vonHelmut Höge 04.08.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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“Hausmeister im All” titelte die FAZ heute auf ihrer komischen Seite “Deutschland und die Welt”. Die das Pendant zur Bild-BZ-Seite “Berliner in aller Welt” darstellt, wobei es auf ersterer meistens um ein erfolgreiches Leben geht und auf den letzteren um unglückliches Sterben: “2 Berlinerinnen in Mexiko ermordet”, “Berliner von Krokodil gefressen”, “Vier Berliner von Lawine verschüttet”, “Berliner Ehepaar verunglückte am Brenner tödlich” usw. Man wundert sich, dass es bei dieser unendlichen Pannenserie überhaupt noch Berliner gibt. Der FAZ-Artikel würdigt dagegen die erfolgreiche Pannenreparatur des deutschen Astronauten Thomas Reiter (48), der sich vorgestern außerhalb der Raumstation und angetan mit einem “klobigen Arbeitsanzug” in Weiß als “Klempner und Elektriker” betätigte (das meinte der Autor mit “Hausmeister”), indem er hier und da “Schrauben und Muttern” anzog, was im All gar nicht so einfach ist, weil man sich in der Schwerelosigkeit mit seinem Körpergewicht nicht mehr gegen das “Dritte Newtonsche Gesetz” (DNG) stemmen kann (alles klar?). Aber weil die Nasa aus Geldmangel immer mehr wissenschaftliche Versuche auf der Weltraumstation einstellt, befürchtet die FAZ, dass die Astronauten bald “mehr denn je lediglich Hausmeister” sein werden – und also wohl demnächst nur noch praktisches Wissen über das DNG brauchen.

Neulich hatte man mich für eine Führung durch den Kreuzberger Kunstparcours engagiert, im Künstlerhaus Bethanien (auch Künstlerhaus Potemkin oder Panzerkreuzer Bethanien genannt), wo die Tour begann, trafen wir auf den Hausmeister, der als Angestellter zu einer ganz anderen Behörde gehört als die Kunstinstitutionen im Erdgeschoß und im 2/3/4. Stock, mit dem wir also gar nichts zu tun hatten, außer dass er uns einige Türen öffnen mußte. Zufällig war er auch gerade mit Schraubenschlüssel und -zieher dabei, sich als “Klempner und Elektriker” zu betätigen, d.h. irgendwelche “Schrauben und Muttern” anzuziehen – oder auch los zu drehen, so genau konnten wir das auf die Schnelle nicht sehen.

Ich erwähnte bereits, dass wir als im “Gaskammervoll”-Streit unterlegene taz-Minderheit 1988 aus dem taz-Gebäude auszogen – und dass uns daraufhin das Künstlerhaus Bethanien ein Atelier zur Verfügung stellte, welches uns dann der damalige taz-Hausmeister Jens freundlicherweise mit taz-Büromöbeln ausstattete. Nicht einmal eine Topfpflanze vergaß er. Dabei brauchten wir gar kein Atelier/Büro, wo wir dann auch so gut wie nie waren. Stattdessen trafen wir uns einmal in der Woche in einer türkischen Kneipe, die rund um die Uhr auf hatte und immer noch hat – und dementsprechend sah sie auch aus. Thomas Kapielski fing dort irgendwann an, die halbtoten Topfpflanzen zu knipsen, was sich dann zu einer größeren Serie über das Leiden und Sterben der Berliner Kneipenflora ausweitete.

