Man kann und muß, wie in den letzten beiden Texten hier geschehen, gegen die aufgezwungene Individualisierung und Ichsucht argumentieren, andererseits gibt es jedoch gleichzeitig auch eine Entwicklung, die es nötig macht, die Individualrechte gegen ein vermeintliches Allgemeinwohl, womit zunehmend nur noch Kapitalinteressen gemeint sind, zu verteidigen. In diesem Zusammenhang würde ich hier jetzt gerne konkret mit einem „Tigersprung über die Elbe“ anfangen:
Das größte norddeutsche Obstanbaugebiet, das Alte Land bei Hamburg, wird besonders von der expandierenden Hansestadt bedroht, die dort in der Elbemarsch vis à vis von Blankenese, Umgehungsstraßen, Autobahnen und Zubringer plant, das Süßwasserwatt Mühlenberger Loch bereits für ein Flugzeugauslieferungszentrum des Airbus-Konzerns zuschüttete und das Dorf Altenwerder bis auf seine Kirche schliff – um Platz für neue Industrieansiedlungen und Hafenausbau zu schaffen.
Als dann aber der im nahen Finkenwerder ansässige Airbus-Konzern auch noch ankündigte, wegen eines neuen Modells, den A 380, seine Start- und Landebahn verlängern zu müssen – quer durch das Obstanbaugebiet „Rosengarten“ bis kurz vor die barocke St.Pankratiuskirche von Neuenfelde, und dazu auch noch den Landesschutzdeich verlegen wollte, da war das Maß voll: 230 Obstbauern und Sympathianten organisierten sich in einer Klägergemeinschaft – gegen die drohende Enteignung der Ländereien. Inzwischen ist daraus die größte Bürgerinitiative der BRD geworden.
Sie bildeten zunächst aber erst einmal ein „Netzwerk“ von Arbeitsgruppen, die sich mit einzelnen Aspekten des Planfeststellungsbeschlusses und den Argumenten des Hamburger Senats sowie des Airbus-Konzerns auseinandersetzten, u.a. ging es dabei um eine „Lex Airbus“, mit der die Hansestadt den Flächenbedarf des EU-Flugzeukonzerns im „öffentlichen Interesse“ enteignen wollte. Sonst seien nicht nur „Arbeitsplätze“ in Größenordnungen gefährdet, das Prestige der ganzen Nation stehe dort quasi auf dem Spiel. Hinterfüttert wurde dies mit dem Argument einer „Wachsenden Stadt“ und ihrem notwendigen „Sprung über die Elbe“. Der CDU-Bürgermeister Ole von Beust erklärte dazu, dies bedeute „mehr Qualität“, die wiederum in „mehr Quantität“ umschlage, d.h. in noch „mehr Hamburger“. Das hanseatische Oberverwaltungsgericht verbot ihm dann jedoch solch dialektischen Unsinn: Die Obstbauern atmeten auf! Ihre Ländereien durften nicht enteignet werden.
Die Freude über das Urteil währte jedoch nur kurz, denn nun wurde die hansestädtische Presse aktiv, die einen Obstbauern nach dem anderen als reichen, egoistischen Forschrittsfeind vorführte. Gleichzeitig bot die Stadt diesen immer mehr Geld pro Quadratmeter. Wer es ablehnte, wurde sofort an die Presse weiter geleitet. Bei der Neuenfelder Kirchengemeinde, der ebenfalls ein Grundstück im „Rosengarten“ gehört, versuchte man es mit kirchlichem Druck von oben. Und der Airbus-Konzern ging sogar so weit, seine Belegschaft mit der Gewerkschaft zusammen zu einer „Protestdemonstration“ auf einer Wiese am Obstbaugebiet zu formieren: „Arbeitsplätze gegen Äpfel!“ Dergestalt von allen Seiten angegriffen verkauften einige Obstbauern dann doch ihr Land.
