vonHelmut Höge 04.08.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

Mehr über diesen Blog

Im taz-Gebäude gibt es gleich mehrere Partyräume: den kleinen Konferenzraum mit der Dachterrasse in der 4,5. Etage mit den Resten von Randys Bar, den großen Konferenzsaal im 1. Stock mit den Resten von Nancys Café und das neue taz-Café im Erdgeschoß mit dem Garten an der Seite. Dennoch wird auf den häufigen Feiern nur selten getanzt. Um so mehr dagegen im Garten bzw. im Aufenthaltssaal des Altersheimes nebenan. Darüber stöhnen besonders die taz-Mitarbeiter aus jenen Abteilungen, die Fenster nach hinten auf den Hof raushaben, denn sie kriegen jedesmal die ihrer Meinung nach entsetzliche Tanzmusik mit, die der Hausmeister oder jemand anders dort im Altersheim auflegt: “So ein Tag, so wunderschön wie heute…”, “Heißer Sand – und die Erinnerung daran…” und Ähnliches. Stundenlang. Besonders die tazler, die sich dem Rentenalter nähern, fühlen sich persönlich angegriffen von diesen Festivitäten.

Kommt noch hinzu, dass es schon eine 15 Jahre währende Hassbeziehung zum Hausmeister des Altersheimes gibt, der immer mal wieder über den kleinen Hof brüllt, wenn ihn irgendwas stört. Einmal hat er sogar zur Abwehr der auf “seinem Grundstück” parkenden taz-Autos einen Poller waagerecht einbetoniert. Mich hat er zuletzt zusammengeschissen, weil im taz-Gebäude einige Toilettenfenster über Nacht offen standen, die wegen des aufgekommenen Sturms die ganze Zeit klapperten, so dass “seine Alten” nicht schlafen konnten. Trotz oder gerade wegen aller Blockwart-Mentalität ist er stets bemüht, die Senioren vor allen Behinderungen durch die jungen Rotzlöffel von der taz und ihren ebenso schnöseligen Lieferanten zu schützen. Dabei scheut er auch nicht vor polizeilichen Anzeigen zurück. Oft betrifft es jedoch die taz gar nicht, sondern das Restaurant Sale e Tabacchi im taz-Gebäude, dessen Küche zum Hof rausgeht – aber der Altenheim-Hausmeister macht da keinen Unterschied.

