Als Westberlin noch eine Insel der Seligen war, ging man als Kreuzberger mit seinen theoretischen Problemen zu Mao Meyer, dem Aushilfshausmeister und Kopiergerätewart der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB), bei praktischen Problemen dagegen zu Kutte, einem der Hausmeister des Urban-Krankenhauses (UKH), der ein begnadeter VW-Bus- und Peugeot-504-Schrauber war. Im UKH gibt es heute überhaupt keine Hausmeister mehr, sondern nur noch ein serviles „Service-Management“, wo die diensthabende Dame einen sofort spitz zurechtweist – wenn man ihr mit einem Problem kommt: „Wenden Sie sich bitte an die Geschäftsführung, wir sind nicht berechtigt, Ihnen Auskunft zu geben.“ Päng!
„Isch mach dich urban,“ sagen aber nach wie vor die vor allem aus schwäbischen und anatolischen Siedlungsgebieten stammenden jungen Leute in Kreuzberg – und wollen damit in aller gebotenen Kürze andeuten: „Ich hau dir gleich so eine rein, dass du erst auf der Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses wieder zur Besinnung kommst – wenn überhaupt!“ Das Urbankrankenhaus – idyllisch zwischen Urbanstraße und Urbanhafen gelegen – war für Kreuzberg einmal ungefähr das, was das Hotel Kempinski für die Kudamm-Schischis war. Beides ist am Verschwinden! Und die Empfangshalle (die Visitenkarte!) des Urbankrankenhauses – das war immer die Notaufnahmestation. Hier sammelten sich nicht nur regelmäßig die „Live Fast and Die Young“sters sondern auch die Fernseh- und sonstigen Reporter aus aller Welt, wenn es wieder mal galt: Am 1.Mai Nachts und oder am Neujahrsmorgen live aus der Frontstadt zu berichten. Da standen die noch artikulationsfähigen Notaufnahmen jedesmal für janz Berlin gerade. Und der „Problembezirk“ selbst für ein fernes, gleichsam reterritorialisiertes Echo der 68er-Parole: „High sein, Frei sein, Terror muß dabei sein“. Wobei schon die französischen 68er-Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari in diesem Zusammenhang zu bedenken gaben, dass das „Revolutionär-Werden“ etwas ganz anderes ist als „die Revolution – rückblickend“! Bereits die englischen Romantiker wurden nicht müde, Cromwell zu verdammen, „und ihre Argumente ähnelten verblüffend den heutigen – z.B. über Stalin“. Am 1.Mai warfen CNN und BBC abschließend jedes Mal noch einen kurzen Blick nach drüben: auf die ordentliche staatliche Demonstration in Ost-Berlin (einst Pankow genannt) – quasi als „Ausbremser“, wie man die etwas abrupte Abrundung eines Action-Features auch nennt .
Die ersten fundierten Berichte über die Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses kamen unterdes wenig überraschend aus dem Inneren der Station selbst: Und zwar unregelmäßig – als „Essays“ in der Zeitschrift Transatlantik – von dem damals dort als Arzt arbeitenden Dr. Michael de Ridder. Seine Texte waren noch besser als die heutigen von Dr. med. Jakob Hein, der kürzlich einen schönen aufklärerischen Artikel über den Ärztestreik an der Charité veröffentlichte. Leider schrieb er nichts über den anschließenden Streik der Krankenschwestern. Vielleicht lag es daran, dass selbst die Patienten, wie eine Pflegekraft auf der Orthopädie meinte, „nichts davon spürten“.
