vonHelmut Höge 14.07.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Früher wurden in der taz ständig Joints gedreht und geraucht („Input“ genannt, woraus sich quasi automatisch der Berlinkulturspruch „Wer recherchiert, ist nur zu blöd zum Schreiben – Man muß die Wahrheit halluzinieren!“ ergab). Thomas Hartmann, der erste Chefredakteur („Freigestellter“ damals noch genannt), bekam bei seiner Verabschiedung noch einen kindskopfgroßen Haschischklumpen von der Belegschaft überreicht. Aber er verkörperte schon den Übergang – vom politischen Projekt zur weisen Wirtschaftseinheit, indem er das „Managerkiffen“ einführte, d.h. das hastige Ziehen am „Spaßzigarettchen“ – zwischen zwei oder drei Sitzungen. Nach seinem Rücktritt ins Glied wurde plötzlich Aldi-Schampus zur Nummer-Eins-Droge: Nach Produktionsschluß knallten jedesmal die Korken der Billigsektflaschen auf den Etagen. Eine zeitlang versuchten die Kulturredakteurinnen Johanna,  Sabine und ich als Hilfsredakteur da gegen zu steuern – mit spanischem Brandy, vor allem Osborne. Die stellvertretende Kulturchefin Christiane schimpfte  zwar mit uns: „Außer ein Gläschen Sekt nach Feierabend ist Alkohol in der taz eigentlich verboten“, sie konnte sich jedoch nicht richtig durchsetzen. Dafür wurde mit jeder neuen taz-Generation die Arbeit immer entfremdeter (professioneller), so dass bald fast jeder meinte, wenn er während der Arbeit Alkohol trinken oder Haschisch rauchen würde, könne er gleich einpacken. Dann würde er gar nichts mehr auf die Reihe kriegen. Stattdessen häuften sich die After-Work-Parties – Anlaß dazu waren immer wieder jene Mitarbeiter, die bei der taz aufhörten, um woanders anzufangen. Das galt auch für viele Praktikanten, die vielleicht nur ein paar Wochen in der taz arbeiteten. Auch sie luden gelegentlich zu einem Abschiedsumtrunk in den Sitzungssaal im 5. Stock – Pavillon genannt, wo dann Rotwein in Gläsern und Bier in Flaschen bereit stand (anfänglich an „Randys Bar“ im 6.  Stock war es noch umgekehrt). Zwischendurch bietet Batjargal, der taz-Autor aus der Mongolei,  öfter mal Wodka der Marke Chinggis Khan an. Eine Flasche steht immer im Kühlschrank im Vierten Stock bereit, für den ich verantwortlich bin, d.h. für das Entfernen von Lebensmitteln und Säften mit abgelaufenem Verfallsdatum – was für den Wodka natürlich nicht gilt.  Neulich gab es auch mal Selbstgebrannten  – allerdings nur als Kunstgenuß. Er stammte von dem rumänischen Künstler

Dan Mihaltianu, dessen ganze Kunst eine zeitlang aus Schnäpsen bestand – und worüber ich dann einige gewinnende Worte verlieren sollte. Hier sind sie:

Schon Dans Großvater beherrschte die Kunst der Destillation – zur Selbstversorgung. „Mich interessiert jedoch nur der Brennprozeß – und der Alkohol als Geruchs- und Geschmacks-Erinnerung,“ meint der Künstler und denkt dabei weniger an den Rauscheffekt dieses Getränks als an die Proustsche Wiedereinsetzung aller Sinne in ihr altes Recht, am inneren Erleben, d.h. Erinnern, teil zu nehmen. Das Schnapsbrennen ist so gesehen auch ein Kampf gegen die Okulartyrannis, die nur (optische) Bilder gelten läßt. Andererseits verändert jedoch der Schnaps die optische Wahrnehmung derart, dass man in ästhetischer Hinsicht die verschiedenen Alkoholika durchaus bestimmten Kunstrichtungen zuordnen, d.h. dafür verantwortlich machen könnte – beispielsweise den in der Schweiz auf Wermutbasis destillierten Absinth („Grüne Fee“ genannt) für den Impressionismus, der einst in der französischen Bohème zum Kultgetränk aufgewertet wurde. Nicht wenige Maler gestalteten damals Etiketten von Absinthflaschen. Er wurde damals auf Druck vor allem der Weinhersteller verboten – und ist erst seit einigen Jahren wieder offiziell im Handel zugelassen.

Dan Mihaltianu sucht und findet die für das Schnapsbrennen benötigten (pflanzlichen) Grundsubstanzen jedesmal aufs Neue an den Ausstellungsorten, wo immer sein Künstlerschicksal ihn hinverschlägt – von seinen derzeitigen Basislagern Bergen, Berlin und Bukarest aus.