Im Gegensatz zu den Hausmeistern des Arbeitsamtes dahinter, mit denen die taz noch nie aneinandergeraten ist, die wenden sich wiederum wenn überhaupt stets an das Restaurant, weil deren Terrasse an den Garten des 2005 erweiterten Arbeitsamtes grenzt. Wir bekommen vom Arbeitsamt immer nur ihre Klientel mit – die zu hunderten täglich vorne am taz-Café vorbeigeht. Ungefähr jeder Zwanzigste fragt: “Wissen sie, wo es hier zum Job-Center geht?” Deprimierend! Die meisten, die so fragen, sind kaum achtzehn Jahre alt – und wenn es irgendwo in Ostelbien keine Arbeitsstellen gibt, dann im Jobcenter zwischen taz, Altersheim, Charlottenstraße und Friedrichstraße – wo noch der Naziadler auf dem Dach thront. Dort wollten sie diese armen Schweine anscheinend aber auch nicht mehr haben, denn vor einiger Zeit haben sie ihr “Jobcenter” ausgelagert – in die Erdgeschoß-Etage des neuen Springer-Verlagskomplexes, der schon fast ein eigenes Stadtteil für sich bildet. Dort vor dem Eingang stehen die Jobsuchenden nun jeden Morgen bei jedem Wetter in einer langen Schlange und müssen sich von ihrem Sachbearbeiter anhören: “Leider habe ich für Sie nichts dabei, aber – is  klar, Sie versuchen das dann selbst weiter mit Vitamin B!” Das hat tatsächlich mal ein Sachbearbeiter dieses Arbeitsamtes stereotyp jedesmal zu mir gesagt, wenn ich mal wieder gezwungen war, ihn aufzusuchen. Die CDU machte sich nebenbeibemerkt heute mit einem Vorschlag pampig, den Arbeitslosen den Urlaub zu streichen – damit sie noch öfter bei ihrem Sachbearbeiter antanzen und sich diesen dämlichen Satz anhören müssen. Ich wußte lange Zeit gar nicht, was “Vitamin B” bedeutet, fragte dieses 25jährige wichtigtuerische Riesenarschloch aber auch nicht, sondern nickte nur tapfer – und ging wieder nach Hause, nachdem ich drei Stunden dort im Wartesaal (damals wenigstens noch im Trockenen) gesessen hatte. Irgendwann verriet mir ein taz-Redakteur, dass mit “Viamin B” Beziehungen gemeint seien. Ihn hatte ein anderer Sachbearbeiter des Arbeitsamtes ständig mit dem selben Satz abgefertigt. Um das ausgelagerte “Jobcenter” haben sich mittlerweile gleich Wegelagerern jede Menge Beratungsfirmen für Ich-AGs, Selbständigkeit und Arbeitslosigkeit angesiedelt.
Neulich war es wieder mal so weit, da fiel nicht das Idiotenwort “Vitamin B”, sondern da tanzte mal wieder das Altersheim nebenan, dazu hatten sie noch ihre Musikanlage voll aufgedreht, so dass alle, die wegen der Hitze die Fenster nicht einfach schließen konnten oder im taz-Cafégarten saßen, laut aufstöhnten – und darüber jammerten, dass sie nie so enden möchten: überflüssig, infantilisiert, weggeschlossen, wohlmöglich noch chemisch ruhiggestellt und einmal im Monat zum Tanz befohlen. Das alles konnten sie aus der Musik heraushören.
Ich hatte mich kurz zuvor gerade mit dem Altern befaßt – und dazu mit zwei älteren Immortalisten im “Blauen Affen” am Hermannplatz getroffen, wo ich sowieso mehrmals hin mußte, um bei Karstadt Ventilatoren für die sich immer mehr aufheizenden taz-Arbeitsplätze zu kaufen.

Die beiden Altersforscher machten da weiter, wo ihre russischen Vordenker einst aufhören mussten. In der Regierungszeitung Iswestija hatten diese noch 1922 erklärt: “Wir stellen fest, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.” Und da ist sie auch noch heute, wobei das vor allem für die Reichen gilt, die ein großes Vermögen angehäuft haben – und nun möglichst lange was davon haben wollen.

Die Armen sind dagegen eher froh, wenn ihr Lebenskampf sich nicht ewig hinzieht. Für beide gilt jedoch das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – insofern alle Organismen zwar dazu neigen, mit “Zinseszinsen” zu wachsen, weil das, was durch Wachstum gebildet wird, selbst zu weiterem Wachstum fähig ist, aber der “Zinssatz” fällt – weil der Organismus mit einem von Jahr zu Jahr niedrigeren Zinssatz akkumuliert.

Irgendwann wollte ich von den beiden Neuköllnern wissen, warum die Nazis uralt werden, die Linken dagegen wie die Fliegen umfallen. “In einer Welt, die nur die Jugend achtet, sind die Menschen nach und nach aufgezehrt”, meinte der eine, Hans, wobei er sich auf Houellebecq bezog. Das erinnerte den anderen, Dirk, an die Kamtschadalen, bei denen es früher so war, dass die Alten zuletzt noch einmal dem Gemeinwohl dienten, indem sie sich von den Jungen aufessen ließen. “Nein, aber im Ernst: Wahrscheinlich leben die Nazis hier einfach in einem optimalen Milieu.” Biologisch treffe jedoch für alle gleichermaßen zu, dass ihre Körperzellen – so wie auch die Einzeller, die sich durch Teilung reproduzieren – potentiell unsterblich sind. “Es kann also nur an ihrer nachlassenden Kommunikation und Koordination untereinander liegen,” fügte Hans hinzu, wobei er unsere Körperzellen und nicht die Nazis bzw. die Linken meinte.