Während der “Führung” nun hauten mich mehrere Leute an, weil sie mich mit der taz identifizierten und einfach für diese oder jene Kreuzberg-Berichterstattung der Lokalredaktion verantwortlich machten. Es ist ja immer so: Wenn man mal etwas in der Zeitung liest, was irgendwie den eigenen Lebensbereich tangiert, dann weiß man das natürlich hundert mal besser und genauer als ein Redakteur, der sich wohlmöglich nur einen Vormittag lang damit beschäftigt hat und dass auch bloß anhand von Tickermeldungen und Internet sowie per Telefongesprächen mit Entscheidungsträgern. Die taz-Kritiker waren noch zusätzlich über eine etwas zurückliegende taz-Abo-Werbekampagne erbost, die sich auf Kreuzberg konzentriert hatte. Hierbei konnte ich sie beruhigen: Sie hatte so gut wie nichts gekostet, weil eine Gruppe von Kunststudenten sie sich für ihre Abschlußarbeit ausgedacht hatte – wahrscheinlich im UdK-Fachbereich “Communicationmarketing”. Sie waren dabei von der “These” ausgegangen, dass die taz in Kreuzberg nicht nur domiziliert ist, wie z.B. die Springerblätter, sondern das der “Problembezirk” (BZ) auch recht eigentlich die wahre Heimat dieses größten deutschen “Alternativprojekts” (Spiegel) ist. Und das sei ein Pfund, mit dem man wuchern könne und müsse, wobei die Kunststudenten dies ebenso multimedial wie kongenial und überhaupt völlig prenzlauerbergmäßig angingen.

Aber es stimmt natürlich, dass dieser juvenile Projektemacherstil jetzt von dort sowie auch von Friedrichshain voll rüberschwappt – und zwar über die Oberbaumbrücke. Den Anfang machten die von Hamburg ins soziale Abseits ans Spreeufer verfrachteten Angestellten des US-Medienkonzerns Universal – mit einigen anspruchsvollen S.O.-36-“Locations”. Inzwischen haben sie schon fast den ganzen Wrangelkiez vedrseucht – mit ihrer ins hysterisch Verklumpte lappenden Postteenager-Partywut. Zwar hatten die Kreuzberger Patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum (KPD/RZ) genau dies bereits Anfang der Neunzigerjahre kommen sehen – und deswegen auch gegen die Öffnung der Oberbaumbrücke gekämpft, aber vergeblich: Die Lufthoheit über die Planungsstammtische gewannen immer mehr die Wendehälse – vom Schlage des Slawisten und Maoisten Karl Schlögel, der sich damals an der Oberbaumbrücke als grüner Kiezkonstrukteur betätigte, aber schon in Richtung rechte SPD und vor allem neoliberaler FAZ-Autorenschaft bewegte. In der FAZ bejubelte er dann auch prompt die neue Verkehrsanbindung, das stetige “Stop and Go” des automobilen Fortschritts, der nun endlich auch das Schlesische Tor erreicht habe. Wenig später wurde es ihm dort jedoch schon zu laut – und er zog in eine Eigentumswohnung in die City – nach Charlottenburg um. Seitdem hat er nicht mehr Kreuzberg (Südost 36) im Visier, sondern gleich den ganzen Ostblock, wobei er drauf und dran ist, es bis zu einem im In- und Ausland gefeierten Sänger der Marktwirtschaft zu bringen.

Wie konnte das passieren?

Mit dem “Fall der Mauer” 1989 ging die Nachkriegsgeschichte Berlins zu Ende. Der Gründer und Leiter des Literarischen Colloquiums am Wannsee, Walter Höllerer, hat aus diesem Zeitraum einmal ein “Hüpfspiel” gemacht: “Bildungsträchtig und patriachalisch ging es am Ende der fünfziger Jahre zu. Neugierig aufs breit gestreute Neue, leicht beweglich…,so ging man in die frühen Sechziger. Der Hang zum Statistischen verstärkte sich Mitte der sechziger Jahre…Gesellschaftsbezogen, turbulent und ‘anti-autoritär’, so gingen die sechziger in die siebziger Jahre über. Ideologische Festnagelungen und ideologische Zerfaserungen, reißbrettplanerische Reformbemühungen mit endlosen Curriculum-Debatten, das gab den frühen siebziger Jahren den Ton. Dann kam der Umschlag, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, aus überanstrengten soziologischen Themen ins Biologische, Botanische…Handfeste Selbst- und Mithilfe überwiegt die Theorie zu Beginn der achtziger Jahre; Ökologie, auf das City-Leben bezogen; eine Nähe zu Instandbesetzer-Überlegungen.”