1994 verwendete er im Künstlerhaus Bethanien für seine  Ausstellung „1954“ zum einen Pflaumen, Sonnenblumenkerne und Wassermelonen, wie sie dort in der Umgebung von den Lebensmittelläden angeboten werden, und zum anderen Holunderbeeren vom Grab Marlene Dietrichs. Insgesamt entstanden dabei vier Destillate, die in kleine Flaschen abgefüllt, benamt und etikettiert wurden, das letzte nannte er  „Der blaue Engel“. 1996 verwendete Dan Mihaltianu für seine New Yorker Ausstellung „Feuerwasser“ Früchte und Pflanzen vom Central Park in Manhattan. Im selben Jahr nahm er in Bukarest für seine Ausstellung „Sweet Child in Time Liqueur“ ein Gemisch aus Pepsi-Cola, aufgequollenem Getreide und Fruchtbonbons als Grundsubstanz. Für eine Ausstellung in Wien – „Kulturkonjak“ – 1997 nahm er Weine aus den ehemaligen KuK-Ländern – Ungarn, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Italien und Österreich – und brannte daraus einen Schnaps. 1998 benutzte er in Worpswede für seine Ausstellung „Worpswede – Parfüm“  Torf und Pflanzen aus dem nahen Teufelsmoor. Dieses Moor hat, beginnend mit den Impressionisten (u.a. Paula Becker-Modersohn und Otto Modersohn), immer wieder Künstler nach Worpswede gelockt – bis heute. 2002 nannte er eine Ausstellung in der Kunsthalle von Bergen „3rd space – a distillery at landmark“. Dazu stellte er einen gläsernen Destillierkolben an der Bar des „Landmark Cafés“ auf, zum Destillieren nahm er Wein. Außerdem installierte er drei Videokameras im Raum, die mit einem Videoprojektor verbunden wurden. Die erste Kamera nahm den Destillierprozeß auf, d.h. den aus dem Kolben tröpfelnden Alkohol, die zweite nahm die gesamte Installation auf, und die dritte – eine Web Cam, die ebenfalls auf die einzelnen Teile der Installation gerichtet war, erlaubte es, sich das Ganze im Internet anzukucken. „3rd space“ bedeutete in diesem Zusammenhang: 1. den realen Raum (der Installation), 2. seine Reflexion (als Videoprojektion) und 3. den virtuellen Raum (die Web Cam Bilder). Ebenfalls 2002 organisierte Dan Mihaltianu im schottischen Glenfiddich eine Ausstellung, die er „Degree 0“ nannte. Zum Destillieren verwendete er hier  reines Malz, wie es auch von den  ortsansässigen Großbrennereien verwendet wird, die weltweit berühmt für ihren Whisky sind. In einigen Ausstellungen konnten die Besucher seine Destillate kosten. Meist kam dabei das Gespräch auf die Herstellung von Schnaps – gelegentlich auch auf die Gefahren übermäßigen Alkoholkonsums.

Britische Astronomen entdeckten Anfang April 2006 eine 463 Millionen Kilometer lange Alkoholwolke im All – und zwar im Abschnitt „W3 (OH)“. Sie besteht aus reinem Methanol – sogenanntem Fuselalkohol, der blind macht. Im Gegensatz zu Ethanol, der nicht nur trinkbar ist, sondern auch als Treibstoff, ähnlich wie Erd- oder Flüssiggas,  verwendet wird – zur Substituierung von Benzin, d.h. von Erdöl. Gerade stellten einige Autofirmen ihre neuen, damit angetriebenen PKW-Modelle vor, u.a. den „Ethanol-Ford“.

Daneben wird auch immer öfter das Sumpf- oder Faulgas Methan (Methylwasserstoff), industriell genutzt – ebenfalls als Energiequelle. Die Kühe bzw. ihre Bakterien im Pansen produzieren es in solchen Mengen, dass die Tiere es nicht im Körper abbauen können, sondern sich dieses „Biogases“ durch Furzen und vor allem Rülpsen entledigen: Sie haben dadurch die Atmosphäre bereits zu 15% mit Methan angereichert, was u.a. den Treibhauseffekt bewirkt hat (Es gibt zwar nur 1,48 Milliarden Rinder auf der Welt, aber sie haben vier mal so viel Biomasse wie die Menschen). Dänemark will nun bei seinen Kühen, die allein 140.000 Tonnen Methan jährlich in die Atmosphäre abgeben, diese Gasproduktion drosseln, indem  die Bakterien in den Rinderpansen ersetzen werden durch solche aus Känguruhmägen, die bei ihrer Verarbeitung der Gräser kein Methan freisetzen. (Die US-Zellbiologin Lynn Margulis gibt zu bedenken: Die Mikroorganismen im Pansen – „das ist die Kuh.“) Umgekehrt produzieren immer mehr Bauern hierzulande gezielt das Biogas, indem sie Mist, Gülle, Klärschlamm und anderen organischen Abfall in Gärbehältern sammeln. Das bei der bakteriellen Zersetzung entstehende Methangas wandeln sie direkt über einen Motor, der einen Generator antreibt, in Elektrizität um, den sie in das Stromnetz einspeisen. Für jede Kilowattstunde zahlt man ihnen 14,7 Cent“, wobei jedoch die Energieausbeute der dabei verwendeten Verfahren noch nicht über 55% hinauskommt. Beim mikrobiellen Teil des Verfahrens „verarbeiten“ laut FAZ „in einem ersten Schritt fermentative Bakterien das ‚Futter‘ in Zucker, organische Säuren und Alkohole. Essigsäurebildende Bakterien machen daraus sodann Essigsäure sowie Wasserstoff. Und in einem dritten Schritt produzieren ‚Methan-Bakterien‘ das Biogas, das außer aus dem erwünschten Methan noch aus Kohlendioxyd, geringen Mengen an Wasser, Schwefelwasserstoff und Spurengasen besteht.“ Wenn im kommenden Jahr die Milchsubvention wegfällt, bekommen die Bauern wahrscheinlich für ihren verstromten Kuhmist mehr Geld – als für die Milch ihrer Kühe.