Dirk fiel dazu ein: “Fische altern nicht, sie werden nur größer,” im übrigen gäbe es in der Natur eigentlich sowieso nicht das, was wir einen “natürlichen Tod” nennen, dieser sei quasi ein Haustierphänomen. “Senilität ist ein Kunsterzeugnis der Zähmung. Wie übrigens auch das Gegenteil: der kindliche Gesichtsausdruck bis ins hohe Alter. Die wilden Tiere werden dagegen früher oder später fast alle gefressen, wobei diese Gefahr mit wachsendem Alter steigt, obwohl sie zugleich auch schlauer werden. Der mittlere Lebensabschnitt ist aber auch für uns Menschen der beste…”

“Das sehen die Lebensversicherungsgesellschaften bestimmt genauso,” unterbrach ich ihn. Hans wollte daraufhin wissen, ob die Versicherungen auch prämienmäßig berücksichtigen, das es entgegen unserer Vorstellung, erst eine Periode der Entwicklung und dann eine des Verfalls durchmachen zu müssen, in Wirklichkeit so sei, dass wir “unser Leben mit einer Periode extrem schnellen Verfalls beginnen und es mit einem sehr langsamen und sehr geringen Verfall beenden”.

Darauf wusste ich keine Antwort. Wegen dieses “geringen Verfalls” seien sie, die Immortalisten, ja gerade so optimistisch – was die Fortschritte der Zellforschung und der Ersatzteil- bzw. Organimplantation betrifft, fügte er hinzu. “Vilem Flusser hat das einmal so gesagt: Das Zeitalter der wahren Kunst beginnt erst mit der Herstellung selbstreproduktiver Werke. Und dort beginnt auch die Freiheit, wenn man Houllebecq glauben darf. Zumindest kann man bei geklonten Lebewesen, genauso wie bei eineiigen Zwillingen, problemlos jedes Gewebe transplantieren. Kein Tod ist ‘natürlich’, niemand stirbt lediglich an der Last der Jahre.”

Aber diese “wachsende Last”, wagte ich einzuwenden, sei doch gerade “natürlich”, wo könne man das besser als in Neukölln beobachten. Diese Bemerkung wurde von meinen Gesprächspartnern als der Sache “nicht besonders dienlich” abgetan – es war ihnen sehr ernst damit. Deswegen verkniff ich es mir auch, sie abschließend mit Matthäus zu fragen: “Wer aber unter Euch vermag dem Maß seines Lebens auch nur eine Elle hinzuzufügen?”

Diese ganzen Immortalisten-Weisheiten waren den von der Altersheim-Tanzmusik bedrückten tazlern jedoch viel zu utopisch – unpraktisch. Da kam uns Mathias Broeckers gerade recht, der sich Gedanken über eine alternative (taz-gemäße) Altersendversorgung gemacht hatte. Mich hatte früher schon einmal Holger Klotzbach mit einem ähnlichen Projekt vertraut gemacht. Er tourte damals gerade mit den “3 Tornados”, einer linken Kabarettgruppe, durch die BRD – und wir hatten uns in einem Dorf, wo ich arbeitete, verabredet.

Heute betreibt er die “Bar jeder Vernunft” und das “Tipi am Kanzleramt”. Von dem Gewinn daraus hat er sich mit seinem Freund eine “Hütte” in Lüchow-Dannenberg angeschafft. Damals wollte er mich überreden, den Verwalter eines “Tornado-Altersheims” zu spielen, das sie sich aber erst noch anschaffen wollten – in Lüchow-Dannenberg. Da könnte ich mich doch dann um den Garten kümmern und auch ein paar Tiere halten, meinte er.

Die Idee einer Seniorenkommune fand ich gut, dort den Hausmeister zu spielen allerdings weniger. So eine ähnliche Kommune gab es auch in Bremen, wo der Anwalt Heinrich Hannover und der Radio-Bremen-Intendant Gert von Paczensky mit noch ein paar anderen “Altlinken” in einem Haus zusammenlebten.