Das 1973 institutionalisierte Kreuzberger Künstlerhaus hat diese ganzen Vorwende-“Hüpfer” wenn nicht begleitet, dann aufgehoben. Das begann schon auf seiner ersten Lesungsreihe im April 1975, an der u.a. Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell teilnahmen, die den Ruf Kreuzbergs als “Kunstwiege” nach dem Krieg praktisch begründeten: Erst in einigen kaputten, aber gutgeheizten Kneipen und dann ab 1959 mit der Galerie “Zinke” in der Oranienstrasse, wo u.a. Kurt Mühlenhaupt, Johannes Schenk und Günter “Immer dabei” Grass dazu stießen. Diese “Kreuzberger Nachkriegsbohème” wiederum wurde wesentlich inspiriert von Oskar “Stets daneben” Huth, der während des Krieges als botanischer Zeichner untergetaucht war und eine große Gruppe untergetauchter Juden mit selbstgedruckten Lebensmittelkarten versorgte. Die Amerikaner bescheinigten ihm 1946 erst die “Evidence of Anti-Nazi-Activities” und boten ihm eine Stelle im Kultursenat an. Der Klavierstimmer und -spieler zog es jedoch vor, “freischaffender Kunsttrinker” zu bleiben: “sein Erscheinen, selten vor Mitternacht, trug einen Hauch verlorengegangener Urbanität in Lokalrunden, Vernissagen und Lesungen,” schreibt einer seiner Biographen – der Maler Alf Trenk.

Bereits 1964 baute R.W.Schnell die Huthschen Auftritte und Monologe in seine “Ballade aus Kreuzberg” ein. Im selben Jahr registrierte auch Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg “im Kommen” sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises führte sie dazu aus: “die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muß man sich die Haare lang wachsen lassen, muß herumziehen, muß herumschreien, muß predigen, muß betrunken sein und die alten Leute verschrecken zwischen dem Halleschen Tor und dem Böhmischen Dorf. Man muß immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst…An einem Haustor, irgendeinem, wird gerüttelt, ein Laternenpfahl umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen…Nach Mitternacht sind alle Bars überfüllt.”

Zehn Jahre später wurde daraus ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuß: “Kreuzberger Nächte sind lang”. Die Europa-Korrespondentin des New Yorker schrieb dann – wieder zehn Jahre später: “Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair”. Die New Yorkerin berief sich dabei auf die Journalistin Renee Zucker, die jedoch weder in Kreuzberg gelebt noch sich in diesem Viertel herumgetrieben noch jemals so etwas gesagt hatte, das aber nur am Rande. Und sowieso kam dann die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer bei ihrer eigenen Kreuzberg-Recherche zu einem ganz ähnlichen Befund: “Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt”.

Aus solchen medialen Mätzchen (Recherchen) wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1.Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden “bullenfrei” gekämpft war – der “Mythos Kreuzberg”, der nach Meinung seiner letzten Ethnographin Barbara Lang schließlich pars pro toto für Westberlin stand – und dann 1990 endgültig fiel. Das Tape mit der nächtlichen Trommelmusik vom 1. Mai 1987 – “Hönkel” genannt – erwarb die Schaubühne – als Soundkulisse für ein Kudamm-Brecht-Stück. Einen Monat später riegelte umgekehrt die Polizei – anläßlich des Reagan-Besuchs – das ganze Viertel für einige Stunden hermetisch ab, was dann wiederum dem AL-“Büro für ungewöhnliche Maßnahmen” Anlaß für eine Reihe humoriger Gegensperrmaßnahmen war. Auch eine Fraktion der Militanten reagierte mit Witz – indem sie die KPD/RZ gründete, die es dann sogar bis ins Bezirksparlament schaffte. Zuvor hatte man – inmitten der vielen Altbausanierungsvorhaben – das “Massenmedium Bauwagen” entdeckt – indem man sie massenhaft umwarf und anzündete. 1989 legte der Innensenator fest, dass die polizeilichen Einsatzabläufe zukünftig zwar direkt gefilmt und übertragen werden durften, “aber nur in Form von Totalaufnahmen”. Am darauffolgenden 1.Mai ermahnte die Demoleitung erstmals selbst alle Bildberichterstatter, “sich auf die Totale zu beschränken”.