Am Nordrand des „Rosengartens“ wurden inzwischen bereits die ersten Häuser platt gemacht. Es waren dabei regelrechte „Knebelverträge“ zustandegekommen, in denen bei einem Flächenverkäufer z.B. gleich noch das Grundstück seiner Tochter mit einbezogen wurde. Diese blieb dann auch trotz „Verkauf“ der Klägergemeinschaft als Aktivistin erhalten. Eine andere, die Bioobstbäuerin Gabi Quast, bekam zusammen mit elf anderen Leuten ein kleines „Sperrgrundstück“ geschenkt. Dort stellten sie eine Meßstation auf, die den Lärm und die Verunreinigung der Luft durch Flugbenzin messen soll und deswegen schon mal Daten sammelt – bevor es wohlmöglich doch noch mit dem Bau der Landebahnerweiterung losgeht.
Ende 2004 verkaufte ausgerechnet der Obstbauer Cord Quast sein großes Stück Land im Rosengarten. Die Bild-Zeitung jubelte: Aus Freude trage nun jeder Hamburger ein Cord-Quast-Hütchen. Quast war zuvor einer der engagiertesten Neuenfelder Obstbauern gewesen, der auf Versammlungen oft das Wort ergriffen und die hansestädtischen Journalisten eigenhändig von seinem Hof vertrieben hatte. Seine plötzliche Wandlung vom Kläger zum Verhandler erklären sich die Sprecherin der Klägergemeinschaft, ihre Anwälte, der ehemalige Neuenfelder Pastor und der Leiter des Obstbau-Versuchs und -Beratungszentrum in Jork mit dem großen Druck, dem er ausgesetzt war, nicht zuletzt auch in seiner Familie, wobei gleichzeitig betont wird, dass er auch nach Verkauf seiner Flächen im Rosengarten immer noch einen existenzfähigen Hof besitze, zudem seien seine zwei Töchter mit Obstbauern verheiratet, deren Land nicht von Airbus beansprucht wird. Und als Vorsitzender des Sommerdeichverbandes Rosengarten spiele er auch weiterhin eine wesentliche Rolle im Geschehen. Etwa Zwanzig Hektar reichen derzeit für eine auskömmliche Hofstelle im Alten Land, die hanseatische Landwirtschaftskammer geht aber bereits von zukünftig 40 Hektar aus. Da es keine Expansion, sondern nur noch eine Schrumpfung der Obstanbauflächen dort geben kann, bedeutet dies eine weitere Konzentration auf immer weniger Obstbauern im Alten Land.
Die hier vom Oberverwaltungsgericht zurückgewiesene „Lex Airbus“, mit der ein Konzern Ländereien enteignen lassen wollte, ist kein Einzelfall: Anderswo ziehen allerdings meist die Individualrechte vor den Gerichten den kürzeren – gegenüber einem vermeintlichen Allgemeinwohl, das immer öfter mit „Arbeitsplätzen“ begründet wird. Zwar sind beide Rechte grundgesetzlich geschützt, es hat dabei jedoch eine Umgewichtung stattgefunden, seit Gründung der Bundesrepublik – wenn man z.B. von den ersten SPD- und CDU-Parteiprogrammen nach dem Krieg ausgeht, in denen angesichts der „Mitschuld“ der deutschen Großindustrie und der weitreichenden sowjetischen Enteignungen ostdeutscher Betriebe und der dort sofort durchgeführten Bodenreform ebenfalls die „Verstaatlichung der Schlüsselindustrien“ mindestens der „Banken“ im Westen gefordert wurde. Zuletzt, ab 1967, wurde nur noch die Forderung „Enteignet Springer“ laut. Und so wie es hierzu zwei Konzeptionen gab: Die einen wollten den Medienkonzern verstaatlichen, die anderen ihn „dezentralisieren“ – so unterscheidet der Soziologe Claus Offe zwei Versionen von Gemeinwohl: Die eine dient zur Verteidigung der Rechte der kleinen Leute; mit der anderen argumentieren die Machteliten.