In der taz ging derweil der erste Mitarbeiter in Rente – Amos Wollin in Tel Aviv -, und die Zeitung räumte ihm eine Art Spontan-Betriebsrente ein.

Ansonsten überließ man das Problem der Überalterung jedoch der kapitalistischen Dynamik, indem einerseits die meisten Redakteure noch vor ihrem Burn-out weiterwanderten (zu anderen Zeitungen) und andererseits die Geschäftsleitung den Mitarbeitern “Friedels Fairsicherung” nahe legte, das heißt irgendwelche Zusatzaltersversicherungen über einen alternativen Versicherungsmakler namens Friedel. Einige müssen auf dessen Offerten auch eingegangen sein, denn ein taz-Mitarbeiter klagte kürzlich laut, dass er sich seine Lebensversicherung habe auszahlen lassen, aber davon müsse er nun noch ein Extrakrankengeld zahlen. Das gehe vielen Leuten so – und einige würden auch dagegen klagen, aber ihre Chancen, Recht zu bekommen, stünden schlecht.

Eine Weile geisterte daneben noch die “Riester-Rente” durch das Haus. Wegen der chronischen Unteralterung der taz (nicht zuletzt durch die “Generation P”) ist die Altersversorgung hier jedoch vor allem ein Problem der Redakteurin für Soziales. Der dienstälteste feste Freie, Christian Semler, hat jedoch vor einiger Zeit sich auch mal praktisch überlegt, ob er “in Rente” gehen soll, um einem Jüngeren Platz zu machen. Nur leider gibt es keinen Jüngeren mit einem derartig globalen Wissen um die politischen Entwicklungen der – sagen wir – letzten 150 Jahre. Und so blieb alles beim Alten, außer dass Semler sich jetzt auch noch ganz gut mit der Rentenproblematik auskennt.

Ich wurde dann ausgerechnet in Bombay wieder auf das Thema gestoßen: Da lernte ich den Leiter eines Tieraltersheims kennen, es gibt davon mehrere in Indien. Vor allem sind sie für alte Kühe da. Aber in dem bei Bombay lebten auch alte Ziegen, hinfällige Hühner und klapprige Esel, ja sogar mehrere in Ehren ergraute Skorpione und Giftschlangen. Das gefiel mir, wobei ich selber jedoch mit Zyankalikapseln zur Altersvorsorge liebäugel. Das ist natürlich keine taz-Kollektivlösung. Eher schon das berühmte Altersheim für Opernsänger und -sängerinnen bei Mailand, obwohl es dort unter den Insassen oft ziemlich haarsträubend zugehen soll. Aber würde es unter Journalisten anders sein?

Des ungeachtet wäre das Dienstleister-Altersheim Oeschberg in der Schweiz ein noch geeigneteres Modell für die taz, meinte Broeckers, der darüber gerade etwas im Spiegel gelesen hatte. “Als Altenheim ist es einzigartig in Europa – ausnahmslos frühere Knechte und Mägde bewohnen das Haus…Sie tun dort, was sie immer getan haben: arbeiten. Zum Heim gehört ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Schweinen, Kühen, Hühnern, Wald, Wiese und Garten. ,Wir suchen für jeden Bewohner eine Aufgabe. Wir wollen jedem das Gefühl geben, gebraucht zu werden’, sagt Alexander Nägeli, 58, der seit 20 Jahren das Heim leitet.”

Selbstorganisiert funktioniert so etwas bereits in den deutschen Rentnerdörfern in Thailand und auf den Philippinen – zum großen Vergnügen der Einheimischen drumherum. Für das Oeschberg-Modell spricht, dass es in der Umgebung Berlins hunderte von brauchbaren Immobilien gibt, die bereits für einen Euro zu haben sind. Broeckers war inzwischen so weit, dass er den inzwischen mit mehreren Immobilien gesegneten taz-Anwalt Eisenberg schon vorgewarnt hatte: “Wenn es so weit ist, werden wir dein Landhaus bei Oranienburg besetzen – und enteignen!” Eisenberg nahm es gelassen: “Das ist doch nichts – im Osten, da gibts doch bloß Neonazis und Windmühlen. Ich habe da noch ein viel besseres Objekt für euch – in Westdeutschland.”