Zwischen dieser ganzen über 40 Jahre andauernden Kreuzberg-Reklame und -Randale steht u.a. die Eroberung des leerstehenden Bethanienkrankenhauses 1972 durch die Linke und ihre lokale Basis. Der “Kampf um Bethanien” fiel in eine Zeit, in der sich Kreuzbergs Bevölkerung, die sich nach dem Bau der Mauer zunächst stark reduziert hatte, noch einmal wandelte: Einerseits wurden die seit 1961 leerstehenden großen Wohnungen in Wilmersdorf und Charlottenburg, die von vielen linken Studenten bewohnt wurden, langsam wieder von ihren Besitzern mit Beschlag belegt, so daß die Scene sich nach Schöneberg und Kreuzberg verlagerte, andererseits zogen auch immer mehr türkische Gastarbeiter, die bis dahin in Wohnheimen untergekommen waren, in diese Bezirke. Während gleichzeitig die Bezirksverwaltungen dort immer mehr alte Wohnsubstanz aufgaben und für großflächige Neubebauungen, verbunden sogar mit einer Stadtautobahn, votierten. So wollte die “Baulöwin” Sigrid Kressmann-Zschach z.B. an Stelle des leerstehenden Bethanien-Komplexes ein modernes Wohn- und Shoppingcenter errichten, die Denkmalschützer konnten den Abriß jedoch verhindern.

Aber schon tauchten neue Projektemacher auf – die auch sofort zur Tat schritten: Eine Gruppe, bestehend aus damals besonders unruhigen Lehrlingen und Heimkindern, rief während eines Teach-Ins im Audimax der TU, auf die Kreuzberger Band “Ton Steine Scherben” (“Macht kaputt, was euch kaputt macht”) spielten, zur Besetzung des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses auf, d.h. erst einmal des Lehrschwesternhauses neben dem Hauptgebäude. Vier Tage zuvor war ein Mitglied der “Bewegung 2.Juni”, Georg von Rauch, von der Polizei ermordet worden, deswegen wurde das “Martha-Maria-Haus” sogleich nach ihm benannt – es heißt bis heute so. Die aus dem SDS hervorgegangenen Basis-Initiativen, die eine “Randgruppenstrategie” verfolgten, solidarisierten sich sogleich, schoben nächtens zur “Abwehr von Polizei und Faschos” Wache und machten sich nützlich, indem sie aufräumten und fegten, während das Besetzerplenum ununterbrochen diskutierte – z.B. darüber, ob man nicht auch das Hauptgebäude besetzen sollte. Wenig später trat auch noch die maoistische Partei KPD/AO mit einem “Kampfkomitee Bethanien” auf den Plan und machte sich für eine Kinderpoliklinik stark. Während erstere sich mit der Polizei auf dem Mariannenplatz immer wieder Scharmützel lieferten, gerieten letztere mit der Künstlerhausinitiative aneinander – und zwar so heftig, dass der Chef ihres Berliner Regionalkomitees, Christian Heinrich, als Rädelsführer für ein Jahr ins Gefängnis kam. Das führte auch unter den Künstlern “zum Bruch alter Freundschaften”, wie die Tanzfest-Organisatorin Nele Hertling rückblickend schreibt.