In Schweden will man sich vor allem mittels Bio-Ethanol vom Öl unabhängig machen. „Ist diese Schnapsidee ein Modell für den Rest der Welt?“ fragte sich der Spiegel. Dabei werden ganze Wälder, aber auch komplette Weizen-, Mais- und Zuckerrohr-Ernten (aus Brasilien) sowie schnellwachsende Weidenbäume in einem chemischen Wandlungsprozeß industriell verflüssigt, d.h. zu Ethanol verarbeitet. Die Schweden sollen den Alkohol fürderhin nicht mehr trinken, sondern verfeuern. Ihre neuen  Ethanolfabriken und -abfüllanlagen werden deswegen vor verwegenden Trinkern besonders geschützt. Hier will Volkswagen demnächst Autos herstellen, die mit Ethanol fahren, das man beliebig mit Benzin mischen kann. Dazu liebäugeln die hessischen Weizenanbauer bereits mit der Umwandlung ihrer überschüssigen Ernten in Bio-Ethanol.

Die chemische Formel für Methan, dem einfachsten Alkan und Kohlenwasserstoff, lautet: CH4, seinen Alkohol nennt man Methanol oder Methylalkohol, er hat die Summenformel CH3OH. Als solcher kommt er in der Natur in Baumwollpflanzen, im Bärenklau, sowie in Gräsern und ätherischen Ölen vor. Bei der Verbrennung ist Methan effektiver als Methanol. Letzerer wird durch einen „Veresterungs“-Prozeß (d.h. durch eine  Additions-Eliminierungs-Reaktion) zu „Biodiesel“. Die Produktion dieses Treibstoffs  wird als erneuerbarer Energieträger derzeit subventioniert – sein Ausgangsprodukt ist hierzulande meistens Raps, aber auch  Sonnenblumen. Etliche Bauern sind bereits dazu übergegangen, Biodiesel zu produzieren. In Mecklenburg gibt es einige Landwirte, die sich zusammengetan und Produktionslinien aufgebaut haben, die vom Rapsanbau bis zur Biodiesel-Tankstelle reichen, also in kleinstem Stil den gesamten Upstream- und Downstream-Bereich umfaßen, wie er auch von den meisten Ölkonzernen – im größtmöglichsten Stil – angestrebt wird.

Für den Künstler ist das Methanol wie erwähnt bloß „Fuselalkohol“, der giftig und somit nicht zum menschlichen Genuß geeignet ist. Aber gerade darum, d.h. um die Geselligkeit, geht es den meisten Künstlern, die in irgendeiner Weise mit „Allohol“ arbeiten, wie der „freischaffende Kunsttrinker“ Thomas Kapielski diesen  Stoff – Ethanol, mit der Summenformel C2H5OH – nennt. Und womit er bereits auf seine Verwendung als „Rauschmittel“ anspielt, das man als die weltweit am häufigsten verbreitete Droge bezeichnen kann. Es wirkt besonders auf das Nervensystem und speziell das Gehirn: Man fängt an zu lallen (das gilt auch für Tiere), die Reaktionszeiten verlangsamen sich und das Blickfeld verengt sich (Tunnelblick). Aber so wie es unter den Prostituierten 0,1 bis 1 Prozent gibt, die ihre Arbeit zum eigenen Vergnügen tun und das Geld nur als zusätzliche Stimulanz brauchen, gibt es auch unter den Trinkern einige wenige, die quasi umgekehrt – im Tunnel Licht sehen, d.h. die mit steigendem Alkoholkonsum klarer denken und schneller und schärfer artikulieren (Oscar Huth z.B., siehe dazu seinen  „Überlebenslauf“ im Merveverlag 2001). Forscher – natürlich an der Universität von Stockholm – haben herausgefunden, dass bereits täglich 50 Gramm Ethanol (was etwa einem Liter Bier entspricht) „bleibende Schäden hinterläßt“. Die gesundheitspolitische Aufklärung weltweit ist deswegen voll von Warnungen vor zu viel Alkoholkonsum, während ein Großteil der privaten Reklameflächen voll von Alkoholwerbung ist. Zwischen dieser Spannung lebt der Trinker, was er mit fortschreitendem Alter besonders morgens tief, fast schmerzhaft, empfindet.

Es gibt noch eine weitere Spannung – in der nicht zuletzt auch Dans Destillationen stehen und die das Mischungsverhältnis zwischen heimlichem und geselligen Trinken mitbestimmt: Während in Russland der Begriff des „Heiligen Narrs“ und seine Wertschätzung sich dabei für lange Zeit, fast bis heute, quasi schmerzlindernd auswirkte, war in Deutschland der Adel stets davon überzeugt, das  Bürgertum werde beim Trinken entweder aggressiv oder sentimental, weswegen er es vorzog, unter sich zu trinken. Die Bürger  übernahmen später u.a. auch diese Meinung vom Adel – um sie dann ihrerseits gegenüber den Saufereien des Proletariats in Anschlag zu bringen. (*)

Ganz anders verlief dieser Prozeß in Tschechien, wo sich (noch?) in den Kneipen eine sozusagen gesamtgesellschaftliche Geselligkeit erhalten hat. Für den Gießener Germanisten Georg Stanitzek war das mindestens im 18. Jahrhundert noch fast ein Pleonasmus, denn „Gesellschaft ist Geselligkeit – in der die Menschen einander ‚freudig‘, ‚gleich‘, ‚offen‘ begegnen, ist konversierende Interaktion, in der die Teilnehmer sich sympathisierend, symmetrisch, aufrichtig miteinander ins Verhältnis setzen“. Dieser „Gesellschaftsentwurf“ ist inzwischen jedoch fast schon zu einer Utopie geworden. Um der darüber aufgekommenden allgemeinen Trunksucht entgegenzuwirken, hat man in den USA neben einem vorübergehenden Alkoholverbot schon früh versucht, Alkoholsubstitute auf chemischem Weg zu finden, die sich zugleich als Massenprodukte herstellen lassen. Wobei es „inhaltlich“ stets darum ging und geht, Schüchternheit, Vereinsamung, Verklemmung, Blödigkeit, Lampenfieber, Sinnlosigkeit etc. mit dem Mittel (d.h. einer Droge in Form eines Medikaments) zu bekämpfen. Der Weisheit letzter  Schluß heißt hierbei Paxil. (**)

Letztendlich geben sich jedoch der russische Wodka und das amerikanische Medikament nichts – bzw. die Extreme berühren sich, obwohl sie als Drogen nicht einfach  austauschbar sind: Während der US-Bürger übertrieben auf Alkoholgenuß reagiert, wirken bei den  Osteuropäern andererseits die Tabletten nur halb so gut wie bei den  Amerikanern. Dies hängt damit zusammen, dass man im Westen das Scheitern als persönliches Versagen begreift und im Osten eher als gesellschaftliches Problem. Dazwischen – in Westeuropa – versucht man sich  gleichsam sozialdemokratisch auszubalancieren, d.h. es erfreuen sich Kombinationen von Alkohol mit Medikamenten und/oder anderen Drogen steigender Beliebtheit.

Auch hierbei kommt meistens Schnaps zur Anwendung. Dan Mihaltianu bringt bei der Herstellung  desselben genauso wie sein Großvater zwei Verfahren zur Geltung: Erst einmal ein mikroorganismisches, bei dem die zucker- und stärkehaltigen Substanzen durch Hefepilze oder Bakterien zur alkoholischen Gärung gebracht werden und dann ein physikalisches – die eigentliche Destillation: das Brennen, das aus einem thermischen Trennverfahren besteht. Dabei wird dem System Energie in Form von Hitze zugeführt, wodurch die  vergorene Masse (bei der Bourbonherstellung nennt man sie Bier) hochkocht – und  sich zwei gegenläufige Strömungen im Destillator ergeben: Der flüssige Teil fließt über Röhren nach unten, die gasförmigen Bestandteile strömen nach oben, darunter der Alkohol, der daraufhin in einem Kondensator abgekühlt wird. Das nunmehr wieder flüssige Kondensat wird aufgefangen. Es ist das, was man haben will: den Spiritus (von lateinisch Geist). Damit er reiner, konzentrierter  wird, wiederholt man diesen Prozeß mehrmals. Das Wort Destillieren kommt aus dem lateinischen destillare – herabtröpfeln, es gewinnt, seitdem man vor etwa 1000 Jahren den Alkohol (Ethanol) entdeckte, stetig an Bedeutung. Das Alkoholbrennen ist in Deutschland ein beliebtes Hobby, so dass man hierzulande alle möglichen „Mini“-Destilliergeräte im Handel bekommt. Dan Milhaltianu hat sich seine Apparatur selbst gebaut. In Sibirien besteht die einfachste Destillation darin, dass man die vergorene Fruchtmasse im Winter bloß rausstellt und   einfrieren läßt – was dabei flüssig bleibt, ist der Alkohol. In Bulgarien haben viele Dörfer Gemeinschaftsbrennereien, wo jeder 200 Liter im Jahr für sich destillieren darf.  Durch diese oder andere Destillierverfahren wird jedoch kein Alkohol produziert, sondern fast im Gegenteil –  der zuvor von Hefepilzen und Bakterien produzierte Alkohol nur  isoliert (gewonnen), durch wiederholte Destillation wird er jedesmal hochprozentiger.

Dass es sich bei seinen Produzenten überhaupt um selbstgesteuerte Lebewesen handelt, dass also schon bei der Entstehung von Alkohol so etwas wie Geist mitwirkt , offenbarte sich erst im späten 19. Jahrhundert – als Louis Pasteurs Laborexperimente in dessen  Schrift „Études sur la bière“ gipfelten. Herrschende Lehrmeinung war damals die von Justus von Liebig, demzufolge es sich bei der Alkoholbildung um eine rein „chemische Reaktion“ handele. Die von Pasteur entdeckten Mikroorganismen schienen deswegen zunächst einen üblen Rückfall in den „Vitalismus“ zu bedeuten. Dieser behauptete nämlich ebenfalls einen Wesensunterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur – und befand sich damit im Gegensatz zum Mechanizismus und Materialismus, die alle Naturvorgänge auf chemische und physikalische Prozesse zu reduzieren trachteten und das auch immer noch tun, bis hin zu den Gehirnfunktionen.

Neben den Hefepilzen (Eukaryoten) können auch Bakterien (Prokaryoten) Alkohol produzieren: echten Tequila z.B., für den man das Bakterium Zymomonas mobilis mobilisieren muß – auf der pflanzlichen Grundlage von mindestens zehn Jahre alten Blauen Agaven, eine Sukkulentenart, deren „Herzen“ erst einmal gebacken werden, um dann daraus einen Sirup zu machen. Nachdem die Bakterien diesen verarbeitet und in Alkohol umgewandelt haben, wird er zwei mal destilliert. Ansonsten sind viele Bakterien eher an der Vernichtung als an der Produktion von Alkohol beteiligt. Namentlich die so genannten Essigbakterien, die ebenso wie die Hefepilze in freier Natur vorkommen: Sie ernähren sich von Alkohol und erzeugen Essig. Aus diesem Grund müssen z.B. die schottischen Whiskyhersteller ihre Gärbottiche und Fermenter regelmäßig mit hoher Temperatur sterilisieren, während die amerikanischen Whiykshersteller dafür chemische Substanzen verwenden. Auch hierzu hat Louis Pasteur die Voraussetzung geschaffen, indem er sich irgendwann fragte: „Wenn Bakterien Alkohol verderben, können sie dann nicht auch Menschen krank machen?“ Als seine Bakterientheorie endlich anerkannt war, rief sie jedoch ebenfalls (neue) Forschungswiderstände hervor, denn nun sah man in den Bakterien vor allem giftige, mehr oder weniger lebensgefährliche „Keime“ bzw. „Mikroben“, die es zu bekämpfen galt, diese Sichtweise gilt bis heute. Dabei sind wir ohne die Mikroorganismen  überhaupt nicht lebensfähig. Einige Biologen gehen inzwischen sogar so  weit, zu behaupten: Es sind die Bakterien, die uns – Tiere und Pflanzen – überhaupt erst geschaffen haben (durch Symbiose und Assoziation) – damit sie stets und überall ein ausreichendes Nährmedium zur Verfügung haben (den Pansen der Kühe und unseren Darm beispielsweise;   jeder Mensch hat etwa zwei Kilogramm Bakterien an und in sich.). Neben den allgegenwärtigen Essigbakterien gibt es auch noch solche, die erst Alkohol produzieren, um dann daraus Essig zu machen. Daneben haben auch noch einige höher entwickelte Pilze die Fähigkeit entwickelt, es ihnen gleichtun: Sie können ebenfalls von der Stärke bis zur Essigsäure durchreagieren, wie man das nennt. Grundsätzlich muß man jedoch sagen, dass das Vergären von Pflanzen und/oder Früchten ein gemeinsames  Stoffwechselprodukt von (Hefe-) Pilzen und (fermentativen) Bakterien ist. Die alkoholische Gärung wird dabei von ihnen zur Energiegewinnung genutzt.

Während wir umgekehrt ihren Alkohol zuletzt zur Energieverschleuderung nutzen – einmal beim Einverleiben in geselliger Runde – mitunter bis spät in die Nacht und zum anderen beim anschließenden Abbau im Körper: Zunächst gelangt der Alkohol im Darm über das Blut in die Leber. Dort wird der Alkohol durch das Enzym Alkoholdehydrogenase zu Ethanal (Acetaldehyd) H3C-CHO abgebaut, das weiter zu Ethansäure (Essigsäure) oxidiert wird. Die Ethansäure wird über den Citratzyklus und die Atmungskette in allen Zellen des Körpers unter Energiegewinnung zu CO2 veratmet. Das Zwischenprodukt Ethanal ist auch für den so genannten Kater verantwortlich, der eine Folge stärkeren Alkoholkonsums ist. Der Abbau des Ethanals wird durch Zucker gehemmt, daher ist die Katerwirkung bei süßen alkoholischen Getränken, insbesondere Likören, Bowlen und manchen Sektsorten besonders hoch. Da Dan Mihaltianu seine Schnäpse nicht alle probiert bzw. serviert, ist schwer zu sagen, wie süß und damit schwer bekömmlich sie im Einzelnen sind, d.h. wie sauber er sie destilliert hat. In kleinen Flaschen abgefüllt und etikettiert dienen sie ihm vor allem  als  Geschmacks- und Geruchs-Dokumente – und so heißt seine neueste Installation 2006 dann auch „Liquid Archive“.

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(*) Sowohl die christlichen als auch die sozialistischen Organisationen organisierten in der Frühzeit der Arbeiterbewegung regelrechte „Feldzüge“ gegen den Alkoholkonsum – vor allem in den Armenvierteln, wo man mit Hilfe des Schnapses der Trostlosigkeit „entfloh“ – ähnlich wie in der Armee. Der Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet diesen „Massenalkoholismus“ als einen „fast unvermeidliche Begleiter schneller und unkontrollierter Industrialisierung und Verstädterung“. Beide Prozesse „verbreiteten die Schnapspest über ganz Europa,“ wie es im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ unter dem Kapitel „Trunksucht“ 1892 heißt. Die „geselligen Vereine und Gesellschaften zur Selbsthilfe“ der Arbeiterbewegung bildeten jedoch bald für die Massen der aus den dörflichen Gemeinschaften herausgerissenen eine Art Gegenkraft. In ihnen galt quasi die Alternative:  Sozialismus oder Alkoholismus? Umgekehrt stieg nach jeder Niederlage der sich formierenden Arbeiterklasse auch wieder der Alkoholkonsum. In Berlin verdrängte dabei der Branntwein nach der gescheiterten Revolution von 1848 das damals noch obergärige Bier fast völlig. Die Gewerkschaften begannen gegen die „Schnapshöllen“ zu agitieren. Auf Druck der Basis wurde dafür von ihnen das Bier zur gesunden Volksnahrung aufgewertet – in der untergärigen (tschechischen) Brauart jedoch: „aechtes Bier“ genannt. In dieser harmloseren bzw. verharmlosten Variante wurde der Alkohol erneut – in den Arbeiterlokalen, wie früher auf dem Dorf – zum verbindenden Mittel der Geselligkeit: als Keimzelle einer neuen Gesellschaft. In Berlin entstanden die ersten „Bierschwemmen“. Anderswo kam es wegen des Verbots von Politik in Kneipen zu regelrechten „Bierkriegen“. In Kreuzberg wurde dagegen das Gartenlokal „Tivoli“ zu einem bevorzugten Ort von  Massenveranstaltungen. 1868 fand dort die erste Großdemonstration gegen den Mietwucher statt. 1875 hielt August Bebel dort eine Rede. 1877 feierten nach einem Wahlsieg der SPD 22.000 Menschen auf dem Kreuzberg und sangen die Marseillaise. Auch Hegel, der am Kreuzberg ein Haus besaß, trank dort sein Bier. Die Politisierung des Berges machte den Ort auch für die Rechten attraktiv: 1892 verabschiedeten die Deutsch-Konservativen dort ihr agrarisch-antisemitisches „Tivoli-Programm“. Inzwischen hatte die Schultheiss-Brauerei die Bierproduktion auf dem Kreuzberg übernommen: Neben Prämien und übertariflicher Entlohnung bot das Unternehmen seinen Arbeitern einen kostenlosen „Haustrunk“. Als die Abstinenzbewegung wieder Tritt zu fassen begann und nun auch gegen die gesunde Volksnahrung Bier vorging, gründete Schultheiss mit anderen Bierhändlern zusammen einen „Schutzbund“, den die SPD-Führung heimlich unterstützte. Viele in der Arbeiterbewegung wegen ihrer Aktivitäten arbeitslos gewordene „Aufwiegler“ waren unterdes Wirte geworden. Sie zogen die früheren Arbeitskollegen in ihre Kneipen, die von Karl Kautsky als „Bollwerke des Proletariats“ gepriesen wurden. Auch die Gewerkschaften eröffneten  Kneipen in ihren „Volkshäusern“. Dort machte man jedoch die bittere Erfahrung: Immer wenn die Funktionäre den Schankbetrieb selber bewirtschafteten, ging das Geschäft den Bach runter. Als selbstdisziplinierte Aufsteiger wollten sie die Trunksucht ihrer Gäste stets auf allzu „vernünftiges Maß“ (herunter-)bringen. Wenn sie die  Kneipen dagegen an Arbeitslose verpachteten, brummte der Laden. Allerdings wurde es oft laut, und manchesmal startete man auch direkt von dort aus nächtens Aktionen gegen den Klassenfeind, was einige Gewerkschaftskneipen schwer in Verruf brachte. Von daher das Lied „Kreuzberger Nächte sind lang“. Im Wedding war insbesondere der „Schwedenkeller“ berüchtigt: Dort trafen sich die „Männer der Faust“ – um Erich Mielke. In der „Bärenquelle“, am Ende der Oranienburger Straße, agitierte das kommunistische Ehepaar Coppi Bauarbeiter, seit 1975 weist darauf ein Schild am Haus hin. Zunächst löste sich die Alkoholfrage jedoch erst einmal mit Beginn des Ersten Weltkriegs – von selbst: Nicht nur dass das Gros der „trinkenden Klasse“ eingezogen wurde, den Brauereien wurden auch Produktionsbeschränkungen auferlegt. Erst 1925 durfte das Bier wieder mit vier Prozent Alkohol ausgeschenkt werden. 1935 wurde die Schultheiss-Brauerei auf dem Kreuzberg zum „NS-Musterbetrieb“ erklärt, im Krieg hielt dort der „Reichstrunkenbold“ Robert Ley, als Leiter der Arbeitsfront, eine Durchhalterede – und sicherte weitere Fremdarbeiterkontingente zu. 1949 produzierte der Betrieb erstmalig wieder in „Friedensqualität“. Der Direktor ließ die Restauration zu seiner Dienstvilla umbauen. Bis zur Wende hatte die inzwischen zum Dortmunder Konzern „Brau und Brunnen“ gehörende Schultheiß-Brauerei den Westberliner Mark so gut wie „bereinigt“, ab 1990 langsam auch den im Osten, dabei übernahm sich „Brau und Brunnen“ jedoch – und mußte Konkurs anmelden. Die Schultheiß-Brauerei auf dem Kreuzberg wurde dicht gemacht, die letzten Arbeiter bekamen eine großzügige Abfindung, mit der einige sich als Kollektiv „ausgründeten“. Nun soll das Gebäudeensemble samt Dienstvilla des Direktors zu einer „Erlebnisgastronomie“ umgebaut werden.

(**) Als man dieses Medikament erfand, wußte man zunächst nicht, wofür. Aber dann stieß man bei der Krankheit „Social Anxiety Disorder“ auf ein Einsatzfeld. „The way to sell drugs is to sell psychiatry illness,“ so beschreibt der Bioethiker Carl Elliott die mittlerweile allem Aufklärungsdenken entrückte Profitlogik in der Pharmabranche. Das Publikum nahm die „Sozialangst“ und ihr Gegenmittel Paxil jedoch zunächst nicht gut an: Bis 1998 gab es dazu ganze 50 Erwähnungen in den Medien. Der Pharmakonzern Glaxo SmithKline startete daraufhin eine mehrere Millionen Dollar teure Werbekampagne für das Mittel. Zugleich wurden von unten einige Selbsthilfeorganisationen – wie die „Anxiety Disorders Association of America“ und die Gruppe „Freedom From Fear“ angeschoben, sowie die „American Psychiatric Association“ mit ins Boot geholt. Diese begründeten ihre Kampagne für die Droge damit, daß Nonprofitorganisationen wie sie nie mit einer „potent public health message“ herauskommen könnten, wenn nicht ein mächtiger Pharmakonzern dahinter stünde, wobei sie jedoch den Namen des Produkts – in diesem Fall Paxil – nie nennen würden. Der für das Produkt verantwortliche Direktor bei Glaxo SmithKline sagte es so: „Jeder Anbieter träumt davon, einen unbekannten Markt zu entdecken und zu entwickeln. Genau das gelang uns bei der Sozialangst“.

Die Washington Post berichtete, daß sich die teure Werbungs- und Aufklärungskampagne auf dem heiß umkämpften Markt für Antidepressiva bezahlt gemacht habe – in seinem Aktionärsbericht  verkündete der Pharmakonzerns stolz: Paxil „became No.1 in the U.S. selective serotonin reuptake inhibitor markte for new retail prescriptions in 2000“. In den Medien wurde Paxil mehr als 1 Milliarde mal erwähnt. Die Pille für Stille, wie die Hamburger „Woche“ das in Deutschland unter dem Namen „Seroxat“ vertriebene Mittel nannte, hat allein in den USA  zehn Millionen potentielle Käufer – so hoch schätzen dort medizinische Experten der Paxil-Werbekampagne die Zahl der Sozialphobiker. In der auf Appeal und Appearance erpichten Gesellschaft  werden zudem immer mehr Leute von Lampenfieber befallen – in New York gilt das Lampenfieber bereits als „neue In-Krankheit“, wie die Woche schrieb. Auch dagegen helfe Paxil.

Für die US-Journalistin Anjana Shrivastava ist der irre Verkaufserfolg dieser Droge Ausdruck eines seit den Reaganomics übersteigerten Selbstdarstellungs- und Präsenz-Wahns, der vor allem den Mittelschichtfrauen zusetzt, bei denen die anerzogene Schüchternheit und Bescheidenheit in der ihnen auferlegten Karriere bremsend wirkt. Sie werden von dreierlei Anforderungen belastet: „Einmal vom Schönheits- und Jugendgebot, dann vom Mutterideal und schließlich vom Erfolg im Beruf. Ohne diese Drogen könnten die Frauen nur ein ganz, ganz einfaches Leben führen. Die Natur des Menschen ist vielfach den Anforderungen des modernen Großstadtlebens nicht mehr gewachsen, deswegen muß die Chemie hier helfend eingreifen“. Bei dieser ob nun pädagogischen oder pharmazeutischen Nachhilfe gehe jedoch etwas Wesentliches verloren: die Blödigkeit.

Sie ist nämlich eine Tugend! In seiner ausführlichen Studie darüber kommt Georg Stanitzek zu dem Resümee, „daß Blödigkeit letztlich nur ein Zögern des Individuums vor dem Eintritt in die Moderne darstellt“. Die Gebildeten im Vorfeld der Französischen Revolution haben der mangelnden Selbstdarstellungskraft des aufstrebenden Bürgertums gegenüber dem alten Adel denn auch ganze Ratgeber-Bibliotheken und -Zeitschriften gewidmet. Seitdem ist die „Blödigkeit“ als Wort aus der Mode gekommen, jedoch nicht der Fakt, daß man öfter als einem lieb ist, das Gefühl hat, sich wieder mal weit unter Wert verkauft oder sonstwie daneben benommen – d.h.: nicht im rechten Licht gezeigt zu haben.

Das Bildungsbürgertum des 18.Jahrhunderts unterschied hierbei jedoch: Was der Mann auf Teufel komm raus zu überwinden hatte, galt bei der Frau als überaus schicklich: Das Erröten, Stottern, verstockte Schweigen, schüchtern die Augen Niederschlagen etc.. Für Jean Paul liegt die „männliche Blödigkeit blos in der Erziehung und in Verhältnissen; die weibliche tief in der Natur“.  Zahlreich ist die Literatur, die Georg Stanitzek „zur männlichen Hochschätzung der weiblichen Einfalt“ zusammengetragen hat – angefangen mit Friedrich Schiller, über dessen eifriges Lob der biederen Hausfrau – z.B. im „Lied von der Glocke“ – die adligen Damen in seinem Lesesalon sich noch totlachen konnten. Spätestens ab dem ersten Schillerdenkmal war es Millionen deutscher Lehrer damit jedoch toternst. Als Inbegriff weiblicher Attraktivität galt – z.B. in den „Moralischen Wochenschriften“ – eine „beständige Schamröthe“. Stanitzek hat nur einen –  den Königsberger Polizeipräsidenten Gottlieb von Hippel – in der ganzen „Riege der Aufklärer“ ausmachen können,  der – anonym (!) – festgehalten hat, daß auch für Frauen gelte: „Hunger macht feige, Mangel blöde, Unterdrückung verzagt“, und der darauf pochte, daß man „ihre Vernunft durch unzeitige Blödigkeit nicht vor wie nach zurückhalten“ solle.

Dieser ganzen frühbürgerlichen Auftrittsschulung, vor allem für Männer, tritt dann Friedrich Hölderlin entgegen, der – ähnlich wie vor ihm Rousseau – auf seine Blödigkeit beharrt, die ihm zum eigentlichen „Dichtermuth“ wird und umgekehrt. „Blödigkeit – ist nun die eigentliche Haltung des Dichters“, schreibt Walter Benjamin. Neuerdings kann auch ihre Bekämpfung wieder künstlerisch wertvoll genannt werden: So wurde z.B. die autobiographische Bearbeitung der Paxil-Drogenvorläuferin „Prozac“ – d.h. der Roman „Prozac Nation“ von Elisabeth Wurtzel – ein voller Bucherfolg, der die Autorin reich und berühmt machte, obwohl sie nur die etwas magenfreundlichere Prozac-Vorläuferin Zoloft regelmäßig einnahm.

Aber mit Prozac kam eine neue Art von Drogen (ohne unmittelbare Nebenwirkungen) auf – die sogenannten Neutrotransmitter: sie sind inzwischen Kult. Seitdem gibt es tausende von Gehirnchemikalien. Prozac wurde nur als erster Brandname berühmt. Mitunter wird es mit Edronax abgewechselt, das die Konzentrationsfähigkeit unterstützt, jedoch kein „Glücksgefühl“ hervorruft. Prozac andererseits bewirkt bei vielen einen derartigen Antrieb, daß sie sich permanent gestresst fühlen – und indem sie ständig unter Strom stehen, neigen sie dazu, Probleme zu verdrängen. Die Antistress-Droge Zoloft  wiederum wird Leuten empfohlen, „die dazu neigen, unter zu gehen“. Dies alles laut Aussagen von Patienten und Ärzten, die mit diesen Drogen „arbeiten“. Wobei hinzugefügt sei, daß sich die Zahl der Depressionskranken in den USA ständig erhöht, erklärt wird das mit der zunehmenden Komplexität des Alltags und seinen wachsenden Unwägbarkeiten, aber auch mit falscher Ernährung und unzureichender Auftrittsschulung – Umschulung, dem „schrecklichen Lifelong-Learning“, wie Gilles Deleuze es nennt. Gleichzeitig werden aber auch immer mehr Medikamente entwickelt, für die man erst mal – mit Millionen von Dollar für Werbe- und Gutachterkosten – eine neue Krankheit (er)finden muß.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/14/rauschgifte-im-protestantischen-milieu/

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kommentare

  • Brecht – über Alkohol und Dialektik:

    In »Herr Puntila und sein Knecht Matti« (1940) hat Brecht den Hegel programmatisch auf die Bühne geholt. Schon der Titel konnotiert das berühmte Kapitel aus der »Phänomenologie«: Herr und Knecht.

    Brecht entkettet den Knecht, wenigstens intellektuell, indem er darauf abhebt, daß »die geistige Überlegenheit bei ihm liegt«.5 Und tatsächlich ist der Knecht Matti Herr der Situation. Dabei hilft ihm eine bestimmte Flüssigkeit, die immer wieder jene Transformation hervorruft, die den Herrn als Knecht und den Knecht als Herrn erscheinen läßt. Brecht schenkt Schnaps aus. Und der bewirkt, daß Hegels Kategorie des Selbstbewußtseins ins Schwanken gerät. Der Gutsherr Puntila ist ein selbstbewußtes Ekel, solange er nüchtern ist. Betrunken aber nimmt er das Bewußtsein seines Knechtes an und sagt Wahrheiten, die ihn selbst vernichten müßten.

    Das ist nicht nur der spektakuläre V-Effekt, mit dem Brecht hier arbeitet. Brecht arbeitet sich auch hochvergnügt an Hegel ab. Während er Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik theatralisch umsetzt und zeigt, daß Herr und Knecht tatsächlich Bedingungskategorien sind, die sich gegenseitig, nicht nur logisch, sondern gesellschaftlich, zur Voraussetzung haben, fällt ihm zu Hegel gleich noch eine Überbietung ein. Er läßt den Herrn und den Knecht in einer Person koinzidieren. Zwar nur im Zustand des Rausches, aber so kann er Hegel mit der wieder listigen Frage kommen, ob sich Selbstbewußtsein tatsächlich nur in der Vermittlung durch ein Fremdbewußtsein konstituiere – oder ob Bewußtseinsvermittlung nicht auch eine Flasche Schnaps leisten könne. Und Brecht tut gerade so, als würde er den Begriff der »Flüssigkeit«, der bei Hegel an dieser Stelle mehrfach vorkommt und auf Prozessualität zielt, ganz wörtlich nehmen wollen – geradezu todernst.

    Doch das alles ist mehr als nur Amüsement. Es ist vor allem eine Botschaft, die ermutigen will: Die Verhältnisse sind zwar dreckig, aber eigentlich kann man sie schon mit Kutscherschnaps wegspülen.

    (Aus „Dialektik mit doppeltem Boden“, Dieter Kraft in der Jungen Welt vom 27.11.09)

  • Rauschgifte sind überflüssig. Für Glücksgefühle reicht Meditation völlig aus – und die gibt es sogar umsonst.

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