Die Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses wurde vor allem durch zwei Dokumentarfilme von Antonia Lerch berühmt, in der eine in den Neunzigerjahren auf der Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses arbeitende junge Krankenschwester die Hauptrolle spielte. Auf der Berlinale bekam sie jedesmal großen Applaus – wenn sie nach der Premiere leibhaftig vor das Publikum trat. Ihre Eltern stammten aus der Türkei und lebten ebenso wie sie in Kreuzberg. Der letzte Film mit ihr hieß „Vor der Hochzeit“, dies betraf aber nicht sie sozusagen persönlich, sondern eine Freundin von ihr. Leider habe ich nicht den Namen dieser Krankenschwester von der heute so genannten „Rettungsstelle“ des Urbankrankenhauses herausbekommen können. Auch da wird man nun an die „Geschäftsführung“ verwiesen („Wir dürfen Ihnen leider keine Auskunft geben“). Leiter dieser Aufnahmestation ist heute Michael de Ridder – und mittlerweile außerdem noch Drogenexperte. Als solcher veröffentlicht er auch weiter Texte. Umgekehrt druckte das Ärzteblatt unlängst ein Porträt über ihn ab.
Ich erzähle das alles aus der Distanz eines Nicht- oder Nochnichtpatienten, der aber – wie viele andere Kreuzberger auch – Sonntags gerne an Urbankrankenhaus und -hafen vorbeischlendert. Früher, um in dem dort vor Anker liegenden kurdischen „Theaterschiff“ einen Kaffee zu trinken, heute um zu kontrollieren, ob die Schwäne dort noch keine Immunschwäche zeigen – und um gesehen zu werden, denn immer mal wieder trifft man auf der Wiese oder den Bänken – zwischen dem Hafenbecken und dem Haupteingang des Urbankrankenhauses – den einen oder anderen Bekannten, der auf einer der Stationen liegt – und schon wieder oder noch immer so gesund ist, dass er draußen herumlaufen, mindestens -humpeln kann und das auch darf. Im Frühjahr war das ein nigerianischer Kolumnistenkollege, den man auf die Onkologische überwiesen hatte. Wir beide spazierten von dort aus bis zur Minigolfplatz-Kneipe am Ende des Urbanhafens. Sie wird leider nicht mehr vom Italienerkollektiv bewirtschaftet, wie ich dann feststellen mußte, obwohl wir uns 1992 als Stammgäste mit mehreren Veranstaltungen für die Verlängerung ihrer Pacht beim Senat eingesetzt hatten und zunächst auch erfolgreich gewesen waren.
Noch früher, Ende der Sechzigerjahre, hat man gelegentlich auch mal einen Freund, der auf einen schlechten LSD-Trip geraten war, zur Aufnahmestation des Urbankrankenhauses begleitet, damit man ihn dort „wieder runterhole“, wie man paradoxerweise sagte, denn genaugenommen ging es dabei um ein „Wieder Hochholen“, weil der- oder diejenige auf dem Trip, angestoßen von „nüchternen“ Freunden oder Bekannten, in eine Art inneren Brunnen gefallen war, der schier grund-los schien. 1972 verteilte ich auch mal vor dem Urbankrankenhaus als Teilnehmer an Ulf Kadritzkes „AG Gesundheit und Soziales“ des FU-Instituts für Soziologie Flugblätter von und für die Krankenschwestern, in denen höhere Gehälter gefordert wurden. Einige Jahre später gab es so viele Kreuzberger, die nach Indien getrampt oder geflogen – und dann von dort mehr oder weniger euphorisch überdreht wieder zurückgekehrt waren, dass das Urbankrankenhaus eine eigene „Indien-Fahrer-Reintegrations-Therapie-Gruppe“ einrichtete, aus der dann die berühmte InFaRG-Therapie hervorging, die heute bei vielen „Displaced Persons“ angewandt wird, nur dass diese heute eher depressiv als manisch sind. Bei den Indienfahrern waren dann auch eher deren Freunde und Verwandte die treibende Kraft zu ihrer Therapie.
To cut a long story short: Als der Berliner Senat – um die Jahrtausendwende – damit drohte, das Urbankrankenhaus aus Kostengründen zu schließen, war es deswegen so, als würde man den Wilmersdorfern und Charlottenburgern das Kempinski oder die noch „bedrohteren“ Kudammtheater abreißen. Die Empörung war also enorm. Zudem handelte es sich bei den von dieser zweiten Krankenhausschließung im Bezirk Betroffenen um einen mittlerweile besonders empörungsgeübten Bevölkerungsteil, zumeist aus Ex-Studenten und Ex-Arbeitern bestehend, die diesbezüglich eine Ehre zu verteidigen hatten. Die erste Krankenhausschließung betraf einst das Bethanien, um dessen Wiedereinrichtung 1970 derart zäh aber vergeblich gekämpft worden war, dass einer der Rädelsführer (von der KPD/AO-Initiative „Poliklinik“) deswegen sogar für ein Jahr ins Gefängnis gehen mußte.
