vonHelmut Höge 12.07.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Gestern sollte ich für die EDV-Abteilung einen 10-Zollnagel besorgen, dazu wühlte ich einige Kisten in der Hausmeisterwerkstatt im Keller durch. Es roch dort etwas muffig, war aber immerhin kühler als in den Büroetagen. Plötzlich fielen aus einem Karton einige kleine Tausendfüßler auf die Erde, erschrocken trat ich den langsamsten platt. Gleich danach tat er mir leid – so ein harmloses kleines Tier…aber war er überhaupt harmlos? Ich mußte mich erst mal kundig machen. Dabei bemerkte ich, dass man sich in Ost- und Westdeutschland noch immer nicht einig über sie ist…

Die Tausendfüßer gehören zum Stamm der Gliederfüßer (Arthropoda), und daselbst zum Unterstamm Tracheentiere. Sie sind meist wurmförmig, zwischen 2 und 28 Zentimeter lang und wegen ihrer vielen Beine manchmal  ziemlich schnell, zudem sehr alt, d.h. man fand sie bereits in Schichten des Paläozoikums (542-251 Millionen Jahre vor unserer Gegenwart) – u.a. in Böhmen. Die Tiere leben fast durchweg an Land – unter feuchten Steinen, Blättern, Baumrinden, in Kellern usw.. Sie besitzen stets ein Paar Fühler und zum Atmen verzweigte Luftröhren (Tracheen).

So weit ist die Beschreibung und Einordnung in die Systematik eindeutig, aber ihre Klassenzugehörigkeit wird in Ost und West unterschiedlich begriffen: In „Grzimeks Tierleben“ (Band 1 – Niedere Tiere) gehören sie zu den „Myriapoda“, im „Urania Tierreich“ (Wirbellose Tiere – Band 2) dagegen zu den „Diplopoda“. Um diese nachwirkende Ost-West-Verwirrung in der neudeutschen Einordnung der auf allen Kontinenten lebenden Tausendfüßler zu beseitigen, besorgte ich mir noch den ausgezeichneten aber als deutsche Ausgabe vergriffenen  „Leitfaden“ der US-Zellbiologinnen Lynn Margulis und Karlene V. Schwartz: „Die fünf Reiche der Organismen“. Darin bilden die seit etwa 3,5 Milliarden Jahre existierenden Bakterien (Einzeller mit nicht-membranumhüllten Chromosomen im Zellplasma – Prokaryoten genannt) den Hauptteil allen Lebens  auf der Erde, sozusagen ihre breite Basis. Aus ihnen entwickelten sich die Protoctisten (Eukaryoten), die einen Zellkern besitzen und z.T. auch schon mehrzellig vorkommen. Die restlichen drei Organismen-Reiche – Pilze, Tiere und Pflanzen – gingen später aus ihnen hervor. Sie unterscheiden sich von den Bakterien und den Protoctisten vor allem dadurch, dass sie sich nicht durch Zell-Teilung vermehren, sondern im Gegenteil: durch Verschmelzung zweier Zellen (einer Ei- und einer Samenzelle), woraus dann ein Embryo entsteht. Außerdem ist bei ihnen Sexualität und Fortpflanzung verbunden – und sie sind (deswegen?) als Organismus sterblich, während die Sexualität bei den Bakterien und Protoctisten mit der Fortpflanzung nichts zu tun hat. Da letzteres durch Zellteilung erfolgt, sind sie quasi unsterblich und es gibt bei ihnen eine Kontinuität des „Gedächtnisses“ von der Urzelle bis zu den heute lebenden Bakterien und Protoctisten… All dies wird mit wunderbarer Klarheit von den beiden Wissenschaftlerinnen entwickelt – und ist für die deutsche Ausgabe aufs Sorgfältigste bearbeitet worden.

