel schrieb über ihn: „Was unterscheidet ihn innerlich von den anderen Eisenbahnern, Hüttenwerkern und Hilfsarbeitern, zu denen er gehörte? Es ist, glaube ich, die Intensität, mit der er sein Leben lebt…“
Die Schicksale von Hrabal und Havel ähnelten sich lange Zeit an: Beide gehörten – zusammen mit Milos Forman, Vera Linhartova, Josef Topol, Josef Skvorecky u.a. – zur „Gruppe 42“, die sich an Jiri Kolars Tisch im Café Slavia traf. Beide arbeiteten mehrere Jahre lang als Kulissenschieber an einem Theater, wo dann auch ihre Ehefrauen, Eliska und Olga, eine Anstellung fanden. Beide bekamen nach 1968 Publikationsverbot, zogen sich auf ihre Datschen zurück – der eine nach Kersko, der andere nach Hradecek, wo sie Razzien und Bespitzelungen über sich ergehen lassen mußten, während sie gleichzeitig im Ausland erfolgreich verlegt und vielfach geehrt wurden. Und während Hrabal in einer Brauerei aufwuchs, fing Havel 1975 als Lagerarbeiter in einer Brauerei an, wo er schon einige Monate später in der Lage war, seinen Freunden ganze Vorträge über die Braukunst zu halten.
Bohumil Hrabal lebte von 1947 bis 1973 im Prager Arbeiterviertel Liben, ab 1956 zusammen mit seiner Frau Eliska Plevova und einem Kater. Einer seiner schönsten Romane spielt dort: „Hochzeiten im Haus/Ich dachte an die Goldenen Zeiten“. Es geht darin um ihn – aus der schonungslosen Sicht seiner Ehefrau. Bevor sie heirateten lebte er dort in einer Art „Mikrokommune mit gemeinsamer Kasse“, wie Egon Bondy das nannte. Der Philosoph Bondy sowie der Nymburger Dichter Karel Marysko und der Graphiker Wladimir Boudnik trafen sich nahezu täglich bei Bier und Schnaps in Hrabals Libener Küche. Auch über den 1968 gestorbenen Boudnik schrieb Hrabal später einen Roman: „Der sanfte Barbar“. „Heute behaupten viele Leute, dort ein und ausgegangen zu sein,“ meint Egon Bondy im Vorwort des Photobandes über Hrabal von Tomas Mazal, weiter heißt es dort: „Wir diskutierten über Kunst und Philosophie – die Politik wurde ausgeklammert, ebenso Frauen- und Fußballthemen“.
Bohumil Hrabal hatte in den Dreißigerjahren zunächst Jura studiert – und nebenbei Gedichte verfaßt. Als die Deutschen 1939 die tschechischen Universitäten schlossen, wurde er als Zugabfertiger auf dem kleinen Bahnhof Kostomlaty, nicht weit von Nymburk, zwangsverpflichtet. Über diese Zeit schrieb er eine skurrile an Josef Skroveckis Roman „Feiglinge“ erinnernde Partisanen-Geschichte: „Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht“, die wie mehrere andere auch infolge des „Prager Frühlings“ erstmalig veröffentlicht, fürs Theater bearbeitet und dann auch gleich verfilmt wurde. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts zog man diese Filme jedoch zurück, seine bereits in Druck gegangenen Bücher wurden eingestampft – sie landeten in der Rohstoff-Sammelstelle. Die Prager Ironie besteht u.a. darin, dass Hrabal zehn Jahre zuvor, von 1954 bis 1958, ebenda als Altpapierpacker gearbeitet hatte. Davor war er, ebenfalls vier Jahre lang, Hilfsarbeiter im Stahlwerk von Kladno gewesen. Und davor Handelsreisender und Versicherungsvertreter. Über all diese Erfahrungen veröffentlichte er später Erzählungen bzw. Romane. Zwar hatte Hrabal 1946 sein Studium mit einer Promotion abgeschlossen – aber nie als Jurist gearbeitet. Stattdessen strebte er nach dem Umzug von Nymburk in seine Prager Bohéme-WG ein hochfliegendes Künstlerleben an, das er jedoch durch seine proletarische Betriebsarbeit immer wieder gleichsam erdete: „Hrabal sehnte sich danach, mit Menschen zusammen zu sein und zu leben, deshalb suchte er keine Prestige-Jobs, sondern Arbeiterberufe und quatschte sich ständig in Kneipen fest. Er interessierte sich für jedes Schicksal, auch und sogar – das mit Vergnügen, wenn es sich dabei nur um leeres Gerede handelte. Daneben waren ihm seine Bücher ein wichtiges Kommunikationsmittel, deswegen machte er oft Konzessionen an die Zensur. Auf das Geld hat er geschissen,“ schreibt Egon Bondy. Ähnliches ließe sich auch über Hrabals Vorbild Isaak Babel sagen. Wegen der Zensur erschienen Teile seiner Geschichten immer wieder in neuen Bänden unter neuen Titeln, das gilt auch für seine auf Deutsch bei Suhrkamp erschienenen Werke: Der Autor schmuggelte sie so quasi häppchenweise an der sozialistischen Zensur vorbei. Aber wenn dann doch mal ein (mehr oder weniger verstümmeltes) Buch von ihm erschien, standen die Käufer vor den Buchläden Schlange. Und viele zum Einstampfen bestimmte Exemplare ließen die Fahrer und Arbeiter auf dem Weg zur Altpapierstelle bzw. von dort in die Papierfabrik heimlich verschwinden, u.a. seine Frau, die in der Prager Altpapiersammelstelle noch etwas länger als er arbeitete und sie dort mit der Begründung abgriff, ihrem Mann stünde eine bestimmte Anzahl Autorenexemplare zu.
Was war so unsozialistisch an ihnen? Hrabals unbedingter Realismus! – Mit der er beispielsweise seine Brigade im Kladnoer Stahlwerk als eine durchwachsene Bande von Degradierten, Überzeugten und Exzentrikern schilderte, die dazu auch noch gegen eine von oben angeordnete Normerhöhung streikte. Selbst der Bewacher der Zwangsarbeiterinnen, die im Hof Schrott abladen mußten, wurde von ihm nur allzu menschlich dargestellt, und auch noch die Zigeunerin, die dieser irgendwann heiratete – politisch korrekt war das damals wie heute nicht, aber als tschechischer Samisdat-Dichter hätte er mit dem sowjetischen Untergrundautor Boris Jampolski sagen können: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ‚Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa dagegen schreibt ‚Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie“. (*) Auch sein DDR-Verlag spricht im Klappentext von Hrabals „im Kern realistische Gestalten“, deren „Weltsicht“ von einem „plebejischen Wirklichkeitssinn bestimmt“ wird, Hrabal selbst nennt sein Schreiben „totalen Realismus“.