Nachdem sich die verschiedenen Interessensgruppen – Rauchhaus, Künstlerhaus, Druckwerkstatt, Eltern-Kindergruppen, Kitas, Sozialamt, Musikschule, Kunstamt, etc. – in dem riesigen Gebäude-Ensemble langsam etabliert hatten, kam es jedoch auch wieder zu partiellen und temporären Vermischungen bzw. Kooperationen unter ihnen. Dazu trugen die langsamen Veränderungen im “Umfeld Bethanien”, wie später eine Ausstellung hieß, ebenso bei, wie die der Kunstszene selbst. Beide neigten zunehmend zum Pragmatisch-Experimentellen. So zogen z.B. einige Künstler ins Rauchhaus, Rauchhausbewohner versteckten sich vor der Polizei im Künstlerhaus, und mit den Grünen entwickelte sich sogar (wieder) ein staatsintegratives Soziotop, das dazu alternatives Kleingewerbe und überhaupt marktwirtschaftliches Denken begünstigte. Erinnert sei an die “Neuen Wilden” und ihre Galerie am Moritzplatz, über die der Maler Lüpertz abschließend urteilte: “Wir erst haben Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen!” Oder die Modemacherin Claudia Skoda, die 1979 posaunte: “Kreuzberg ist unerhört vielfältig!” Aber gleich nach dem Mauerfall als wendige “Lifestylistin” dem “Tip” gestand: “Nie wieder Kreuzberg!” Sie zog dann ab nach Mitte, wo auch der CDU-Ekelprotz Klaus Landowsky sofort “die interessante Szene” ausmachte, während in Kreuzberg seiner Meinung nach nur “Junkies, Gewalt und Ausländer zurück blieben”.

Bereits Ende der Siebzigerjahre hatte sich die “Politisierung” der Studenten derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der “behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen” – beschränkt, dass sie in Kreuzberg mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie bald nur noch “Stoßtrupps der Hausbesitzer” – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb die Scene-Zeitung Zitty: “In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei…Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen”. Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Kreuzberger Bezirksregierung mehrmals mit “Zuzugssperren” zu verhindern suchte. Das Künstlerhaus lud demgegenüber – um sich im Viertel nützlich zu machen – immer wieder türkische Künstler, Schriftsteller und Theatermacher ein. Schon an der o.e. ersten Lesereihe (“Feuertaufe” später von Michael Haerdter, dem Gründungsdirektor des Künstlerhauses, genannt) nahm Aras Ören teil, der 1977 im Rotbuchverlag das kommunistische Poem “Was will Niyazi in der Naunynstrasse” veröffentlichte. Bei der Übersetzung half ihm der Dichter Johannes Schenk, der bereits 1969 zusammen mit der Malerin Natascha Ungeheuer das “Kreuzberger Straßentheater” gegründet hatte, das u.a. auch Probleme der türkischen Arbeitsemigranten thematisierte.

Ebenfalls 1977 trat auf dem Mariannenplatz – organisiert vom Künstlerhaus – ein türkischer Arbeiterchor und eine Folkloregruppe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins auf. Damals war dort noch das Betreten des Rasens streng verboten; eine pensionierte Angestellte des Sozialamts im Bethanien erinnert sich, dass es die Türken waren, die das Verbot zuerst übertraten: “Wir Deutsche haben es ihnen dann bloß nachgemacht”.