In diesem Zusammenhang wird gerne an die Teststrecke im Raum Boxberg erinnert, die Daimler Benz bauen wollte und wogegen sich ab 1979 ein wachsender Widerstand entwickelte. Hier wollte die baden-württembergische Landesregierung mit einem „Flurbereinigungsverfahren“ Ackerland für den Autokonzern enteignen. Zehn Jahre dauerte diese politisch-juristische Auseinandersetzung, die mit dem „Boxberg-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts für die Bauern siegreich endete.
Von ähnlicher Bedeutung war zuvor die erfolgreiche Besetzung des Bauplatzes für ein Atomkraftwerk in Whyl, deren 30. Jahrestag man dort unlängst feierte. Der Bürgermeister der Gemeinde Weisweiler Oliver Grumber erklärte dazu: „Wie vor 30 Jahren sind Weisweiler Bürgerinnen und Bürger auch heute noch dabei,“ d.h. sie engagieren sich seitdem für die Nutzung regenerativer Energiequellen. Mit ihrem Widerstand hob die Anti-AKW-Bewegung an, die sich 1985 im Kampf gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage (WAA) im bayrischen Wackersdorf fortsetzte, wobei die Kernkraftgegner von weither anreisten. In der „Jungle World“ erklärte der damalige SPD-Landrat des betroffenen Landkreises Schwandorf Hans Schuierer: „Für unsere Region war das eine furchtbare Zeit. Wenn man sich vorstellt, wie viele Strafverfahren gegen friedliche Demonstranten liefen. Doch der fünfzehnjährige Kampf hat sich gelohnt. Wir haben an dem Standort, wo die WAA errichtet werden sollte, inzwischen ein Industriegebiet und somit einen guten Tausch gemacht. Anfangs versprach die Betreibergesellschaft DWK 3200 Arbeitsplätze in der WAA, später 1600, dann 1200. Im Industriegebiet haben wir heute ca. 4000 Arbeitsplätze. Und dann muß ich ganz ehrlich sagen: Wir haben diese Autonomen gebraucht. Denn die Regierung hätte uns noch zehn Jahre um den Zaun tanzen lassen“.
Vielleicht werden auch die Bauern in und um das wendländische Gorleben einmal so über ihre mehr oder weniger militanten Sympathisanten reden, mit deren Unterstützung es ihnen bis heute gelungen ist, immer wieder gegen die Einlagerung von Atommüll in einen unterirdisches Salzstock, „Nukleares Entsorgungszentrum“ (NEZ) genannt, zu protestieren, indem sie jedesmal die so genannten Castor-Transporte massiv behinderten. Hierbei greift auf der anderen Seite auch noch das Bergrecht, das im Falle eines nationalen Energieversorgungs-Interesses Enteignungen und Zwangsumsiedlungen erleichtert. In Gorleben ist Graf von Bernstorff ein Großgrundbesitzer und damit dort laut Spiegel „die Schlüsselfigur“. Ihn hat man zwar aus der CDU ausgeschlossen und vor allem einzuschüchtern sowie auch zu korrumpieren versucht, wie er das Winken mit viel Geld nennt, aber bisher habe es noch keine „konkreten Hinweise auf Enteignung“ seiner Ländereien gegeben, er würde aber so oder so fortfahren, Widerstand zu leisten.
Das ist im nordrhein-westfälischen Braunkohletagebau Garzweiler II anders: Hier werden gerade mit Hilfe des Bergrechts und nach erfolgreichen Verhandlungen 18 Dörfer und Weiler sowie ein Drittel der Stadt Erkelenz zerstört – und etwa 8000 Menschen umgesiedelt. Mit ihrem Widerstand erreichten sie nur einigermaßen respektable Abfindungen, aber die Argumente ihres Gegners, in diesem Fall der RWE-Konzern, tragen auch nicht mehr weit, denn im Zuge der Deregulierung des Energiemarktes und der Umweltschutzbedenken der EU gegenüber der Braunkohlenverstromung ist die Abbaggerung von Dörfern immer weniger mit einem nationalen Versorgungsinteresse zu begründen – und stößt deswegen auf immer stärkeren Widerstand.