Das letzte, was ich über das Urbankrankenhaus hörte – war, dass eine Übergangsstruktur namens „Vivantes“ das von ihr sogleich in „Klinkum am Urban“ umbenannte Krankenhaus übernommen hatte. Und das letzte, was ich über diesen Strukturfake hörte bzw. las, war eine Meldung im Tagesspiegel: „Vivantes will weiter sparen!“ Eine Nachricht, die mich angesichts der allgemeinen neoliberalen Nachrichtengemengelage nicht sonderlich überraschte. Aber dann erfuhr ich aus sozusagen erster Hand Konkreteres – von meinem Nachbarn Bülent, der für eine Unternehmensberatungsfirma tätig ist, die sich auf Staatsverschlankungen spezialisiert hat, weswegen er an sich alles andere als privatisierungsfeindlich eingestellt ist. Er meinte, dass dort bereits derart viel Personal – jedenfalls auf einer Station, wo er gerade seine kranke Schwester besucht hatte – eingespart worden wäre, dass es schon nicht mehr schön sei: Nur noch zwei völlig überforderte Krankenschwestern gäbe es dort – die eine gebiete und die andere verbiete einem z.B. die Einnahme bestimmter Tabletten, zudem würden sie die ihrer Meinung nach deutschunkundigen ausländischen Patienten, besonders die Alten, immer nur in einer Art Pidgintürkisch ansprechen: „Du jetzt umdrehen!“ Dabei würden diese längst besser Deutsch als die beiden Krankenschwestern können. Und dann sei es dort auch sehr dreckig geworden: Es gäbe nur eine – ebenfalls völlig überforderte – Putzfrau für die ganze Station. Bülent fragte sich, ob wir für unsere Krankenkassenbeiträge nicht eine bessere Behandlung verlangen könnten oder ob man diese eventuell noch mal erhöhen müßte…
Bezeichnenderweise las ich wenig später in einem Interview, das der Tagesspiegel mit dem Leiter der Rettungsstelle des Vivante-Klinikums am Urban, Dr. Michael de Ridder geführt hatte: Bei ihm würden sich neuerdings die Fälle häufen, da personell und fachlich wohl überforderte Betreuer in Altenheimen die ihnen anvertrauten pflegebedürftigen Menschen regelrecht verwahrlosen ließen – manchmal sei es schon fast zu spät, wenn man sie ins Urbankrankenhaus einliefere. Auch in den Altersheimen wurde also schwer gespart! Schon kursiert die bange Frage in einem Kreuzberger Altenheim, dessen Bewohner ebenfalls gerne am Urbanhafen flanieren, um die Schwäne zu füttern – falls es das Wetter erlaubt, wie sie sich auszudrücken belieben: „Wenn der erste unter uns an der Vogelgrippe erkrankt, werden wir dann auch alle gekeult?!“ Bülent und ich, wir waren uns einig, dass eigentlich alle Institutionen mit geschlossenem Milieu im Übergang von der Disziplinar- zur Kontroll- und Kommunikationsgesellschaft vom Verschwinden erfaßt werden: Uni, Schule, Kita, Knast, Irrenanstalt, Fabrik, Firma, Krankenhaus, Altersheim usw.. indem sie gezwungen sind, sich zu öffnen. Die Massen und ihre Ströme werden dabei fragmentiert, atomisiert, digitalisiert – und zu elektronischer Heimarbeit, Billigjobs, Ich-AGs, projektbezogenen Verträgen etc. verdammt. Deleuze und Guattari fügten dem in ihrer „Schizo-Analyse“ noch das „schreckliche Lifelong Learning“ hinzu – und prophezeiten, dass wir uns angesichts des dabei heraufdämmernden neuen „Faschismus“ noch nach der guten alten Disziplinargesellschaft zurücksehnen werden. Zumal die neue Kontrollgesellschaft dabei u.U. auf die (Folter)-Techniken der Souveränitätsgesellschaften zurückgreife. Die Begriffe Kontrolle und Kommunikation sind zentral geworden – seitdem Norbert Wiener 1948 sein Buch „Cybernetics or Control and Communiation in the Animal and the Machine“ veröffentlichte: dem kybernetischen Grundlagenwerk, auf dem sich dann Gen- und Computertechnik als neuer „industriell-akademisch-militärischer Komplex“ entwickelten.