Die linken türkischen Organisationen hatten ihren proletarischen Anhängern im Ausland zunächst geraten, sich politisch auf ihre Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren, nach einigen Jahren gingen aber auch sie von einer permanenten Diaspora aus, wo man u.a. für Arbeitnehmer- und Mieterrechte kämpfen muß. Bald gab es in fast allen größeren Westberliner Fabriken türkische Betriebsräte und die leerstehenden Souterrainräume im Viertel wurden von türkischen Arbeitervereinen genutzt. Einen – mit Leninschulung – gibt es im “Mehringhof” noch heute. Und in der IG Metall hält sich die Meinung: “Die besten türkischen Betriebsräte waren früher alles kurdische Maoisten!” Inzwischen gibt es allerdings kaum noch türkische Arbeiter: Viele Westberliner Betriebe wurden dicht gemacht und für die anderen gilt, was der Osram-Betriebsrat bereits kurz nach der Wende registrierte: “Wenn früher von zehn offenen Stellen neun mit Türken besetzt wurden, ist es heute nur noch eine, ansonsten nimmt man Ostdeutsche, die besser qualifiziert sind”. Dies zwingt die Türken mehr und mehr, sich selbständig zu machen: Inzwischen tragen sie schon fast die gesamte Kreuzberger Ökonomie; die strenggläubigen unter ihnen planen daneben eine Moschee nach der anderen und die eher lebensfrohen Aleviten übernahmen, nachdem die Evangelen ihnen die leere Kirche am Mariannenplatz doch nicht überlassen wollten, den düsteren Gebetssaal der Zeugen Jehovas in der Waldemarstrasse. Die Deutschen sind heute – zumindestens in S.O. 36 – beinahe nur noch Nutznießer der einstigen Kämpfe und Genießer des daraus entstandenen “Flairs” bzw. der Reste davon.

1981 besetzte eine Frauengruppe die ehemalige Schokoladenfabrik am Heinrichplatz (es war ungefähr die 170. Hausbesetzung): Neben einem türkischen Frauenbad (Hamam) entstand dort ein “Treffpunkt, Bildung und Beratung für Frauen und Mädchen aus der Türkei”, gleichzeitig beteiligten sich einige der Künstlerinnen aus der Schokofabrik an der Ausstellung “Unbeachtete Produktionsformen” im Künstlerhaus Bethanien. Von dort aus wurde 1984 umgekehrt die Ausstellung “Ich lebe in Deutschland” von “7 türkischen Künstlern aus Berlin” – Mehmet Aksoy, Akbar Behkalam, Abuzer Güler, Azade Köker, Serpil, Metin Talayman und Hanefi Yeter – nach Bonn geschickt. Der damals ebenso wie die Theatermacherin Emine Sevgi Özdamar in Ost- und Westberlin lebende Schriftsteller Klaus Schlesinger spazierte zu der Zeit einmal mit seiner Freundin Marie durch den Park vom Bethanien, dabei bemerkte sie: “Da ist es wie in der DDR, aber irrsinnig schön”. Nachdem sie an Kurt Mühlenhaupts Feuerwehrbrunnen vorbei hinterm Oranienplatz wieder “ins Restberlin” eingetaucht sind, “ist klar: Kreuzberg ist wie eine Stadt in der Stadt”.

Hier tut sich in den Achtzigerjahren aber noch einmal eine Kluft auf – zwischen Künstlern und “Streetfightern” (Autonomen): Letztere versuchen, teilweise erfolgreich, einige “Chickimicki-Lokale” im “Problembezirk” mit Scheiße “wegzukübeln” und zerstören daneben mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese “Kiezmiliz” sind jetzt nicht mehr die Türken die Speerspitze der spekulativen “Gentryfication”, sondern die Künstler. Während die Türken mit ihren “Kulturvereinen” inzwischen nach oben – in Läden – gezogen sind, haben jedoch ironischerweise immer mehr Künstler ihre Installationssräume und Clubs in Kellern eingerichtet: Die Galerie Eisenbahnstrasse, das Endart-Depot, Urbandart und das Fischbüro seien hier genannt. Aus dem Keller der letzteren trat 1989 die “Loveparade” buchstäblich ans Tageslicht, kurz vorher veranstaltete das Fischbüro aber noch eine Reihe von Musikveranstaltungen im “Space-Center” – der “Krypta” des Künstlerhauses Bethanien. Ein typischer Dialog am Fischbüro-Tresen ging so: “Machen wir noch eine Bierforschung oder gleich eine Nachhausegehforschung?” “Ich muß jetzt erst mal ne Dönerforschung machen!” Der Forschungsbegriff wurde damals von vielen Kreuzberger Künstlern derart gestretcht. Und fast alle ihre flüchtigen Ergebnisse fanden irgendwann Eingang in das Künstlerhaus, das gleichzeitig auch einen skurrilen Stamm von regelmäßig teilnehmenden Kunstbeobachtern heranzog.