Dafür scheinen die Gerichte jedoch dem Arbeitsplatz-Argument zunehmend mehr Gewicht bei zu messen – besonders im fast deindustrialisierten und von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Osten, wo den Braunkohlebaggern des schwedischen Konzerns Vattenfall demnächst die brandenburgischen bzw. sächsischen Orte Heidemühl, Schleife, Trebendorf und Heuersdorf ganz oder teilweise zum Opfer fallen, außerdem das Naturschutzgebiet Lakomaer Teiche. Zerstört wurde auch das denkmalgeschützte sorbische Dorf Horno, dessen Bewohner schon zu DDR-Zeiten angefangen hatten, sich gegen ihre Enteignung und Umsiedlung zu wehren. 1997 machte dem jedoch ein von der SPD-Landesregierung verabschiedetes „Hornogesetz“ ein Ende, das dann vom Landesverfassungsgericht als verfassungskonform anerkannt wurde – trotz des zuvor für die sorbische Minderheit in der Landesverfassung festgeschriebenen Schutzes ihres „angestammten Siedlungsgebietes“. Zuletzt lebten dort nur noch das Gärtnerehepaar Domain und ihr Mieter Michael Gromm – inmitten einer Ruinenlandschaft, aber sie kämpften weiter. Der Obstgärtner Domain mußte sich vom Vattenfall-Anwalt vor dem Bergamt sagen lassen: „Lassen Sie Ihre Scherze, sonst ziehen wir andere Saiten auf!“ Domain blieb jedoch auch beim letzten Vattenfall-Angebot – 450.000 Euro – standhaft: „Ich gehe notfalls bis vors Bundesverfassungsgericht!“ Aber Anfang 2006 gab er dann doch auf und ließ sich als letzter umsetzen.
Bis auf einen einzigen Widerständler wurde ebenso bereits das Dorf Diepensee am Rand von Berlin abgeräumt. Dort soll demnächst der neue Großflughafen Schönefeld gebaut werden, ein Gericht verhängte jedoch Mitte April 2005 einen einjährigen Baustopp: „40.000 Jobs in Gefahr!“ titelte die Bild-Zeitung prompt. Solch vereinsamte „letzte Aufrechte“ wie in Diepensee gibt es im übrigen auch in „Altenwerder“ und bei „Garzweiler II“.
Massenhaften und militanten Widerstand gab es Anfang der Achtzigerjahre gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens, er reichte jedoch auch nicht aus. Jetzt formieren sich dort erneut die „Startbahngegner“, denn noch einmal soll hier der Flughafen erweitert werden, wobei ihm diesmal die Siedlung Zeppelinheim zum Opfer fällt. Aber auch andere Gemeinden von Offenbach bis Bischofsheim sind betroffen. Einer ihrer Wortführer ist der CDU-Bürgermeister von Neu-Isenburg Oliver Quilling: „Die Südbahn wäre für uns der Super-GAU,“ meint er, „die Stadt würde mittig überflogen“.
Bereits ausgebaut wird derzeit trotz Proteste und Friedensdemonstrationen der US-Militärflughafen Spangdahlem bei Bitburg in der Eifel. Hier drohte man den Grundstücksbesitzern mit dem „Gesetz über die Landbeschaffung für Aufgaben der Verteidigung“ von 1957. Nachdem einige Prozesse verloren gegangen waren, nahmen viele Landwirte die angebotenen Entschädigungen an. „Die Menschen sind eingeschüchtert und zermürbt,“ erklärte der Sprecher der Flughafengegner – der Nebenerwerbslandwirt Hans-Günther Schneider. Aber einige solidarische Gruppen, grüne Ortsgruppen z.B., „kämpfen“ noch weiter. Ende März 2006 war der brandenburgische Luft-Boden-Schießplatz „Bombodrom“ bei Wittstock wieder einmal Ziel des Ostermarsches, auch hier hat ein Gericht per Bescheid der Bundeswehr die weitere Nutzung fürs erste untersagt.