In bezug auf die  Tausendfüßer vergrößerte dieses neueste und derzeit beste Nachschlagewerk jedoch meine Verwirrung: Ihm zufolge zählen die Gliederfüßer (Arthropoda) zur Überklasse der Uniramia,  auch Tracheata genannt – in der die „Diplopodia“ eine von fünf Klassen darstellen. Zu dieser gehören auch die Tausendfüßer, die anderen vier Tracheata-Klassen – das sind „die Hundertfüßer, die Wenigfüßer, die nur neun oder zehn Beinpaare und verzweigte Antennen aufweisen, die Zwergfüßer, mit zehn bis zwölf Beinpaaren – und – als bei weitem artenreichste Gruppe – die Insekten.“ Die (westdeutschen) „Myriapoden“ gibt es bei Margulis/Schwartz ebensowenig wie in der DDR, dennoch tauchen sie im lateinisch-deutschen Index ihres „Leitfadens“ auf, in dem es dafür jedoch keinen einzigen „Tausendfüßer“ gibt. Da der „Myriapoda“-Hinweis sich aber  nur auf eine Graphik für das  Entwicklungsschema des vierten Reiches „Animalia“ (auf Seite 166) bezieht, der ich entnahm, dass die „Arthropoda“ und damit auch die „Myriapoda“ wohl relativ gradlinig – über die Protostomier und Bilateria – aus den Protoctisten hervorgegangen sind, gehe ich nun davon aus, dass das schwäbische Übersetzerkollektiv beim Spektrum-Wissenschaftsverlag in Weinheim den in ewig westrigen Wissenschaftskreisen durchaus noch geläufigen Begriff „Myriapoda“ wenigstens in einer der Übersichtsgraphiken dieses US-Nachschlagewerkes unterbringen wollte. Gesagt getan,  weswegen sie ihn dann natürlich auch in den Index einschmuggeln mußten. Und das alles in der Wende: das Buch kam hier 1989 heraus.

Die DDR-Philologen  und -Systematiker waren aber im Zweifelsfalle meistens genauer als die der BRD – und das ist auch hier der Fall, denn die etwa 11- bis 12.000 Diplopoda-Arten haben alle  mindestens 13 Beinpaare, im Höchstfall jedoch nur 340 (u.a. die in den Tropen lebende Art  „Siphonophorella progressor“). Unter den europäischen Formen erreichen Weibchen der in den Alpen lebenden Art „Ophioiulus nigrofuscus“ mit 121 Beinpaaren die höchste Extremitätenzahl. Der Klassenbegriff „Myriapoda“ (unzählige Füße) ist also übertrieben, während „Diplopoda“ (Paarbeinige) es genauer trifft: Der Körper der so genannten Tausendfüßler besteht nämlich aus paarweise verschmolzenen Körperringen, an denen sich jeweils zwei Beinpaare befinden, bis auf das vordere Segment, das extremitätenlos ist. Manchmal schwankt die Zahl der Beinpaare auch innerhalb einer Art: bei den geschlechtsreifen Männchen der heimischen „Leptophyllum nanum“ z.B. zwischen 67 und 111. Generell gilt, dass die Zahl der „Doppelringe“ sich von Häutung zu Häutung vermehrt – und damit auch die Doppelbeinpaare, die Larven haben erst einmal nur wenige. Diese „Schwankungsbreite“ zwischen den Arten könnte laut „Grzimeks Tierleben“ darauf hindeuten, „dass die Tausendfüßer überhaupt keine stammesgeschichtliche Einheit darstellen.,“ Der „Urania-Tierreich“-Autor bemerkt dagegen: „Interessant ist eine Theorie, nach der die Ausbildung der Doppelsegmente mit der Fortbewegungs- und Lebensweise der Tiere in Zusammenhang stehen soll.“ – Womit sonst?