Zurück zum Tanz:

Im Zusammenhang mit dem Wettrennen um die Bestimmung der zunächst auf 35.000 geschätzten menschlichen Gene sprach “Die Zeit” von einem “Tanz der Primadonnen” – und meinte damit die führenden amerikanischen Genetiker: Craig Venter und sein Firma Celera; William Haseltine, Chef des Unternehmens Human Genome Sciences (HGS); die vom Staat finanzierten Wissenschaftler des großen Humangenomprojekts (HPG) und Roy Whitfield, Chef von Incyte Genomics in Palo Alto. Zu dem Zeitpunkt, 2001, hatten sich allein bei ihm schon 17 der 18 größten multinationalen Pharmakonzerne eingekauft, um Zugang zur “Genomdatenbank” von Incyte Genomics zu haben.

Die Genetiker scheinen überhaupt dem Tanz eine große Bedeutung beizumessen. So griff z.B. der englische Biologe John Maynard Smith, den die Royal Society jüngst für seine Forschungen über die Evolution der Sexualität mit der “Darwin-Medaille” ehrte, auf den Tanz der Taufliegen (Drosophila melanogaster) zurück, um zu verdeutlichen, dass bei unserer “sexuellen Selektion” die Männer zwar um die Frauen kämpfen (konkurrieren), diese jedoch ihre eigene Wahl treffen. Die Taufliegen-Weibchen, so fand Smith bei seinen Drosophila-Experimenten heraus, paaren sich nur “mit den gesündesten Männchen” – und die finden sie beim Tanz. “Dabei passiert folgendes: Das Männchen sieht das Weibchen, nähert sich und tritt ihm gegenüber. Wenn das Männchen dies tut, schießt das Weibchen schnell auf eine Seite, und das Männchen muß ebenfalls zur Seite schießen, um weiter seinem Weibchen gegenüberzutreten. Es kommt zu einem sehr schnellen Tanz, bei dem das Weibchen sich von einer Seite zur anderen bewegt und das Männchen ihm folgt. Gelingt es ihm, dem Weibchen ein paar Passagen langgegenüberzutreten, steht dieses still, und es kommt zur Paarung. Ist das Männchen ingezüchtet oder alt, fällt es zurück und kann nicht mithalten, und das Weibchen fliegt einfach davon. Somit wählt das Weibchen aus, mit welchem Männchen es sich paart; das tut es durch Tanzen, und es zahlt sich durch gesündere Nachkommen aus.”

Ähnliche Beispiele gibt es auch bei Vögeln, aber die Schlußfolgerung der  Darwinisten daraus ist falsch. Sie wurde lange Zeit am sinnfälligsten mit Affenhorden illustriert, in denen der größte und stärkste, der Pascha, über alle Weibchen wacht, kein anderes Männchen an sie herankommen läßt – und sie alle allein schwängert. 1993 hat ein US-Primatologe diese Wahrnehmung jedoch als patriachalischen Wahn entlarvt: Er untersuchte eine Gruppe von Kapuzineraffen in Costa Rica – und zwar indem er mit einigen studentischen Helfern von jedem Jungaffen den Kot sammelte. Die Proben wurden anschließend genetisch analysiert: Der Pascha der Horde war von keinem einzigen Äffchen der Vater! Inzwischen sind die Beobachtungen darüber, wie die Affenweibchen es schaffen, im Sichtbereich des Paschas zu bleiben – und sich dabei gleichzeitig mit einem Männchen zu paaren — Legion. Der Schweizer Primatologe Hans Kummer entdeckte und beobachtete in Äthiopien sogar eine Pavianart, die den Pascha einfach abgeschafft hat: Dafür kam es jedoch in der Horde nun ständig zu Eifersüchteleien, Verlassenheitsängsten, Jammern und Wehklagen usw..