Ähnlich wie beim Hamburger Obstanbaugebiet Altes Land gestaltete sich die Situation im Stuttgarter Gemüseanbaugebiet Filder, das vom Bau einer neuen Messe bedroht wird. Die „Schutzgemeinschaft Filder“ kämpft hier schon seit zehn Jahren. Einer der sechs klagenden Bauern, Walter Stäbler, gab inzwischen auf und verkaufte sein Land an die Messeplaner. Sein Übertritt von den Klägern zu den Verhandlern sei besonders bitter, meinte die Sprecherin der Schutzgemeinschaft Gabi Visitin, weil Stäbler einer ihrer engagiertesten Mitstreiter war. Die aus 40 Gemeinden und Organisationen bestehende Schutzgemeinschaft klagte durch zehn Instanzen – bis sie im Juli 2004 vor dem baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof verlor. Dem Mannheimer Gerichtsentscheid kommt bundesweite Bedeutung zu, denn er stützt das 1998 vom baden-württembergischen Landtag verabschiedete „Messegesetz“, das Enteignungen und Sofortvollzug der Baumaßnahmen speziell für die Messe möglich macht.
Bisher waren Zwangsenteignungen nur erlaubt, wenn das Allgemeinwohl dem privaten Interesse übergeordnet werden konnte, was für Bauvorhaben zur Landesverteidigung, zur notwendigen Verkehrswegeverbesserung und zur Versorgung mit Strom, Gas und Wasser galt.“ Und bei der Verkehrswegeplanung verlangten die Gerichte in der Vergangenheit nicht selten eine Änderung zugunsten einer oder mehrerer Grundeigentümer, die partout nicht weichen wollten und sich als Einzelkämpfer hartnäckig durch die Instanzen geklagt hatten.
Angesichts des seit Mitte der Siebzigerjahre wachsenden Widerstands gegen umweltzerstörende Großbauprojekte griffen die höchsten Gerichte zunächst zu einer Reihe flankierender Maßnahmen – gegen die Protestierer und Blockierer. Eine davon war 1988 das Verbot von Sitzblockaden durch den Bundesgerichtshof. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch ließ es sich – wiederum aus Protest dagegen – nicht nehmen, wenig später schon an einer Sitzblockade gegen das „Giftgaslager Fischbach“ bei Pirmasens teil zu nehmen – mit der Begründung: „Das Urteil ist verfassungswidrig. Im Gesetz steht ausdrücklich, dass eine solche Sitzblockade nur strafbar ist, wenn sie verwerflich ist, d.h. wenn man nur einen privaten Zweck verfolgt. Aber der Gesetzgeber, und dazu habe ich als Bundestagsabgeordneter damals selbst gehört, hat ausdrücklich hineingeschrieben, dass das Motiv, weswegen jemand blockiert, eine Rolle spielt. Und der BGH hat jetzt erstaunlicherweise entschieden, dass dieses Motiv überhaupt keine Rolle spielt bei der Verurteilung, sondern höchstens bei der Strafzumessung. Das ist ein glatter Kunstfehler.“ Ein inzwischen verstorbener Aktivist gegen das Giftgaslager hat den solidarischen Richter Hirsch da korrigiert: „Es ist wohl eher eine Frage des Kräfteverhältnisses, wenn man so will, des ‚Zeitgeistes‘.“
Das mußten auch die Bauern auf der nordfriesischen Halbinsel Eiderstedt erfahren, die sich geradezu in einem „Krieg“ wähnen. Sie kämpfen dort jedoch nicht gegen vermeintlich arbeitsplatzschaffende Bauvorhaben, sondern im Gegenteil: gegen die sukzessive Ausweitung Eiderstedts zu einem Flora-Fauna-Habitat-Gebiet, das ihnen in ihrer landwirtschaftlichen Arbeit immer mehr Einschränkungen auferlegt. Sie haben sich dagegen in einer „Interessengemeinschaft ‚Rettet Eiderstedt'“ organisiert, der vor allem die in Schleswig-Holstein mitregierende Partei der Grünen ein Dorn im Auge ist. „Die Grünen aber wissen,“ schreibt die FAZ, „dass eine harte Haltung im Streit um Eiderstedt bei der grünen städtischen Klientel vor allem in Kiel mehr Stimmen bringt, als bei den wenigen Landwirten in Eiderstedt verlorengehen.“ Einer der Bauern in Eiderstedt sagte es so: „Diese hauptberuflichen Umweltschützer sind schlimmer als die Grafen einst!“