Die Keimdrüsen der Tausendfüßer befinden sich nicht am Körperende, sondern im Bereich der Hüften des zweiten Beinpaares. Das Männchen nimmt den Samen mit den zu diesem Zweck umgestalteten „Begattungsfüßen“ (meist denen des 7. Körperrings) auf – und übergibt ihn dem Weibchen. Einige Arten leben nur ein Jahr, bei vielen stirbt das Männchen nach der Begattung. Bei den „Schnurfüssern“ (aus der Familie Julidae) häutet sich das Männchen danach jedoch und hat dann erst einmal nur noch rückgebildete, lediglich durch Knospen angedeutete Fortpflanzungsorgane. Es gleicht damit wieder einem vor der ersten Reifehäutung stehendem Tier. Durch eine zweite Häutung ist es dann nochmals begattungsfähig. Diese Tausendfüßer-Art kann sich also durch Sexualität mehrmals verjüngen – und wird damit älter als die meisten anderen Arten (bis zu 7 Jahre). Bei den in Mitteleuropa vorkommendenden „Pinselfüßern“  (der Ordnung Pselaphognatha), die sich mittels Jungfernzeugung (Parthogenese) vermehren, also bisexuell sind, hat sich daneben u.a. auf der Insel Sylt eine von ihr fortentwickelte zweigeschlechtliche Form herausgebildet.

Die meisten Tausendfüßer ernähren sich von abgestorbenen Pflanzenteilen, die sie mit ihren kräftigen Beißorganen (Mandibeln) zerkleinern. Einige sind ausgesprochen wehrhaft und ihr Biß kann beträchtliche Schmerzen verursachen. Zum Lichtsehen haben die Tiere am Kopf Anhäufungen von Einzelaugen (Ocellen), die ihnen jedoch kein Bild liefern, dafür können sie mit den Sinneszapfen und Sinneskegeln an den Fühlern chemisch wahrnehmen. Eine Unterordnung, die „Bandfüßer“ (Polydesmida), ist sogar stets blind, sie hat dafür in der hinteren Körperhälfte einen flügelartigen Fortsatz („Seigenflügel“), auf dem Wehrdrüsen-Poren liegen. Damit scheiden sie Blausäure aus, was wohl gleichzeitig zu ihrer eigenen Entgiftung beiträgt. Eine Zoologin, die diese Tiere einmal in Afrika in einem Plastiksack sammelte, machte die Erfahrung, dass sie sich damit  im luftdichten Sack alle selbst vergiftet hatten – auch der Forscherin, die das Giftgas jedesmal beim Öffnen einatmete, wurde davon schwindelig. Die „Schnurfüßer“ produzieren sogar ein noch stärkeres Gift: ein Gemisch zweier Chinone, das stark schleimhautreizend wirkt. Bei den „Saftkuglern“ ist dies ein Alkaloid – das so bitter ist, dass eine Maus, die einmal ein solches Tier in den Mund genommen hat, es wahrscheinlich nie wieder tun wird. Während die zu den „Schnurfüßern“ zählende Art „Schizophyllum sablosum“ sich mit einer auffallend gelben „Warnfärbung“ begnügt. Die „Nemaphotora“  besitzen stattdessen Spinndrüsen, mit denen sie seidenartige Gespinste herstellen, in denen sie sich während der Häutung schützen, ebenso ihr Eigelege. Bei den „Wehrhaften“ handelt es sich zumeist um Unterklassen und deren  Ordnungen bzw. Überordnungen. Die meisten Tausendfüßer-Arten rollen sich bei Gefahr bloß  spiralförmig ein.  Man kann sie deswegen als harmlos bezeichnen.