Aus dem Buch „Einschluß“ – über den Reformknast Tegel von Hans-Joachim Neubauer – weiß ich, dass einige Knackis aus dem Osten bereits ihre alten DDR-Knäste vermissen – so schlimm ist es dort anscheinend geworden. Ansonsten muß man aber wohl Deleuze recht geben, dass es zuerst die Massen an der Peripherie und in den Banlieues sein werden, die rebellieren. Als erster hat der Publizist und ehemalige Maoist Karl Schlögel auf ihre zwar vergebliche aber deswegen umso lautere Sabotage der dräuenden Kontroll- und Kommunikationsgesellschaft in Kreuzberg hingewiesen – und dafür sogleich den großen Tagesspiegel-Literaturpreis bekommen, weil er nach dieser Niederlage der letzten „Autonomen“ das daraufhin auch im „Wrangel-Kiez“ einsetzende postmoderne „Stop-and-Go“ (das für ihn als „Kiez-Theoretiker“ mit der für den Verkehr wiedereröffneten Oberbaumbrücke einsetzte) emphatisch begrüßt hatte, wie er später noch einmal in der FAZ ausführte.
Gleichwie, ich traf neulich jedenfalls den Mitbegründer der autonomen Rathausfraktion KPD/RZ (Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum) Mao Meier – auf einen der Bänke zwischen Urbankrankenhaus und Urbanhafen sitzend: Er war nicht besonders gut drauf und trug dazu ein passendes T-Shirt – mit dem Aufdruck: „Too Old to Die Young“. Wir wechselten nur ein paar freundliche Worte. Kurz zuvor hatte ich bereits einen anderen Kreuzberg-Aktivisten, Hans, in dem im Urbanhafen liegenden türkischen Fischrestaurantschiff „Iskele“ getroffen. Er ist derzeit in dem neuerlichen Streit um die Nutzung des Bethanienkrankenhauses engagiert, indem sich noch einmal (ein letztes mal?) Kunst- und Sozialinitiativen gegenüber stehen. Darum ging es ihm aber gar nicht, denn er fragte mich, ob ich auch gehört hätte, dass das Urbankrankenhaus demnächst an einen amerikanischen Pensionsfond, auch US-Investor genannt, verkauft werden soll. Ich wußte von nichts. Wir waren uns aber einig, wenn ja, dann würde dieser Deal ganz bestimmt in die Hose gehen und aus dem Krankenhaus zuletzt ein weiteres Hotel werden…Denn hierzulande nehme man 1. nicht gegen jedes soziale Problem Tabletten, die 2. ohnehin nicht so wirken wie bei den gentechnisch fixierten Amis und 3. habe man es hier tendenziell immer eher mit Psychosen zu tun, in Amerika dagegen mit Neurosen. Zum Beweis konnte ich mich auf die Erforschung des türkischen „Dezentrierungs“-Gefühls durch die Istanbuler Ärztin Emy Cohn berufen und Hans auf den am „Kotti“ seit Jahren schon praktizierenden ungarischen Ethnopsychoanalytiker Dr. Laszlo Kruppa. Letzterer würde uns wahrscheinlich sofort zustimmen: Im Gegensatz zum familialen Ödipustheater ist der Wahn weltlich-historisch…Man deliriert über Chinesen und Inder, Deutsche und Amis, Kartoffeln und Gurken, Hermann den Cherusker und Dschingis Khan, Muslime und Juden, Macht und Produktion – aber nicht über Mama-Papa!