Noch einen Schritt weiter als der oben zitierte englische Darwinist Maynard Smith gingen jetzt einige Forscher um Richard Epstein von der Hebrew University in Jerusalem: Sie untersuchten 85 Tänzer und Tänzerinnen des klassisches Balletts und Jazztanzes, wobei neben ihrer Kreativität auch ihr Erbgut genetisch analysiert wurde. Anschließend verglichen sie deren Gesamtprofile mit denen von 91 Sportlern sowie mit solchen von 872 Menschen, die weder eine tänzerische noch eine sportliche Begabung besaßen. Heraus kam dabei, dass den Tänzern der Tanz quasi im Blut liegt: Die lange kulturelle Tanztradition der Menschen hatte sich anscheinend bei ihnen genetisch “verankert” , wie Ebstein mutmaßt, wobei er die “kreative Ausdrucksstärke” der Tänzer konkret auf einen genetisch gesteuerten Botenstoff namens “Serotonin” und einen “Rezeptor für das Hormon Vasopressin” zurückführt. Ersterer beeinflusse die Gehinraktivität in bezug auf das “Einfühlungsvermögen” und letzterer moduliere die “Kommunikationsstärke”, außerdem spiele er “bei der Bildung von sozialen Bindungen eine Rolle”. Dies berichtete das Webmagazin “Wissenschaft.de” – ganz ohne Witz. Neben dem bereits isolierten Fett-Gen, dem Juden-Gen, dem Musikalitäts-Gen und dem egoistischen Gen kriegen wir es nun also auch noch mit einem Tanz-Gen zu tun. Ernst zu nehmender als dieser ganze reaktionäre Quatsch sind die Forschungen von Lynn Margulis, einer amerikanischen Zellbiologin, bei der ich das erste Mal etwas vom “Tanz der Chromosomen” erfuhr.

Im Zusammenhang der Erforschung der Verschmelzung einer weiblichen Eizelle mit einer männlichen Samenzelle, bei der die erstere nicht nur mit 23 Chromosomen (der Hälfte der Informationen) am neuen Menschen beteiligt ist, sondern darüberhinaus auch noch die gesamte zytoplasmatische DNA, die Mitochondrien, beisteuert, so daß deren Erbinformationen ausschließlich von der Mutter stammen, kommt Margulis zu dem Schluß: “In der heutigen Biologie hat der Mann seine Vorrangstellung eingebüßt. Ebenso wie in der Gesellschaft ist er dem weiblichen Wirbelsturm ausgeliefert.”

Der Tanz liegt aber nicht nur uns – Menschen, besonders den Frauen – im Blut. Er begann schon vor etwa zwei Milliarden Jahren – mit den Protoctisten, die sich von den 1,5 Milliarden Jahren älteren Bakterien dadurch unterscheiden, dass sie einen membranumhüllten Zellkern besitzen. In diesem befinden sich die Chromosomen, auf denen die Gene liegen. Man spricht deswegen bei den vier Reichen der Organismen – Protoctisten, Pflanzen, Tiere und Pilze – von Eukaryoten, während die Bakterien als Prokaryoten (vor dem Kern) als fünftes “Reich” bezeichnet werden. Ob sie Chromosomen haben, darüber gehen die Meinungen der Genetiker und Zellbiologen auseinander, Gene haben sie auf jeden Fall (ebenso wie die Viren, die man aber noch nicht als Lebewesen gelten können, weil sie zu ihrer Vermehrung lebende Zellen benötigen). Die Bakterien sind das genaue Gegenteil davon, insofern sie ihre Gene untereinander austauschen – und zwar über sämtliche Artgrenzen hinweg, so daß man genaugenommen all die tausende von Bakterienarten als eine einzige begreifen müßte, denn der Artbegriff bezeichnet bloß die Grenze, in der eine Lebensform sich mit ihresgleichen reproduzieren kann. Der Genaustausch der Bakterien ist aber auch etwas ganz anderes als unsere Zellverschmelzung beim Geschlechtsverkehr. Die Genübergaben sind zwar ihre Form der Sexualität, die man auch Konjugation nennt, aber diese hat nichts mit ihrer Vermehrung zu tun, die ganz unabhängig davon durch Zellteilung geschieht. Bei den Bakterien gibt es außerdem noch kein Geschlecht, deswegen sind Gen-Geber und -Gen-Nehmer austauschbar. Zur Genübergabe benutzen sie so genannte Sexual-Pili, die von einem zum anderen Bakterium gleichsam rüberwachsen, sie kann aber auch durch direkte Berührung zwischen ihnen erfolgen sowie mittels bestimmter Viren – als Boten.