Seit einigen Jahren werden sie zunehmend als Terrarientiere gehalten. In Gefangenschaft können einige große tropische Arten bis zu acht Jahre alt werden, wobei sie ihren Besitzer von anderen Menschen zu unterscheiden lernen – wahrscheinlich über den Geruch: das behaupten jedenfalls die Besitzer dieser Tiere. Im Internet gibt es inzwischen eine für Tausendfüßer-Freunde äußerst informative Homepage: „diplopoda.de“, auf der man alles über Haltung, Pflege, Fütterung und Nachzucht der „Wörmi“, wie die Tiere  von einigen ihrer Besitzer zärtlich genannt werden, erfahren kann. Die Webside wird von zwei westdeutschen Terrarianern betreut, von denen der eine Biologie studiert. Im Osten gibt es seit 1992 das „Magazin für Wirbellose im Terrarium – Arthropoda“. Es wird von der „Zentralen Arbeitsgemeinschaft Wirbellose im Terrarium“ (ZAG) in Wernigerode herausgegeben. Die ZAG war früher einmal dem Kulturbund der DDR angegliedert. Heute kooperiert sie gelegentlich mit den  westdeutschen Zentralorganen der Terraristik „Reptilia“ und „Draco“, in denen ebenfalls gelegentlich über Tausendfüßer berichtet wird. Ihr Chefredakteur Heiko Werning meint: „Die DDR-Terraristik war sehr gut. Weil die Tiere Mangelware waren, d.h. dass man sie nicht einfach im Laden neu kaufen konnte, wenn sie einem starben, hat man sich dort anscheinend mehr Mühe bei der Haltung, Pflege und Aufzucht gegeben als im Westen.“ Neben der vierteljährlichen „Arthropoda“  gibt es neuerdings noch eine unregelmäßig erscheinende Zeitschrift namens  „floppy myriapoda“, die von zwei Künstlern herausgegeben wird – und sich, wenn auch nicht durchgehend, ebenfalls mit biologischen Themen befaßt, u.a. natürlich auch, dem Namen verpflichtet,  mit Tausendfüßern. Das vorneweg  verwendete Wort „floppy“ kommt aus dem sich globalisierenden US-Computer-Jargon (Floppy-Disc z.B.), wo es ein anderes Wort für „Discettenlaufwerk“ ist. Konkret wird damit von den  beiden Herausgebern auf ein aus Elektronik-Bauteilen bestehenden Tausendfüßer angespielt, den sie 2004 für eine Ausstellung  zusammenbastelten. Eigentlich müßte ihre Begriffskombination den von Linné einst begründeten naturwissenschaftlichen Gepflogenheiten folgend – „myriapoda floppy“ heißen. Da es sich bei den beiden Herausgebern um Ostberliner handelt, stellt sich mir hierbei aber vor allem die Frage, warum sie ihr Periodikum dann nicht gleich „diplopoda floppy“ genannt haben.

Abschließend sei erwähnt, dass unter dem Stichwort Tausendfüßler noch 358.000 weitere Eintragungen im Internet zu finden sind – sie betreffen Kinderlexika, Behindertenclubs, Langlaufveranstaltungen, Pflanzenschutz, Kitas, ein LKW-Modell von Mercedes Benz, Witze und neue Forschungsergebnisse, denn in den letzten Jahren haben sich mehr und mehr Biologen den Arthropoden im tropischen Regenwald und ihre Rolle bei der Umwandlung pflanzlicher Abfallstoffe in Humus zugewandt.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/12/myriapoda-oder-diplopoda/

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  • Die „floppy myriapopa“-Herausgeber Kai Pohl und Alexander Krohn, die ihre Zeitschrift übrigens in Damaskus drucken lassen, stellen ihre neuesten Ausgaben jeweils in einer Kneipe mit Lesung vor. Die erste und zweite im „Club der polnischen Versager“ in der Berliner Torstraße, die dritte nun im Kaffee Burger ein paar Häuser weiter – und zwar am 1.September 2006 ab 20 Uhr. Sie befaßt sich schwerpunktmäßig mit dem Meer und Fischen sowie fischähnlichen Wesen.

    Der Blog-Kollege Heiko Werning, Herausgeber der Terrarianer-Zeitschriften „Reptilia“ und „Draco“, tritt schon am 30. August im taz-café öffentlich in Erscheinung. Er diskutiert dort mit dem taz-Redakteur Dietmar Bartz über dessen Forschritte bei der Aalforschung.

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