Als “einen Glücksfall” bezeichnete Michael Haerdter die Regiearbeit von Samuel Beckett mit dem US-Verbrecher und -Schauspieler Rick Cluchey an dem Stück “Krapp’s Last Tape” 1977. Berühmt wurden daneben z.B. aber auch die Materialfunde das proletarischen Künstlers Raffael Rheinsberg, die Islandforschungen des “genialen Dilettanten” Wolfgang Müller und die Kriegsforschungen des “DDR-Dramatikers” Heiner Müller, der nicht nur fast schon zum Künstlerstamm des Bethanien gehörte, sondern zuletzt auch einen Steinwurf entfernt in der Muskauerstraße lebte, wo er von seiner türkischen Theaterkneipe “Le Soleil” aus den Mariannenplatz und das schloßähnliche Portal des Künstlerhauses Bethanien im Blick hatte. Hier erinnerte er uns einmal an die “Kontinuität” der Kämpfe um das Kranken/Künstlerhaus, das als “Hort der Reaction” schon 1848 gestürmt werden sollte, nachdem man während des “Bürgerkampfes” 45 schwerverletzte Barrikadenkämpfer dort – gegen ihren Willen – eingeliefert hatte, von denen dann elf – wahrscheinlich aufgrund mangelnder ärztlicher Pflege, “wenn nicht sogar aus böser Absicht”, starben. Wenig später wollte Theodor Fontane, der dort just an dem Tag, als auf dem Mariannenplatz heftige Kämpfe tobten, “unter Flintengeknatter” seinen Dienst als Apotheker angetreten hatte, einige Linksradikale, speziell Ferdinand Freiliggrath, die zu einem klandestinen Treffen nach Berlin unterwegs waren, im Bethanien einquartieren. Sie weigerten sich jedoch, Fontane bemerkte dazu später: “Was ich mir dabei gedacht, ist mir noch nachträglich ganz unerfindlich”.

Seine Apotheke im Erdgeschoß existiert bis heute – als eine Art Labor-Denkmal; die “türkische Bibliothek” gleich daneben wurde jedoch inzwischen aus Einsparungsgründen wieder geschlossen. Dafür bot man etlichen arbeitslosen Türkinnen auf ABM-Basis eine “Computerschulung” an, wobei sie dann jedoch nur stumpfsinnig die ganzen (deutschen) Bücherbestände der Kreuzberger Bibliotheken abtippen mußten. Noch schlimmer erging es einer Türkin, die – ebenfalls auf ABM-Basis – die “Öffentlichkeitsarbeit” eines “Quartiersmanagements” machen sollte – und dann dort zum Kloputzen abgestellt wurde, wobei sie sich noch laufend die ausländerfeindlichen Bemerkungen ihrer festangestellten deutschen Kollegen anhören mußte. Auch die Geschichte der Stammkneipe von Heiner Müller in der Muskauerstrasse endete übel: Die seit 26 Jahren in Berlin lebende türkische Wirtsfamilie wurde, weil man ihren abwesenden Sohn terroristischer Umtriebe verdächtigte, derart brutal von einem Polizeisonderkommando überfallen, dass sie entsetzt das Lokal aufgaben und in die Türkei zurückzogen. Wie zum Hohn bekamen sie zum Abschied noch die deutsche Staatsbürgerschaft.