Sein Roman über das Kladnoer Stahlwerk, der ebenfalls inzwischen von Jiri Menzel verfilmt wurde, heißt: „Verkaufe Haus, in dem ich nicht mehr wohnen will“, daneben schrieb er noch eine längere und für ihn ungewöhnlich traurige Werks-„Reportage“ über eine schwangere Jausenholerin namens Jarmilka. Der Roman über seinen ehemaligen Arbeitskollegen in der Prager Altpapiersammelstelle, der dort aufgrund seiner Tätigkeit gegen seinen Willen, wie er sagte, gebildet wurde, trägt den Titel: „Allzu laute Einsamkeit“ – er wurde 1996 mit Philipe Noiret in der Hauptrolle verfilmt. Da von Hrabal in der Tschechoslowakei nach 1968 einige Jahre lang gar nichts erscheinen durfte, veröffentlichte er seine Bücher außer im Samisdat im kanadischen Exilverlag „68 Publishers“ seines zeitweiligen Vorbildes Josef Skvorecky. Nachdem er jedoch 1975 der Wochenzeitung „Tvorba“ (Schaffen) in einem Interview versichert hatte, er werde wie immer die Kandidaten der Volksfront wählen und sehe sich regelmäßig alle Fußballspiele im Fernsehen an, wurde das Publikationsverbot für ihn wieder gelockert. Viele seiner Verehrer haben ihm das Interview übel genommen, einige enttäuschte Undergroundmusiker verbrannten sogar öffentlich seine Bücher. Der spätere Mitbegründer der Gruppe „Charta 77“, Pavel Kohout, der sich in dieser Zeit ebenfalls auf seine Datsche und seinen Garten zurückgezogen hatte, beschäftigte sich daraufhin noch einmal gründlich mit dem „Tvorba“-Interview „des regierenden Fürsten der tschechischen Prosa“, in dem dieser „die Kulturpolitik der kommunistischen Partei des Doktor Husak begrüßt“ hatte. In seinem Roman über die Jahre nach der sowjetischen Intervention „Wo der Hund begraben liegt“ schreibt Kohuth, dass Hrabal sich mit seiner offiziellen Rückmeldung aus der Kerskoer Verbannung immerhin und im Gegensatz zu vielen anderen „auf eigene Kosten und auf seinem Niveau“ ergeben habe, auf diese Weise hätte er zwei in das Interview eingeschobene „schäbige Funktionärssätze“ so deutlich herausragen lassen „wie Balken mit der Aufschrift ‚Vorsicht, Verseucht!'“
Ist das noch oder schon Prager Ironie? Laut Michel Foucault erhebt sich die Ironie – und ist subversiv, während der Humor sich fallen läßt – bis auf das Schwarze unter dem Fingernagel. Für Hrabal ist die Ironie eine Art von Naivität, „die aber so verbohrt ist, dass sie nicht nur unfähig ist, das eigene Anderssein zu erfassen, sondern in der einmal eingeschlagenen Richtung verharrt und auf diese Weise das Leben bereichert“. Als „Nährboden“ brauche speziell die Prager Variante eine soziale „Mischung“, wie sie bis zum Einmarsch der Deutschen in Prag bestand. Diese haben dann jedoch erst alle Juden umgebracht und mußten schließlich selbst aus Tschechien verschwinden. Deswegen könne man „von der Prager Ironie nur noch historisch sprechen. Ihre Wortführer waren der Proletarier Jaroslav Hasek und der Intellektuelle Franz Kafka, beide sind im gleichen Jahr in Prag geboren und im gleichen Jahr gestorben. Und ihre Werke bilden nicht nur das theoretische Fundament der Prager Ironie, sondern sind auch ihr Ausdruck…Sie sind eine Art negative Mystik dieses Zeitalters ohne Gott, um mit Georg Lukacs zu sprechen“. Den Schwejk-Autor bezeichnete Hrabal sogar einmal als seinen „erstgeborenen Sohn, Erfinder der Kneipengeschichte und genialer Lebemann und Schreiber, der die prosaischen Himmel durch Menschengeruch humanisierte und die Schriftstellerei anderen überließ“. Aber auch Kafka wird für Hrabal zu einem Vorgänger. Mit ihm sowie auch mit Hasek teilt er zudem eine völlige Kritiklosigkeit: Ein Satz von Hrabal, der auf fast jedem Klappentext seiner bei Suhrkamp erschienenen Bücher zu finden ist, lautet: „Diese Welt ist schön, zum Verrücktwerden schön! Nicht, dass sie es wäre, aber ich sehe sie so.“ Der Satz geht auf seinen Onkel Pepin zurück, der als Hilfsarbeiter in der Brauerei seines Vaters arbeitete. Als Onkel Pepin 1967 starb, ließ Hrabal den Satz in der Todesanzeige für ihn drucken.
„Groß und revolutionär ist nur das Kleine, das ‚Mindere‘. Haß gegen alle Literatur der Herren. Hinwendung zu den Knechten, zu den kleinen Angestellten,“ dergestalt charakterisierten Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch über „Die kleine Literatur“ am Beispiel des in Prag deutsch schreibenden tschechischen Juden Franz Kafka dessen Werk. So läßt dieser z.B. den Affen im „Bericht für eine Akademie“ z.B. sagen: „Es geht nicht um die wohlgeformte Bewegung geradewegs hinauf zum Himmel oder geradeaus nach vorn, es geht nicht mehr darum, die Decke zu durchbrechen, es geht nur noch um ein ’sich in die Büsche schlagen‘, irgendwo, sogar auf der Stelle, unverzüglich; es geht nicht um Freiheit als Gegensatz zur Unterwerfung, sondern ganz einfach um einen Ausweg, ‚rechts, links, wohin immer‘, so wenig wie möglich signifikant.“ Es handelt sich also bei Kafka, für den die Literatur „eine Angelegenheit des Volkes“ ist, darum, „ein Klein-Werden zu schaffen“. Bei Hasek ist es die Konzentration auf das kleine Frontschwein und bei Hrabal dann auf die kleinen Leute – ihre Geschichten und „schwarzen Chroniken“, wobei er schon sehr früh mit gutem Beispiel voranging: So leerte er z.B. einige Jahre lang just am 1. Mai, da sich in Nymburk der Festzug zum Tag der Arbeit dem Marktplatz näherte, die Güllegruben dort, so daß anschließend die ganze Gegend stank.
Laut Deleuze/Guattari gewinnt in „kleinen Literaturen“ schließlich alles kollektiven Wert, wobei das Politische jede Aussage ansteckt. Hrabal geht so weit, einen frühen Text von Bondy als sein Nachwort zum Roman „Der Sanfte Barbar“ zu verwenden:… Und in dem Roman „Harlekins Millionen“ flocht er einfach die Forschungen dreier Nymburker Lokalhistoriker in Form ihrer Gespräche ein.