Die Gene eines Bakteriums schwimmen quasi geknäult im Plasma ihrer kernlosen Zelle. Das sowie ihre schnelle Vermehrung (alle zwanzig Minuten unter günstigen Bedingungen) macht diese Lebewesen so attraktiv für die genetische Forschung: Man kann ihnen relativ leicht fremde Gene – u.a.. vom Menschen – injizieren, die sie dann mitvermehren, um auf diese Weise z.B. Insulin zu produzieren. Bei der Zellteilung teilt sich zuvor auch ihre DNA – in zwei Portionen, damit bekommt jede der aus der Mutterzelle entstandenen Tochterzellen ein Genpaket. Auf diese Fortpflanzungs-Weise sind Bakterien unsterblich – sie können sich immerfort durch Teilung verjüngen: seit 3,5 Milliarden Jahren ununterbrochen. Für die Eukaryoten, also den Lebewesen mit Zellkernen gilt das nicht: Sie vermehren sich über den “Tanz der Chromosomen” – und sind sterblich. Man unterscheidet zwei verschiedene Arten von Tänze bei ihnen: die relativ einfache Mitose und die aus zwei Schritten bestehende Meiose. Bei mehrzelligen Organismen kommen beide vor: die Körperzellen vermehren sich über die Mitose und die Keimzellen (also Ei-und Samenzellen) über die Meiose. Beim Menschen brauchen z.B. die Hautzellen etwa eine Stunde für die Mitose, während unsere hochspezialisierten Nerven- und Muskelzellen sich gar nicht mehr vermehren, und die roten Blutkörperchen es nicht mehr können, da ihnen der Zellkern fehlt.

Wie geht dieser mitotische Tanz nun vor sich? Erst einmal verdoppeln sich die Chromosomen und bilden Streifenpaare, wobei sie gleichzeitig kondensieren. Dadurch werden sie unterm Elektronenmikroskop sichtbar – als “fädiges Knäuel” im Zellkern. Parallel dazu entstehen quasi aus dem Nichts im Zellplasma zwei sogenannte Teilungsspindel, die man wegen ihres Aussehens auch “Astern” nennt: statt der Blumenblätter haben sie Mikrotubuli, die den Kern wie mit feinen Fingern umfassen, dessen Membran sich langsam auflöst. Sodann wandern die Teilungsspindel an die äußeren Pole der Zelle, die sie damit definieren. Die Chromosomen verkürzen sich und werden von den Spindelfäden erst einmal in der Äquatorialebene ausgerichtet. Von da aus wandern sie wie von den Fäden gezogen zu den Polen, wo sich jeweils eine Kernhülle um sie bildet und die Chromosomenteile innen sich wieder verknäulen und dekondensieren. Während die Teilungsspindeln erneut ins Nichts verschwinden. Dies ist der ganze Tanz. Er hat zur Folge, dass sich danach in beiden Kernen die gleiche Anzahl an Chromosomen und damit die gleiche Erbinformation befindet. In der Mitte teilt sich nun die Zelle um diese neu entstehenden Kerne herum in zwei Zellen, indem sie sich auf der Äquatorialebene ein- und zuletzt abschnürt.