Im Bethanien ging es derweil so weiter: Die Mittel für Kunst wurden immer knapper und es war nicht einmal mehr Geld zum Renovieren der denkmalgeschützten aber baufälligen Fassade vorhanden. In dieser Not trat ein privater Investor auf den Plan (sic). Der Leiter des Künstlerhauses schöpfte wieder Hoffnung. Dann sorgten aber mehr und mehr die von der CDU favorisierten “Kunstwerke” (inzwischen in “Institute for Contemporary Art” umbenannt) mit den Auguststraßen-Galerien drumherum für multimediale Furore. In Kreuzberg konterte man mit einer Kooperationsvereinbarung zwischen der NGBK (deren Oberbuchhalter bereits zu den Kunstwerken übergelaufen war), dem Werkbund-Archiv, dem Künstlerhaus und den Kunsträumen des Bezirksamts – beide in Bethanien. Weil im ehemaligen Armenkrankenhaus immer mehr Etagen leerstanden, planten sie, noch mehr Kunsteinrichtungen dort einzuquartieren.

Aber dann quartierte die PDS-Bezirksbürgermeisterin erst einmal eine Gruppe obdachlos gewordener Hausbesetzer aus der Yorkstraße (Kreuzberg 61) in einem Bethanien-Seitenflügel ein – vorübergehend. Als die “Zwischenlösungsfrist” ablief wollten die “Neu-Yorker” jedoch nicht mehr da raus. Die Künstlerprojekte waren entsetzt. Sie verschickten per Internet Protestbriefe, Erklärungen, Statements usw. Die “Neu-Yorker” reagierten darauf mit nächtlichen Parties und Diskussionen, zu denen sie alle möglichen Gruppen und Initiativen einluden: Neue Nutzungskonzepte, zugeschnitten insbesondere auf sozial Schwache, sollten für das Bethanienkrankenhaus dabei rauskommen. Die Künstlerprojekte weigerten sich, da mit zu diskutieren. Das ganze sah wie eine Wiederholung der Auseinandersetzungen aus, die bei der erstmaligen Besetzung des Bethanien stattgefunden hatten – nur dass diese jetzt quasi am Ende stattfanden. Und dass es inzwischen in Berlin zigmillionen Quadratmeter Wohn- und Gewerberaum gibt, der leer steht. Ein Teil der “Neu-Yorker” zog dann auch bald woanders hin. Die Dableiber nannten sich “Initiative Zukunft Bethanien” und hängten ein Transparent an die Fenster: “Das Bethanien ist besetzt”. PDS, Grüne und WASG solidarisierten sich, der taz-Gründer Christian Ströbele gab ihnen juristischen Rat, die Mitbestimmung im Haus betreffend und die Bezirksbürgermeisterin bemühte sich, die “Yorkies” zum Unterschreiben von Mietverträgen zu überreden.

Die beiden Kunstprojekte im Haus befürchten dagegen, dass das alles ihre Kunstsponsoren bzw. potentiellen Investoren verschrecken und überhaupt den weltweit guten Ruf des Künstlerhauses Bethanien ruinieren könnte. Wir haben es hier also wieder mal mit der teuflischen Dialektik von “scheuem Reh” und “Heuschrecken” zu tun. Man könnte es vielleicht auch so sagen: Das neonomadische Künstlertum (im rechten Bethanienflügel) unterscheidet sich vom notnomadischen Proletariat, dem sich die Yorckbesetzer im linken Bethanienflügel zuzählen, dadurch, dass Erstere trotz mehrfacher Immobilität (Atelier, Wohnung) immer in Bewegung bleiben müssen, was ihnen nur durch Berufskunst gelingt, während Letztere ständig hinter sozialen Bewegungen her sind, die sie notfalls simulieren, um sich und sie zu immobilisieren. Der Hausmeister (da sie in Schicht arbeiten gibt es mehrere) meint zu diesem ganzen Schlamassel bloß – diplomatisch: “Geht mich nischt an. Ick hab ganz andere Verträge als die.”

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/04/wie-im-himmel-also-auch-auf-erden/

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