Anfänglich war Hrabal selbst ein Nymburker „Lokaldichter“, wie der Prager Kunsthistoriker „Josef K.“ schreibt. Dann lernte er die realsozialistische Arbeitswelt kennen – und beschäftigte sich gleichzeitig in Prag mit dem Surrealismus, dem amerikanischen Film und der sowjetischen Bürgerkriegsliteratur – aber am Ende kam er immer wieder auf sein Heimatstädtchen Nymburk, „in dem die Zeit stehen geblieben war,“ zurück: U.a. in einer dreiteiligen Chronik „von meiner Mutter, meinem Vater und meinem Onkel“ – mit den deutschen Titeln „Die Schur“, „Schöntrauer“ und Harlekins Millionen“. Der letzte Teil ist aus der Sicht seiner greisen, aber immer noch munteren Mutter erzählt, die mit ihrem Mann und dem Onkel Pepin in ein Alterheim etwas außerhalb von Nymburg einzog, einem umfunktionierten Schloß des Grafen Spork. Hier endeten all jene, deren Zeit mit der Verstaatlichung der Betriebe 1948 und der darauffolgenden sozialistischen Umgestaltung des Landes abgelaufen war. Ironischerweise blieb dort irgendwann auch die große Schloßuhr stehen – auf fünf Minuten vor halb acht. Hrabals Vater Francin, der Brauereiverwalter, war zuvor vom Betriebsrat ebenso entlassen worden wie der Brauführer, den weder die Arbeiter noch die Geschäftsleitung gemocht hatten: „Wir teilen uns ab heute die Arbeit selber ein“. Die Aktien der Firma verteilte man unter den Werktätigen auf, ebenso alle Deputat-Obstbäume der leitenden Angestellten: „Wir sind jetzt die Millionäre!“ sagten die Arbeiter, zu denen auch der Onkel Pepin gehörte, dessen Monologe Hrabal später in seinem Buch „Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene“ festhielt, nachdem auch er ins Altersheim übergesiedelt war. Selbst die Betriebsleiter-Wohnung auf dem Brauereigelände mußten die Hrabals verlassen und die Mutter verlor ihre langjährige slowakische Hausangestellte, Anka aus Budecko, die ihr im betrunkenen Zustand immer gedroht hatte: „Einmal wird es andersherum kommen, dann sind wir die Herren!“ Und so kam es dann ja auch – aber Hrabals Mutter war weit davon entfernt, das zu bedauern: „Es ist gut, dass es keine Mägde mehr gibt“. Ähnlich sah das auch ihr Mann, dem in der Brauerei gesagt wurde, dass seine gütige Menschenführung besonders perfide gewesen sei, weil sie dem Klassenkampf die Spitze genommen habe – „verstehen Sie?!“. Er erwiderte: „Ich verstehe nicht, aber ich habe begriffen…“. Nämlich, wie seine Frau es ausdrückte, „dass bei uns diesmal die Reichen zahlen müssen, und nicht, wie nach dem Ersten Weltkrieg die Armen“. Trotzdem – murmelte sie später, zahnlos und zottelig, im Altersheim: „…ein so schöner Anfang und dann ein solches Ende“.
Seit der sogenannten samtenen Revolution in der Tschechoslowakei ist nun aber auch für die Nutznießer des Sozialismus „die Zeit stehen geblieben“. Erneut wurden Zigtausende aufs Abstellgleis geschoben. Dafür gibt es jetzt wieder haufenweise slowakische Hausmädchen, Hilfsarbeiter und Prostituierte in Böhmen, und in Hrabals Datschensiedlung Kersko ein Bordell – mit dem Namen „Night Club Orient“. Sogar die in den vergangenen Umbrüchen 1939, 1945, 1948, 1968 und danach ins Exil ausgewichenen Tschechen stehen jetzt zurückgekehrt staunend in dieser neuen Zeit, die ihr Land zu einem ihnen fremd gewordenen umgekrempelt hat – selbst die Sprache hat sich rasant verändert.
Ich wurde auf meiner Hrabalschen Spurensuche durch Böhmen, die auf dem kleinen Friedhof von Hradistko zwischen Nymburg und Kersko, wo der Dichter begraben liegt, begann, von einer seit 1979 in Berlin lebenden tschechischen Juristin begleitet, die ebenfalls nie als eine solche gearbeitet hat – und zudem auch noch aus Nymburk stammt. Hrabal hat sie jedoch nur einmal getroffen: Das war nach einem „Schneeglöckenfest“ des Kleingärtnervereins in der Waldsiedlung von Kersko, wo sie betrunken an einem Baum lehnte und sich erbrach – gerade als der alte Dichter dort vorbeikam. Er meinte zu ihr: „Kotz nur alles aus, Mädchen, hinterher gehts dir besser!“ Auch das „Schneeglöckchenfest“, so der Titel mehrerer Kersko-Geschichten von Hrabal, wurde inzwischen, 1984, von Jiri Menzel verfilmt. Und im dortigen Restaurant Forsthaus saßen auch 2004 noch immer die alten Bafler. Sie redeten über das Essen – bis es einem zu viel wurde. Er schlug auf den Tisch und schrie: „Habt ihr alten Säcke denn nichts anderes mehr im Kopf als Fressen?!“ – Nur um sich dann selber endlos über Knödel, Kraut und Schweinefleisch auszulassen. Auch bei Hrabal spielte das Essen immer eine große Rolle. Der in den USA lebende Slawist Jindrich Toman behauptet sogar, genau das unterscheide ihn von Hasek, bei dem alle Freßorgien immer eine negative Konnotation haben: „In Haseks Welt gehören Klerus und Völlerei zusammen“, während für Hrabals Helden und Heldinnen „das Essen ein Akt des erotischen Enthusiasmus“ sei. Beide Schriftsteller, so darf man aber vielleicht sagen, bekunden eine regelrechte Nahrungsbesessenheit. Und das haben sie wiederum mit Kafka gemein: „Kafka spricht immer wieder von der Nahrung par excellence, dem Tier oder dem Fleisch, von Fleischhauern, Zähnen, grossen Gebissen“, merkten Deleuze und Guattari dazu an.
Die Mutter meiner Begleiterin auf der Suche nach Hrabals Spuren spielte lange Zeit in der Nymburker Volkstanzgruppe mit, während Hrabals Mutter 30 Jahre regelmäßig im Laientheater des Städtchens auftrat. Beide fuhren gerne mit dem PKW in die nahen Wälder von Dymokury – zum Pilze sammeln. Und beide wurden gelegentlich von Doktor Brzorad behandelt, der mit einer Kutsche zu seinen Visiten fuhr und einen riesigen Garten besaß, aus dem man nach dem Krieg einen öffentlichen Park machte, indem man die Umfassungsmauer einriß. Doktor Brzorad war nebenbei auch noch Vorstandsvorsitzender der Nymburker Brauerei. Die Mutter meiner Begleiterin hatte später einen Freund, der Jäger war und im Kerskoer Forsthaus verkehrte, wo im Eingang immer ein Bernhardiner lag, über den man rübersteigen mußte. Auch über ihn schrieb Hrabal und der Hund kommt auch noch in Jiri Menzels Film „Schneeglöckchenfeste“ vor, wie ebenso die Bemerkung, dass nach jedem Fest dort „wieder mal alle Alleen“, die nach links und rechts von der Hauptstraße (Betonka) abgehen, vollgekotzt seien.
Eine aus Kersko stammende Freundin meiner Begleiterin, Mirka, führte einmal als Schülerin ein Interview mit Hrabal im Garten des Restaurants „Forsthaus“, bei dieser Gelegenheit riet der Dichter ihr und allen jungen Leuten: „alles aus zu probieren und nichts auszulassen – keine Kirche und keine Kneipe. Setzt auf dieses Leben und sein Verrücktspielen!“ Eine andere Freundin meiner Begleiterin, Vera, interviewte Hrabal später im „Goldenen Tiger“. Sie studierte damals Schauspiel und befragte ihn als Statist, Bühnenarbeiter und -autor. Ihr sagte er: „Mädchen, man muß die Perlen am Grunde jeder Seele suchen“. Bereits seinem ersten 1963 erschienenen Band mit Erzählungen hatte er den Titel „Perlchen auf dem Grund“ gegeben. Und eines seiner letzten Romane, „Ich habe den englischen König bedient“, der nun, 2006, ebenfalls von Jiri Menzel verfilmt wird, spielt u.a. in einem Steinbruch an einem See nahe Prag, wo sich eine Hütte befand, die einem Graphiker gehörte, den meine Begleiterin dort manchmal besucht hatte, ebenso dann Hrabal, den der Ort so begeisterte, dass er später seinen Ich-Erzähler dort ein Hotel errichten läßt. Es geht in dem Roman um einen Kellner, der sich vom Pikkolo (das Hotels „Goldenes Prag“) bis zum Oberkellner und zum Bediensteten in einem Nazi-Lebensborn-Heim hocharbeitet, wobei er sich arisieren läßt, um eine sudetendeutsche Gastwirtstochter heiraten zu können, die ihm schließlich eine wertvolle, wahrscheinlich von Juden geraubte Briefmarkensammlung hinterläßt, mit der er nach Kriegsende jenen Steinbruch erwirbt und dort ein Luxushotel errichtet, um endlich mit seinen früheren Prager Hotelchefs gleich zu ziehen und von ihnen anerkannt zu werden. Aber dieses Glück währt nicht lange: Nachdem erst die tschechischen Deutschen „heim ins Reich“ geschickt wurden, schickte man ab 1948 auch noch die Reichen ins Heim – in ein „Millionärs-KZ“, wie Hrabal es nennt. Seinen Ich-Erzähler stellt man dort nach einiger Zeit vor die Wahl: entweder Zuchthaus oder Waldbrigade. Er entscheidet sich für letzteres – und endet schließlich als Straßenausbesserer im Grenzgebiet, wo er zusammen mit einem Pony, einem Wolfshund, einer Ziege und einer Katze in einer verlassenen Kneipe wohnt. Um nicht so allein zu sein, stellt er überall Spiegel im Schankraum auf… „Und so ist das Unglaubliche Wirklichkeit geworden. Genügt das?“ Mit diesem Satz endet der Roman. In Wirklichkeit hatte Hrabal ebenfalls eine Sudetendeutsche aus reichem Hause, Eliska, geheiratet. Sie durfte nach 1945 im Gegensatz zu ihren Eltern nicht ausreisen und wurde eine Zeitlang repressiert, bis sie eine Anstellung als Kellnerin im Prager Hotel „Paris“ fand – und langsam wieder an Selbstsicherheit gewann. Als sie später in der Altpapiersammelstelle arbeitete, bot sie ihrem Mann an, den Lebensunterhalt für sich und ihn zu verdienen, damit er sich ganz seiner literarischen Tätigkeit widmen konnte, obwohl sie, wie Hrabal schreibt, „nie eine Zeile von mir las und meine Schreiberei so betrachtete, als ob ich Briefmarken sammeln würde“. Sogar als sie 1987 an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte und im Sterben lag, wollte sie sich noch um ihn kümmern. Ihre letzten Worte waren: „Ich danke dir, Bohousek…“
Will man Näheres über die Repressierung der tschechischen Reichen wissen, kann man sich an die Biographien von Vaclav Havel halten: Seiner Familie gehörten – und gehören nun wohl wieder – einige der schönsten Immobilien in und um Prag. Bis zu Beginn der Sechzigerjahre war der Besitz der Familie vollständig verstaatlicht. Als ehemaliger „Kapitalist“ und „Ausbeuter“ durfte Havels Vater keine leitende Stellung mehr einnehmen, 1963 ging er mit 600 Kronen monatlich in Rente, er war darauf angewiesen, dass seine Frau ihn ernährte, die im Prager Heimatkundemuseum arbeitete. Als sie starb, zog er zu seinem Sohn aufs Land nach Hradecek, wo er dann als sein Sekretär fungierte; dessen triumphalen Einzug auf die Burg er jedoch nicht mehr erlebte.
Für ihn war diese ganze Umwertung der Werte nach dem Krieg sicher „kafkaesk“, für andere hatte es dagegen eher „etwas Schwejkhaftes“ – beides „besteht in unserem Land weiter, ebenso die Mischung aus beidem,“ wie Vaclav Havel seiner Biographin Eda Kriseova Mitte der Neunzigerjahre eingab. Ähnlich äußerte sich auch Havels Mitkämpfer Kohout in seinem o.e. biographischen Roman, aus dem Jahr 1987: Beim Schreiben eines neuen Romans „Die Henkerin“ ahnte er, „daß den Schlüssel die Kombination jener zwei Poetiken bringen könnte, die den Nord- und Südpol der Weltliteratur darstellen – Hasek und Kafka“, mithin der „böhmische schwarze Humor“. Er sowie auch Hrabal waren von den 89er-Ereignissen zunächst gleichermaßen enthusiasmiert. Hrabal stiftete den streikenden Studenten 1990 sogar 100.000 Kronen – mit der Bemerkung: „Kauft euch ein Bier davon!“ Einige Jahre später äußerte er sich jedoch schon pessimistischer gestimmt – u.a. gegenüber seinem langjährigen Freund Arnost Lustig, der als Schriftsteller in den USA im Exil geblieben war und wissen wollte, was denn nun nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in seiner alten Heimat abgehe: „Es ist nicht gerade lustig in Böhmen. Wir sind an einem toten Punkt angelangt,“ teilte ihm Hrabal laut seiner Biographin Monika Zgustova mit. „-Woher wissen Sie das?“ fragte Lustig zurück. „-Von dem Gesindel, mit dem ich verkehre. Das ist mein Barometer,“ erklärte ihm Hrabal.
Auf der o.e. Veranstaltung des tschechischen Kulturvereins in der Berliner „Kulturbrauerei“ fügte dem sein Biograph Tomas Mazal noch diese letzte Bemerkung von Hrabal hinzu: „Wer in Mitteleuropa leben will, darf nicht nüchtern sein!“ Für einen Großteil des Publikums, das vorwiegend aus Exiltschechen bestand, rückte ihr „Lieblingsschriftsteller“ damit in die beunruhigende Nähe eines Quartalssäufers. Mich erinnerten sie dagegen an den Offiziersphilosophen Friedrich Nietzsche, der einmal – schon in seinen „schwierigen“ Achtzigerjahren – seufzte: „So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur. Ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“
(*) In ihren für die Europäische Union 2002 zusammengestellten „Kapiteln aus der Geschichte der Roma“ läßt die Autorin Dr. Jana Horvathova am Schluß den Schriftsteller Bohumil Hrabal zu Wort kommen. Es handelt sich dabei um einen Abschnitt aus seinem letzten 1991 geschriebenen Werk „Zigeunerrhapsodie“, das ein Loblied auf die klassische Romamusik enthält. Auch in vielen anderen Werken von Hrabal kommen Zigeuner vor, deren minoritäre Lebensweise ihm so schön die eher kleinbürgerlichen Neigungen der Mehrheit der Bevölkerung kontrastierte. Frau Dr. Horvathovas kurze Geschichte der Roma ist nun der erste Katalog eines von ihr gegründeten Roma-Museums in Brno, das Ende 2005 eröffnet wurde. Ihr Vater, Ing. Holomek, hatte zuvor bereits die inzwischen größte tschechische Roma-Organisation – „Die Gemeinschaft der Roma in Mähren“ – gegründet, deren Vorsitzender er noch immer ist.
Trotz dieser Initiativen verschlechtert sich jedoch die Situation der Sinti und Roma in der Tschechoslowakei seit der „samtenen Revolution“ 1989 immer mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man sie zunächst in den ehemals von Sudentendeutschen bewohnten böhmischen und mährischen Grenzgebieten zwangsangesiedelt. Das betraf Sinti und Roma aus der Slowakei, Rumänien und Ungarn. Zudem wurden Frauen mit vielen Kindern von den Sozialämtern gedrängt, sich sterilisieren zu lassen (auch aus der Zeit nach 1991 sind noch 31 solcher Fälle bekannt geworden; auf Vorschlag der tschechischen Ombudsstelle für Roma will man sie demnächst entschädigen).
Nachdem sich 1993 die Slowakei von Tschechien abgetrennt hatte, sollten alle Zigeuner, die einen slowakischen Paß besaßen, das Land verlassen, die Slowakei verlangte jedoch, dass Tschechien ihnen einen Teil der davon Betroffenen abnehme. Es kam zu einem üblen Hin und Her, noch dadurch verschärft, dass an den Grenzübergängen nach Bayern und Sachsen immer mehr arbeitslos gewordene Romafrauen und sogar junge -mädchen der Prostitution nachgingen – bis heute.
In der grenznahen westböhmischen Industriestadt Usti nad Labem (Aussig) versuchte man 1999 einige Sozialwohnungen, in denen Roma lebten mit einer langen 1 Meter 80 hohen Mauer von den besser gestellten Anwohnern der Maticni-Straße abzugrenzen. Noch jetzt sagen viele Bewohner der Stadt: „Es sollte doch nur eine Lärmschutzwand sein. Die Zigeuner arbeiten nicht und feiern die ganze Nacht, während wir jeden Morgen früh raus müssen.“ Zuerst demonstrierten die tschechischen Roma dagegen, dann kam es auch zu Protesten im Ausland. Tschechiens Außenminister Jan Kavan meinte daraufhin: „Diese Mauer ist eine Wand zwischen uns und der Europäischen Union“. Staatspräsident Vaclav Havel setzte schließlich durch, dass sie wieder abgerissen wurde. Nicht verhindern konnte er, dass es zu immer mehr Brutalitäten der Polizei gegenüber den Zigeunern kam – und kommt. Im slowakischen Trebisov eskalierte die Situation 2004 in einen regelrechten Hungeraufstand der dort in so genannten Elends-„osadi“ konzentrierten Roma, nachdem die rechtsnationale Regierung ihnen die Sozialhilfe um die Hälfte gekürzt hatte (115 Euro bekommt dort seitdem eine achtköpfige Familie im Monat) – um die Wohlfahrtsempfänger „zur Arbeitssuche zu motivieren,“ wie es offiziell hieß. Im Osten der Slowakei gibt es rund 700 solcher „osadi“, die man ebenfalls gerne einmauern würde, wäre da nicht die EU mit ihren Menschenrechtsparagraphen sowie die sich organisierenden und wehrenden Roma selbst, die, wie ein Sprecher des tschechischen Romasenders „Rota“ meinte, „einen regelrechten Krieg mit der Regierung und dem Staat führen – wie auch umgekehrt“. In dieser Situation kommt dem Museum von Dr. Jana Horvathova eine wichtige Bedeutung zu. Es stützt sich u.a. auf Leihgaben des von Adam Bartosz im polnischen Tarnow gegründeten „Ethnographischen Museums“ und der slowakischen Gemer-Malohontske-Sammlung in Rimavska-Sobota.
In der Tschechoslowakei wurde 1958 und in Polen 1964 ein Gesetz zur Seßhaftmachung aller Nomaden verabschiedet. Gleichzeitig bekamen die Roma Arbeitsplätze in der Industrie zugewiesen. Da es sich dabei zumeist um Hilfsarbeiten handelte, gehörten sie nach Auflösung des Sozialismus zu den ersten, die arbeitslos wurden. In der Zwischenzeit waren jedoch auch ihre früheren Handwerke (wie Scherenschleifen, Schmieden und Kesselflicken) überflüssig geworden. Ähnliches galt für ihren alten Handelsobjekte – Pferde und Teppiche z.B.. Nur die Prostitution und die Musik blühte wieder auf. Bei letzterer unterscheidet man heute zwischen traditioneller – „phurikane“ – und moderner Musik – „rom-pop“ genannt.
Zwar zersetzte sich mit der Wende die Gleichheit unter den Roma – viele verarmten völlig und einige wenige wurden reich, gleichzeitig organisierten sie sich jedoch immer effektiver – nicht nur national, sondern auch international: in der „Romani Union“. Eine solche entstand erstmalig bereits im Zusammenhang des Prager Frühlings 1969. Sie wurde jedoch 1973 verboten. Kurz zuvor fand 1971 in London der 1. Roma-Weltkongreß statt. Nach 1989 gründeten Dr. Emil Scuka und Jan Rusenko die erste politische Romapartei in der Tschechoslowakei: Bürgerinitiative der Roma – ROI – genannt, die im ersten nachkommunistischen Parlament elf Abgeordnete stellte. Außerdem wurden in den darauffolgenden zwei Jahren mehr Romani-Bücher publiziert als in den ganzen 800 Jahren davor – seitdem Roma in der Tschechoslowakei leben. Daneben entstanden eigene Roma-Zeitungen und -Magazine. Aus der ROI ging dann die IRU, die Internationale Romani Union, hervor.
Die Blüte der Romakultur währte jedoch nicht lange, denn gleichzeitig organisierten sich auch immer mehr rechtsradikale Skinheads gegen die Roma: sie töteten etwa 50 von ihnen bis heute, zuletzt starb ein Roma bei der Hungerrevolte in Trebisov – wahrscheinlich durch Polizistenhand. Die zunehmende Gewalt hat bereits viele Roma in die Emigration getrieben: u.a. die Schriftsteller Margita Reiznerova und Frantisek Demeter nach Belgien und Malvina Lolova nach Australien. Derzeit leben etwa 300.000 Roma in Tschechien, das sind 3% der Bevölkerung. Umgekehrt gibt es eine zunehmende Zahl von Roma, die aus der Slowakei, wo rund 400.000 Roma leben, nach Tschechien emigrieren, weil sie dort anscheinend noch mehr diskriminiert werden und die Arbeitslosenquote unter ihnen über 90% beträgt. Allein 2003 stellten über 1000 Roma einen Asylantrag in Tschechien, wo man offiziell von inzwischen 14.000 „Übersiedlern“ ausgeht.
All dies ist dem Roma-Museum in Brno zu entnehmen, das in der Bratislavska-Straße domiziliert ist, inmitten eines zumeist von Roma bewohnten Stadtviertels – mit der entsprechenden „Ghetto“-Infrastruktur, die vor allem aus Pfandhäusern, Bordellen, Spielhallen, Nachtbars, einem Stützpunkt der Heilsarmee, mehr oder weniger verfallende Sozialwohnungen und einer städtischen Berufsberatung besteht. 2004 hatte Amnesty International kritisiert, dass der tschechische Staat keine Ausbildungsförderung für junge Roma in seinem Etat vorsehe (Romakinder besuchen in der Mehrzahl Sonderschulen).
Nach einem Besuch des Romamuseum in Brno fragte ich Frau Dr. Horvathova, ob ihre Einrichtung mit dem Roma-Museum in Jerusalem kooperiere und was sie von den Roma-Museen in Holland, in der Ukraine und in Wien halte, die demnächst eröffnet werden sollen. Sie teilte mir daraufhin mit, über die Entstehung von Roma-Museen überall auf der Welt informiert zu sein und dass sie diese Entwicklung begrüsse. „Die Reichweite der Arbeit unseres Museums in Brno ist noch nicht so groß, wie wir es uns wünschen, nichtsdestotrotz kann es als Aufklärung wirken, und zwar langfristig. Aber natürlich müssen die Leute zuerst eine Arbeit haben, eine gesicherte Existenz, und erst dann werden sie sich für die Kultur interessieren, das gilt auch für die Roma.“
Frau Dr. Horvathova hatte ihr Museumskonzept bereits im Herbst 2004 auf einem Symposium der EU über „Roma und Sinti im Europäisierungsprozeß“ vorgestellt. Diese Veranstaltung mit zig Künstlern und Referenten, die in Berlin stattfand, war die erste nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder. Zwar war es begrüßen, dass dabei sogleich das „Zigeunerproblem“ im Osten in den Mittelpunkt gerückt wurde, dennoch war das, was dabei dann herauskam mehr als dürftig – beschämend!
Ende der Siebzigerjahre hatte es schon einmal – in Westeuropa – eine Art Zigeuner-Solidaritäts-Offensive gegeben – von unten. Damals, im „Deutschen Herbst“, entdeckte die Linke diese „fahrenden Leute“ im Zuge ihrer eigenen langsam auslaufenden Bewegung, die sie sich auch nur noch als ganz reales „Nomadisieren“, angetrieben nicht zuletzt vom entsprechenden Sesshaftenhass, vorstellen konnte. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari hat diese Ausflucht dann sogar zu einer ganzen Post-68er-„Nomadologie“ inspiriert.
Das ist jetzt anders: Zum einen handelt es sich – zumindest bei den Roma in Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei usw. – um eine proletarisierte, somit zur Sesshaftigkeit gezwungene „Minderheit“, die mit der „Demokratisierung“ dieser Länder fast zur Gänze arbeitslos wurde. Und zum anderen beschäftigt man sich jetzt von oben mit „Menschenrechten“ und allerlei parlamentarischen Initiativen zur Verbesserung der Lage der Zigeuner, wobei man ihnen primär nur statistisch zu Leibe rückt – mit anderen Worten: gar nicht!
In allen Ländern der Europäischen Union bis hoch nach Finnland betreiben nun blonde, junge Wissenschaftlerinnen Roma-und-Sinti-Forschung – zum Besten ihrer kleinen Privat-Karrieren. Daneben verschaffen sich auch noch hunderte von EU-Politikern mit dem „Zigeunerproblem“ Gehör. Unterhalb dieser entsetzlichen Repräsentativ-Existenzen dürfen dann – in den Pausen der dementsprechenden Veranstaltungen – auch die „Betroffenen“ selbst zu Wort kommen: mit Gesang und Tanz, in Originalkostümen und für Bargeld. Eine Ausnahme war wie gesagt Dr. Jana Horvathova – mit einem lichtbildgestützten Vortrag in der Humboldt-Universität. Die Dias schienen jedoch niemanden zu interessieren, am wenigsten die gelangweilten studentischen Hilfskräfte der EU-Veranstaltung, die lieber mit ihren Handys oder Laptops spielten, als zum Beispiel das Licht im Saal auszumachen, damit man überhaupt etwas erkennen konnte. Auch dass man danach die schlecht und auf Englisch vorgetragenen Referate der blonden Roma-Forscherinnen so gut wie gar nicht verstehen konnte, störte keinen: Wichtig war wahrscheinlich nur ihre Veröffentlichung in einer Wissenschaftszeitung, die ausschließlich von ihren Doktorvätern gelesen wird. Einzig der Vortrag des ungarischen Roma-Ombudsmanns Dr. Jeno Kaltenbach fiel etwas aus diesem völlig lächerlichen akademischen Rahmen, obwohl auch er mit Zahlen nur so um sich warf – und, selbst als er gebeten wurde, ein konkretes Beispiel für seine interventionistische Arbeit zu nennen, nur wieder ein allgemeines Procedere nachzeichnete. Vielleicht kann man es so sagen: Seit 1989 – der Rückkehr von der Klasse zur Rasse (Ethnie) – werden überall im Geltungsbereich dieser sich erweiternden EU die Rechte der Sinti und Roma festgeschrieben, verbessert, erweitert – aber im Alltag nimmt ihre Diskriminierung zu – und damit ihre Verelendung. Das „Berliner Festival europäischer Sinti und Roma“ hat das noch einmal aufs schönste bestätigt. Diesen traurigen Blödsinn überhaupt „Festival“ zu nennen, ist schon eine Unverschämtheit! Die ganzen Millionen Euro, die dafür sowie auch zur allgemeinen Verbesserung der Lage der Zigeuner ausgegeben werden, kommen wieder bloß irgendwelchen für sich selbst kämpfenden Jungwissenschaftlern und noch „kämpferischeren“ EU-Politikern, -Kommissaren sowie -Roma-Experten zugute.
Kurz zuvor hatte der in Soweto (Johannesburg) lebende Fotograf Santu Mofokeng auf eigene Rechnung die „Hundeesser von Svinia“, die ärmsten unter den verarmten slowakischen Roma, besucht. Er wurde, weil von dunkler Hautfarbe, sofort von ihnen als „Brother“ aufgenommen – und war erschüttert von ihrer Siedlung: Dagegen wären die südafrikanischen Schwarzenghettos die reinsten Luxussiedlungen, meinte er.
Den Tschechen ist der Garten äußerst wichtig:
„Der Garten, das war das Einzige, was mich vor dem Verrücktwerden bewahrt hat.“ (Ludvik Vaculik über die Zeit nach 1968, ähnlich äußerten sich auch Bohumil Hrabal, Vaclav Havel und Pavel Kohut)
Es gibt sogar eine Region, die der Garten Böhmens heißt. Dort kämpft eine Bürgerinitiative gegen den Bau der EU-Autobahn, die Dresden mit Prag verbinden soll:
Ceske Stredohori) war erst keltisch, dann markomannisch und schließlich tschechisch, bis es von (Sudeten-)Deutschen herrschaftlich dominiert wurde, die dann jedoch, ab 1945, fast alle „heim ins Reich“ vertrieben wurden. Zuvor hatten die Deutschen dort die KuK-Garnison Theresienstadt zu einem jüdischen Ghetto und die vorgelagerte Kleine Festung in ein KZ umgewandelt. Heute ist Terezin eine Museumsstadt mit mehreren Gedenkstätten, wo Ausstellungen und Symposien über den Nationalsozialismus und die Judenvernichtung stattfinden.
Das böhmische Mittelgebirge, das sich von Usti nad Labem (Aussig) bis Ceska Lipa (Böhmisch Linde) erstreckt, gleicht einer Ebene, auf der sich etwa 100 erloschene Kegelvulkane, bis zu 850 Meter hoch, erheben. Eine ähnliche Landschaft gibt es sonst nur noch in Japan. Sie ist sehr fruchtbar: Es wird dort u.a. Obst und Gemüse angebaut. Die Gegend um Litomerice und dem nahen Terezin nennt man deswegen auch „Böhmens Garten“. Die barocken Kleinstädte und Dörfer sind zum großen Teil gut erhalten – und ihre Ortskerne seit der „samtenen Revolution“ teilweise wie mit Kamelhaarpinseln renoviert, außerdem haben sich dort amerikanische Banken (vor allem General Electric) und westdeutsche Supermärkte (Lidl und Kaufland) breit gemacht. Auf vielen Kegelbergen befinden sich „romantisch verfallene“ Burgen oder gar Schlösser, von denen einige zu Kurhotels, Seniorenheime und Restaurants umgebaut wurden, andere stehen zum Verkauf.
Vom Tafelberg Rip aus soll einst der Urvater Cech mit seiner Sippe beschlossen haben: „Hier bleiben wir!“ Und so begann vom böhmischen Mittelgebirge aus die tschechische Siedlungsgeschichte. Später haben sich auch Goethe und Alexander von Humboldt für diese Landschaft begeistert, das so genannte „Humboldt-Plateau“ am Buchberg erinnert noch daran. Die tschechische Gründungssage wurde von etlichen Dichtern, u.a. von Jaroslav Seifert, bearbeitet. Und es kamen viele die Gartenarbeit liebende tschechische Künstler und Intellektuelle, die ihre Datschen im böhmischen Mittelgebirge errichteten bzw. in leerstehende Bauernhäuser zogen. Dadurch bewahrten sie die Dörfer vor dem Aussterben. Einige Kegelberge des Mittelgebirges weisen eine Besonderheit auf: In ihren Hohlräumen und Kavernen speichern sie sommers die warme Luft und geben sie im Winter nach oben hin ab, so daß sich dort nie Eis und Schnee hält. Auf einigen Bergen hat sich deswegen oben Lebermoos (Targionia hypophylla) angesiedelt, das nur im Winter wächst. Im Sommer, wenn die Berge kalte Luft oben ausströmen, verdorrt es. Das böhmische Mittelgebirge ist schon seit langem Naturschutzgebiet und die mit Lebermoos bewachsenen Berge sind seit 1951 Naturdenkmäler. Die in diese Gegend gezogenen Städter haben nicht nur alte Höfe und Wirtschaftsgebäude restauriert, sondern kümmern sich auch um Naturschutzbelange – sie pflanzten z.B. in Eigenregie Alleen und renaturierten Dorfteiche. Neuerdings sind sie in einer Bürgerinitiative namens „Kinder der Erde“ organisiert, die gegen den Bau einer Autobahn kämpft. Es handelt sich dabei um die E55 zwischen Hamburg und Istanbul, deren tschechischer Abschnitt, die D8, durch das böhmische Mittelgebirge geführt werden soll. Die Planung dafür wurde bereits 1968 erstellt. Als man sie vor einigen Jahren wieder hervorholte, weil Deutschland und die EU für die Realisierung großzügige Subventionen versprachen, lehnte der tschechische Umweltminister die Streckenführung zunächst ab, woraufhin der Ministerpräsident ihm den Rücktritt nahelegte. Weil der Umweltminister aber seinen Job behalten wollte, stimmte er der Autobahnplanung schließlich doch zu.
Die 1994 gegründete Bürgerinitiative der Intellektuellen wird von den Alteingesessenen nur zögernd unterstützt: „Die Protestunterschrift einer Oma ist mir lieber als die von zehn Städtern,“ meint z.B. der Bürgermeister des kleinen Dorfes Borec, wo u.a. ein Italiener, der in den Fünfzigerjahren vor der Mafia flüchtete, ein Engländer, der Londonder Busse sammelt, ein junger Psychiater aus Prag und der bekannte Botaniker Doktor Faustus leben. Der Protest der Naturschützer und -liebhaber weitete sich trotz der Zurückhaltung der einheimischen Dorfbevölkerung langsam aus. Die Bürgerinitiative (siehe: http://www.tunelkubacka.cz) möchte zum einen die Autobahntrasse aus dem Mittelgebirge raus durch das Braunkohletagebaugebiet von Most führen und fordert zum anderen zwischen den Orten Dobkovicky und Radejcin den Bau eines 3,35 Kilometer langen Tunnels. Zwar hat der Investor bereits grünes Licht aus Prag für den oberirdischen Autobahnbau bekommen, gleichzeitig haben aber der Ombudsmann im Amt für Bürgerrechtsschutz und einige andere Kontrollbehörden Bedenken dagegen angemeldet. Ihre Berichte stehen inzwischen im Internet. Unterstützung findet die Bürgerinitiative darüberhinaus bei der Architekturfakultät der Technischen Universität (CVUT) von Prag, die sich in einem Gutachten ebenfalls für den Tunnelbau ausspricht. Daneben haben sechs von einer oberirdischen Trassenführung betroffene Anwohner Klagen gegen den Autobahnverlauf eingereicht, was erst einmal eine aufschiebende Wirkung beim Bauvorhaben hat. Die Bürgerinitiative verspricht jedoch, wenn die Bezirksregierung von Usti nad Labem sich für den Bau des Tunnels entscheidet, werde sie ihre Klagen zurücknehmen. Der Tunnel hätte ihrer Meinung nach zudem folgende Vorteile: Die Strecke würde sich um 640 Meter verkürzen; sie hätte keine Steigungen oder Gefälle; den Dörfern Prackovice und Litochovice bliebe der Autolärm erspart; die Touristen würden die Nichtverschandelung der Landschaft honorieren; es käme zu keinen Verkehrsunfällen mit Wild und Vögeln; und der Berg müßte nicht gegen Erdrutsche abgesichert werden.
Tschechien erlebte nach 1989 durch die Verschleuderung des Volkseigentums an ausländische Investoren bzw. Konzerne zunächst einen scheinbaren Wirtschaftsboom. Inzwischen stagniert die ökonomische Entwicklung jedoch und es droht auch hier die Abwanderung ganzer Industriezweige – in weiter östlich gelegene Länder, wo die Löhne noch niedriger sind. Da den markt- und privatwirtschaftlich orientierten Politikern jedoch bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze die Hände gebunden sind, können sie fast nur noch durch große Bauvorhaben wie Behördenunterkünfte, Autobahnen, Flughäfen etc. regionale Wirtschaftskonjunkturen induzieren bzw. simulieren. Insofern kommt dem „Streit“ um die Streckenführung der D8 durch das böhmische Mittelgebirge eine wichtige Bedeutung zu, die weit über Tschechien hinausreicht. Schon haben ähnliche Bürgerinitiativen in Sachsen, wo im Zuge des E55-Baus bereits eine Umgehungsstrecke für Dresden fertiggestellt wurde, mit der böhmischen BI Kontakt aufgenommen. Gerade in den von besonders hoher Arbeitslosigkeit betroffenen ostdeutschen Ländern lassen sich die Politiker immer gewagtere und größere Bauvorhaben einfallen, wobei nicht nur zigtausende von Hektar Ackerland oder Wald versiegelt werden, sondern ganze Dörfer verschwinden müssen. Bislang kam es hier zu solchen Flächenenteignungen nur, wenn Belange der Landesverteidigung, der nationalen Rohstoff- bzw. Energieversorgung und des Infrastrukturausbaus (Straßen, Brücken, Kanäle etc.) tangiert waren. Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit sind die Gerichte jedoch zunehmend bereit, auch aus ganz anderen, niederen Gründen Enteignungen zuzulassen, wenn die Bauherren nur vollmundig genug versprechen, dort viele neue Arbeitsplätze zu schaffen bzw. bereits vorhandene mit ihren Bauvorhaben langfristig zu sichern. So sollen z.B. die von Experten so genannten „Nonsens-Airporte“ in Hof/Plauen und Kassel-Calden nun gigantisch ausgebaut werden, letzterer für 151 Mio Euro. Die brandenburgischen Großprojekte Cargolifter und Lausitz-Ring erwiesen sich bereits als Fehlplanungen, ähnlich wie hunderte von überdimensionierten Kläranlagen und Gewerbeparks auf dem Land und die neue Chipfabrik in Frankfurt/Oder sowie das Space-Center in Bremen, das schon kurz nach der Einweihung Konkurs anmelden mußte. Bei all diesen Pleiteprojekten ging es primär um vom Staat forcierte und großzügig geförderte Arbeitsplatz-Schaffungsmaßnahmen. Auch beim Autobahnbau im böhmischen Mittelgebirge meinen viele Experten, dass er gänzlich überflüssig sei, weil der Gütertransport ebenso gut und wie bisher – mit Schiffen auf der Elbe und auf Schienen – erfolgen könnte.
Desungeachtet eröffnete der Verkehrsminister Manfred Stolpe im Sommer 2005 ein weiteres Teilstück der Autobahn 17 zwischen Dresden und Prag. Die gesamte Strecke soll bis Ende 2006 fertig sein. Ähnliche Konflikte wie auf dem Abschnitt, der durchs Böhmische Mittelgebirge führt, gibt es seit einiger Zeit auch beim Bau einer neuen Autobahn im „Böhmischen Paradies“ (Cesky ráj). Diese „Felsenstadt“ liegt auf halbem Wege zwischen Prag und Zittau. Dort soll nun eine Autobahn Liberec mit Hradec Králové verbinden. Um die einzigartige Felsenlandschaft zu retten, haben sich dort Bürgerinitiativen und Umweltschutzorganisationen zu einem Kampfbündnis „SOS Böhmisches Paradies“ zusammengeschlossen. Gleichzeitig beantragte die Region Cesky ráj bei der Unesco, dass ihre „Felsenstadt“ als Naturdenkmal anerkannt wird. Derzeit sind drei Streckenvarianten im Gespräch: So ließe sich die bestehende R 35 vorsichtig ausbauen. Die EU hingegen favorisiert zwei andere Lösungen – eine „Südvariante“ um das Böhmische Paradies herum, für die sich auch die Gemeinden und Umweltschutzorganisationen aussprechen. Im Gespräch ist zudem ein „Nordkorridor“, der allerdings das Böhmische Paradies „berühren“ würde.