Aber die Betroffenen werden auch immer professioneller: Im Alten Land z.B. läßt sich die Klägergemeinschaft von der Hamburger Anwaltskanzlei Mohr vertreten und die ausgescherten „Verhandler“ von der Societät Günther. Beide sind zur Kooperation untereinander verpflichtet. Umgekehrt ließ sich die Interessengemeinschaft für den Erhalt der Lakomaer Teiche in Brandenburg erst von den Hamburger „Verhandler“-Anwälten beraten und nunmehr von der Kanzlei der Klägergemeinschaft. Diesbezüglich einen guten Ruf genießt daneben auch die Berliner Kanzlei De Witt, Müller-Wrede. Auf ihrer Internetseite heißt es: „Aufgrund vielfältiger und langjähriger Erfahrungen bieten wir Beratung in strategischen und taktischen Fragen“ sowie auch über „die Wirkung in der Öffentlichkeit“. Siegfried de Witt war u.a. lange Zeit Anwalt der Boxberger Bauern sowie dann auch der Gemeinde Horno, die zuletzt parallel zu ihrem Widerstand verhandelte. Die drei im zerstörten Dorf bis zuletzt Ausharrenden ließen sich vor Gericht und Bergamt u.a. von dem in Frankfurt/Main ansässigen Anwaltsbüro Philipp-Gerlach & Teßmer vertreten. Diese weisen auf ihrer Homepage gleich auf eine ganze Reihe eigener Veröffentlichungen zu „Lärm- und Luftauswirkungen beim Flugverkehr“, zum „Bundesverkehrswegeplan“, zur „Landschaftserhaltung“, zu „Verbandsklagen gegen Tagebau-Zulassungen“, zu „Habitat und Vogelschutzrecht“ und generell zum Thema „Natur und Recht“ hin. Im Sommer 2006 erreichte Dirk Teßmer dann auch vor dem Oberverwaltungsgericht ein für die von „Garzweiler II“ Betroffenen ein günstiges Urteil, das wiederum der Horno-Aktivist Michael Gromm demnächst aufgreifen wird – in einer taz-Beilage, um diesen ganzen „Komplex“ noch einmal aus seiner – Hornoer – Sicht darzustellen.
Die schnell wachsende Zahl von Klienten für diese Kanzleien deutet darauf hin, dass angesichts der hohen Arbeitslosigkeit Politik, Presse und Justiz immer bereitwilliger werden, den Industriekonzernen bei ihren Expansionsplänen zuzuarbeiten, d.h. die ihnen dabei im Weg oder in der Einflugschneise wohnenden kleinen Leute beiseite zu räumen, was nicht zuletzt auch mit der zunehmenden „Standortkonkurrenz“ der Kommunen zusammenhängt. „Im Mittelpunkt steht der Mensch, aber genau da steht er im Weg,“ so sagte es der ehemalige VW-Vorständler Daniel Goeudevert.
Beizeiten bereits hatte sich dieser (globalen) Managersicht gegenüber der Ethnologe Claude Lévy-Strauss für ein Denken und Planen auf „authentischem Niveau“ ausgesprochen: Weil diese Gesellschaft die Individuen auf auswechselbare Atome reduziere und sie zugunsten des Profits zentraler, anonymer Gewalten enteigne, dürfe man gerade jetzt nicht mehr das „Niveau des Authentischen“ verlassen. Und dieses existiere nur in „konkreten Beziehungen zwischen Einzelnen: Auf authentischem Niveau liegt z.B. das Leben in einer Gemeinde“, wo keine abstrakten Entscheidungen, sondern solche von konkreten Individuen getroffen werden, „deren kollektives Leben auf einer authentischen Wahrnehmung der Wirklichkeit beruht: auf Wahrheit. Eine globale Gesellschaft beruht dagegen auf Menschenstaub“.