In unserem Körper finden zu jedem Zeitpunkt, so lange wir leben, solche Tänze millionenfach statt. Hinzu kommt noch der von einigen Biologen so genannte “Tanz der Gene”, der die Teilung von Einzellern einleitet, die in unserem Körper leben – als Symbionten, Kommensalen oder Parasiten. Es gibt auch ein Buch mit dem Titel “Tanz der Gene” – von dem Entwicklungsbiologen Armand M. Leroi, dies befaßt sich jedoch nicht mit Bakterien, sondern mit menschlichen Mutanten. An und in jedem von uns befinden sich rund zwei Kilo Bakterien. Allein in der Mundhöhle, ob man sich gerade die Zähne geputzt hat oder nicht, leben mehr Mikroorganismen als Menschen auf der Erde. In Summa sind wir so lange am Tanzen wie wir leben bzw. leben wir so lange wie wir tanzen. Es ist also kaum verwunderlich, dass Trommelrythmen bestimmte Körperzellen zur Teilung bzw. Verschmelzung animieren, konkret: dass sie den Eisprung bei den schwarzen Tänzerinnen auslösen können – wie einige (weiße) südafrikanische Forscher herausfanden.

Die Körperzellen der Eukaryoten sind diploid, d.h. sie besitzen von jedem Chromosomentyp zwei gleich Exemplare, eines geerbt von der Mutter und eines vom Vater. Die Keimzellen (im Hoden und im Eierstock) sind dagegen haploid – erst mit der Befruchtung werden auch sie – durch Verschmelzung – diploid. Um sich zu vermehren, d.h. um daraus einen Organismus entstehen zu lassen, müssen sie sich teilen – dies geschieht meiotisch, wobei man auch von einer Reduktionsteilung spricht. Die Meiose läuft in zwei Teilen bzw. Tänzen ab: Beim ersten ordnen sich die homologen Chromosomen paarweise in der Mitte der Zelle an und werden dann, ebenfalls mit oder an Teilungsspindeln, zu den Polen gezogen – und damit getrennt: Das eine Chromosom wandert zum einen und das andere zum anderen Pol, dadurch findet ihre Halbierung statt – die Reduktion. Der darauffolgende zweite Teil oder Tanz in der Meiose läuft dann wie bei der Mitose ab. Am Ende haben wir vier Zellen mit einem einfachen Chromosomensatz (haploid). Die Meiose dient der Bildung von Geschlechtszellen bei sexueller Vermehrung.

Lynn Margulis schreibt: “Werbungs- und Liebesverhalten beim Menschen sind nur die hochentwickelte Form eines zwei Milliarden Jahre alten, im wesentlichen absichtslosen, aber entwicklungsgeschichtlich wesentlichen ‘Überlebenstanzes’, der die Verdoppelung der Chromosomen bei der Befruchtung und die Reduktion dieser Chromosomen in der Meiose umfaßte. Bei der tierischen Entwicklung bildet sich zunächst aus der befruchteten Zelle ein Körper, danach teilen sich einige der Körperzellen und ergeben entweder die männlichen Samen- oder die weiblichen Eizellen. Der unter dem Namen Meiose bekannte Prozeß mit seiner mikroskopisch kleinen ‘Choreographie’ läuft, wie man heute weiß, tief in den Zellen aller tierischen Organismen ab. Ihren Anfang nimmt die von der wahllosen Sexualität der Bakterien grundverschiedene meiotische Sexualität bei den Protoctisten, den ersten mit Zellkern versehenen Mikroorganismen. Diese Vorläufer der tierischen Zelle sind den Zellen im menschlichen und in jedem anderen tierischen Körper strukturell vergleichbar. Die ersten Protoctisten wiederum entwickelten sich aus einem Konglomerat artverschiedener Bakterien – aus symbiotischen Abenteuern, in denen drei oder vier Bakterienarten schließlich vollständig voneinander abhängig waren, das heißt ihre Merkmale vermischten sich…Die Symbiose, das langfristige körperliche Zusammenleben verschiedenerartiger Organismen, ist eine Grundvoraussetzung des Protoctisten-, Pflanzen, Tier- oder Pilzlebens.” Gleiches läßt sich auch über den Tanz ihrer Chromosomen sagen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/04/tanz-der-chromosomen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert