In Berlin wird schon seit Jahrzehnten ein regelrechter Taubenkrieg geführt. Sie werden hier „fliegende Ratten“ genannt. Man soll sie nicht füttern, die Bezirksämter beauftragen ABM-Kräfte und Firmen, ihre Gelege zu entfernen oder durch Steineier zu ersetzen, sie werden mit Netzen und spitzen Stahlstiften sowie auch mit Chemikalien von Gebäuden und öffentlichen Einrichtungen ferngehalten. „Es gibt eine Vielzahl von Taubenvergrämungssystemen,“ schreibt z.B. die Schädlingsbekämpfungsfirma APC AG, weiter heißt es auf ihrer Webpage: „Am Körper der Tauben, in deren Niststätten und Exkrementen finden sich insgesamt etwa 110 verschiedene Krankheitserreger (Viren, Pilze, Bakterien, bakterienähnliche Mikroorganismen) und Parasiten (Einzeller, Würmer, Gliederfüßler). Als wohl bekanntester Parasit gilt hier die Taubenzecke (Argus reflexus), deren Verstecke und Entwicklungsherde im Umfeld der Taubennistungen liegen. Auf der Suche nach einer Nahrungsquelle wandern diese überwiegend nachtaktiven Blutsauger nicht selten vom Standort der Wirtsvögel ab, gelangen dabei in Wohnräume und stechen den schlafenden Menschen.“ Bei der Taubenbekämpfung unterscheidet die APC AG „zwischen Brut- und Schlafplätzen sowie Anflug- und Tagesruheplätzen“ – je nachdem kommen unterschiedliche „Taubenvergrämungssysteme“ zur Anwendung: „Vernetzung, APC-Impulssystem (Stromstöße), Mechanische Anflugsperren und Edelstahl-Spikes“. All diese Maßnahmen haben darüberhinaus bewirkt, dass Kinder und Jugendliche die Tauben mit Steinen bewerfen und viele Autofahrer versuchen, sie zu überrollen. Ganz anders im armen Bombay, wo sie zwei mal am Tag alle auf Stadtkosten gefüttert werden. Weil ihre Brut- und Schlaf- sowie Anflug- und Tagesruheplätze nicht eingeschränkt werden, sehen sie dort auch besser und gesünder aus. Außerdem wissen viele Bombaybewohner Taubengeschichten zu erzählen, es gibt sogar zwei heilige Männer, die sich ausschließlich den Tauben widmen, die das zu schätzen wissen. Die für Bombays Spiritualität wichtigsten Vögel sind allerdings die Krähen, denen bei einem Picknick zur Erinnerung an einen Verstorbenen und sein Lieblingsgericht die Ehre des ersten Bissens zukommt.
Vor einiger Zeit klagte die taz-Anzeigenabteilung im Fünften Stock über zwei Tauben: Sie wären gerade dabei, zwischen einem Eckfenster des Büros und dem angebauten Fahrstuhl zu brüten – wogegen niemand etwas habe, aber 1. kämen dadurch Taubenparasiten durch das undichte Fenster rein und 2. würde das ewige Gurren auf die Dauer alle nerven. Ähnliches hatte auch schon mal die Chefredakteurin erzählt: dass sie einem Taubenpärchen erlaubt hatte, daheim auf ihrem Balkon zu brüten. Hinterher sei dort alles verdreckt gewesen und vor allem wäre das ständige Gurren nicht auszuhalten gewesen. Bei einem Freund von mir brütet schon seit Jahren eine Taube auf dem Balkon, den er allerdings nicht benutzt. Sie setzt sich jedesmal im Frühjahr auf das Balkongeländer und gurrt so lange bis er sie bemerkt – und sogleich ihr Nest in Ordnung bringt, das sie daraufhin erneut in Besitz nimmt. Auf dem Balkon der taz-EDV-Abteilung zwischen Vierten und Fünftem Stock brütete im vergangenen Jahr ebenfalls mal ein Taubenpärchen – in einem großen Blumentopf. Weil sie zu viel Dreck machten, zerstörten die EDVler ihr Nest anschließend. Seitdem kommen die Jungen jedoch regelmäßig vorbei und kucken, was aus ihrer Kinderstube geworden ist.
Als mir das mit dem Taubennest im 5. Stock mitgeteilt wurde, lagen noch keine Eier im Nest, deswegen wollte ich ein kleines Taubenexperiment wagen – und zwar schwarze Falken-Silhouetten ans Fenster kleben: Vielleicht würden sie dem Pärchen dort das Brüten verleiden. Statt aber die Aufkleber einfach zu kaufen, bat ich eine Anzeigenlayouterin, sie zu „gestalten“. Sie sagte auch zu, hatte jedoch erst einmal keine Zeit „für so etwas“. Währenddessen wurden die Beschwerden aus dem 5.Stock immer eindringlicher – so dass der Haupthausmeister schließlich eine Firma kommen ließ, die kurzerhand auf allen Fenstersimsen 15 Zentimeter lange „Edelstahl-Spikes“ anbrachte. Nun war fast das ganze taz-Gebäude für Tauben eine No land area geworden.
Etwa zur gleichen Zeit bekam ich einen Artikel von Makuto Ozaki , ein in einer Kudamm-Seitenstraße lebender japanischer Philosoph. Sein Text handelte davon, dass eines Tages eine junge Taube vor seiner Wohnungstür saß, die er großzog. Anschließend brütete sie in seiner Toilette noch viele Eier aus – bis die Hausverwaltung ihm das Halten und Füttern von Tauben in seiner Wohnung untersagte – und er schweren Herzens das Toilettenfenster verbarrikadierte, damit seine Taube sich einen anderen Nistplatz suchen mußte. Für die taz war dieser Artikel zu lang. Aber als Peter Berz, Cord Riechelmann und ich wenig später ein Biologiebuch mit dem Titel „Anti-Darwin“ planten, besuchte ich Makoto Ozaki noch einmal. Er gab mir für das Buch eine noch längere Version seiner Taubengeschichte. Diese begann damit, dass er seinen Job an der FU verloren und seine Freundin ihn verlassen hatte. Dafür saß plötzlich jene junge Taube vor seiner Tür, deren Gurren ihm fortan bedeutete, dass er doch nicht ganz alleine war. Übrigens war es ein Männchen, dass sich dann ein Weibchen suchte, um sich mit ihm ein Nest in Makoto Ozakis Toilette zu bauen. Die Geschichte endete wie die o.e. Kurzfassung – traurig.
Eher mystisch war dagegen eine Taubengeschichte, die Mathias Broeckers mir dann gab. Mit ihr endete die Biographie über das serbische Erfingergenie, den Elektroingenieur Nikolai Tesla, der in seinen letzten New Yorker Lebensjahren vor allem Tauben fütterte. Ihretwegen mußte er, der allein lebte, immer wieder sein Hotel wechseln. Aber die Tauben waren ihm wichtiger als alles andere. Seinem Biographen John O’Neill erzählte Tesla einmal, warum: „Ich habe immer die Tauben gefüttert, Tausende von Tauben. Über die Jahre hin müssen es wirklich Tausende gewesen sein – denn wer weiß…Aber da gab es eine Taube – einen wunderschönen Vogel mit hellgrauen Tupfen auf dem Gefieder-, die war wirklich etwas Besonderes. Es war ein Weibchen. Ich hätte das Tier unter Hunderten wiedererkannt. Wo ich mich auch gerade aufhielt – diese Taube fand stets zu mir. Wenn ich sie sehen wollte, mußte ich es mir nur wünschen und sie rufen, und sie kam herbeigeflogen. Sie verstand mich vollkommen und ich verstand sie vollkommen. Ich liebte diese Taube…Ich habe sie geliebt, wie ein Mann seine Frau liebt, und sie hat mich auch geliebt. Wenn sie krank war, wußte ich das sofort; sie kam dann zu mir ins Zimmer, und ich blieb tagelang bei ihr. Ich pflegte sie solange, bis es ihr wieder besser ging. Diese Taube war die Freude meines Lebens. Wenn sie mich brauchte, war mir alles andere unwichtig. Und solange ich sie bei mir hatte, gab es einen Sinn in meinem Leben.
Eines Nachts, als ich im Bett lag und wie gewöhnlich in der Dunkelheit über ungelöste Probleme nachdachte, kam sie zum offenen Fenster hereingeflogen und ließ sich auf dem Tisch nieder. Ich wußte, dass sie mich brauchte; sie wollte mir etwas wichtiges mitteilen, und ich stand auf und ging zu ihr. Als ich sie ansah, begriff ich sofort, was sie mir sagen wollte – sie würde bald sterben. Und dann, als ich dies verstanden hatte, erstrahlte ein Licht in ihren Augen – ein unbeschreibliches Licht. Ja, es war ein wirkliches Licht…Weit heller als alles, was ich jemals mit den stärksten Lampen in meinem Laboratorium erzeugt hatte. Als diese Taube starb, ging etwas in meinem Leben verloren. Bis zu jenem Tag hatte ich die Gewißheit, dass ich meine Arbeit vollenden könnte – wie hoch die Ziele auch sein mochten, die ich mir dabei setzen würde. Doch als dieses Etwas aus meinem Leben entschwunden war, wußte ich, dass mein Lebenswerk abgeschlossen war. Ja, ich habe über die Jahre hin Tauben gefüttert; ich füttere sie auch heute noch. Es müssen Tausende gewesen sein – denn schließlich: wer weiß…“
Ich erwähne diese ganzen Taubengeschichten und vor allem die letzte hier, um vielleicht doch noch ein Umdenken bei der taz in bezug auf Tauben zu bewirken. Denn irgendwo muß man doch anfangen, damit aufzuhören, alles nach zu machen, was die Welt um einen herum vorexerziert – ich meine Hausbau, Versicherungen, Urlaub, Kinder kriegen, WM kucken, Auto kaufen, Brüste oder Penis vergrößern, piercen und tätowieren, bunte Brillen tragen, mit dem Rauchen aufhören, Zur Wahl gehen, Meinungen äußern, Tauben vergrämen usw. usw….
Als Don Quijote die Gegend um El Toboso unsicher machte, durften nur Adlige und Religiöse Orden einen Taubenschlag besitzen und Tauben galten damals als Delikatesse.
http://cvc.cervantes.es/obref/quijote/edicion/parte1/parte01/cap01/nota_01.htm#%5B8%5D