Im Alten Land ging es so weiter, dass für den Bau der Airbus-Landebahn ein „Planänderungsverfahren“ eingeleitet wurde, gegen den die Bürger 470 Einwendungen geltend machten. Auf der anderen (Elbe-)Seite kam das Oberverwaltungsgericht Ende Mai bei einer Klage gegen den alten Plan zu dem Urteil, dass fürderhin auch bei solch „mittelbar gemeinnützigen Vorhaben“ (von Unternehmen) die Betroffenen mehr erdulden müssen als „normal“ – Fluglärm z.B., deren oberster Grenzwert für Wohngebiete bei 55 Decibel (dbA) liegt, den das OVG nun jedoch auf 61 bis 62 Decibel hochschraubte. Gegen diese „überraschende“ juristische Wende und den neuen Begriff „mittelbar gemeinnützig“ wollen die Anwälte der Klägergemeinschaft in Revision gehen.
Ende Juli 2006 demonstrierten die Obstbauern aus dem Alten Land erst einmal in Hamburg. Das Hamburger Abendblatt berichtete anschließend: „Anwohner fürchten den Tod einer ganzen Region – und den Verlust ihrer Existenzen. Die Airbus-Landebahn, gleich zwei Autobahnen (A 20 und A 26) durch das bislang geschlossene Anbaugebiet, die Umgehung des verkehrsgeplagten Finkenwerder: Unter den Bewohnern, egal aus welchem Ort im Alten Land, wächst die Angst. Gestern trugen die Bauern ihre Angst in die Hamburger City: Mit etwa 150 Treckern und Anhängern tuckerten sie von Neuenfelde bis vor das Hamburger Rathaus. ‚Bäume blühen nicht auf Beton‘ und ‚Angst hinterm Deich‘ hatten die bodenständigen Obstbauern auf ihre Plakate geschrieben. ‚Der Senat zerstört, was uns gehört‘, fürchten viele von ihnen. Anders als noch in den Vorjahren präsentiert sich das Alte Land mittlerweile als Einheit im Protest gegen die Senatspläne in Sachen Airbus und Autobahnbau. ‚Im Alten Land ist in der Not das Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen‘, sagt Gabi Quast vom Schutzbündnis Elbregion e. V. ‚Die Solidarität untereinander ist deutlich zu spüren. Das wird auch der Senat merken.‘ Grund für den neuen Zusammenhalt der Altländer: ‚Die Bedrohungen sind weitaus konkreter geworden‘, so Gabi Quast.“
Erwähnt sei abschließend noch, dass soeben im Hamburger Nautilus-Verlag ein Buch über den Konflikt im Alten Land erschien – von Uwe Westphal und Renate Nimtz-Köster: „Das Mühlenberger Milliardenloch – Wie ein Flugzeug die Politik beherrscht“. Diese Chronologie geht natürlich sehr viel ausführlicher auf den konkreten „Fall“ ein als ich das hier getan habe.
Neulich in der taz Nord, zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Elbversandung und „Mühlenberger Milliardenloch“:
„Ein dritter und besonders pikanter Problemberg hat sich im Zentrum des Hamburger Hafens neu erhoben. An der Einfahrt von der Norderelbe in den Köhlbrand zum neuen und lange umstrittenen Containerterminal Altenwerder lagert der Fluss seit etwa vier Jahren verstärkt meterdick Sedimente ab: Von gut 300.000 m(3) im Jahr 2001 wuchs die Menge bis 2004 um etwa das Dreifache auf rund eine Million.
Die Häufung begann zeitgleich mit der Zuschüttung der Elbbucht Mühlenberger Loch sechs Kilometer stromabwärts für die Erweiterung des Airbus-Werkes. In der dort verkleinerten Flachwasserzone kann der Fluss weniger ablagern, „also tut er es an der nächsten Kurve“, sagt Nix. Dass der Hamburger Senat also mit den Naturzerstörungen für die Flugzeugwerft seinen Hafen selbst zuschüttet, will er aber „so eindeutig nicht schlussfolgern“. …“
http://www.taz.de/pt/2006/07/28/a0041.1/text