vonHelmut Höge 14.08.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Nicht nur, dass es in Berlin eine ebenso elitäre wie private Hertie-Herrsch-Schule (School of Governance) gibt, daneben macht sich auch noch eine wachsende Zahl von Design-, Tanz-, Theater-, Film- und Journalistik-Ausbildungsstätten hier breit. Die taz, wo einerseits immer mehr Mitarbeiter an Journalistenschulen lehren und andererseits immer mehr Praktikanten arbeiten (die Warteliste dafür wird ständig länger), hat diesen vor einigen Jahren parallel zur täglichen Praxis eine Art Theorieangebot offeriert. Daraus ist inzwischen eine ganze „taz-akademie“ geworden, wenn auch eher in Gründung noch, d.h. dass immer mehr Altredakteure sich darüber Gedanken machen, was man den jungen Leuten in der taz sonst noch so ausbildungsmäßig alles bieten könnte. Heute morgen wurde ich beim Tonerwechsel in eine Flurdebatte darüber verwickelt, wobei ich mich gegen eine „taz-akademie“ (ta) und für eine „Partisanen-Universität Berlin“ (pub) aussprach.

Für beides gibt es bereits Initiativen. Während bei der ta jedoch bloß gute Journalisten bei rauskommen sollen, kann man die pub mit einem dipl.part (Partisanendiplom) abschließen (1). Diesen Studiengang gab es schon einmal – ab 1941 – in der Sowjetunion. Und die pub-ini hat sich denn auch bei der Erstellung ihres ersten „Partisanen-Karechismus“ vor allem von den aus den montäglichen Parteilehrgängen bekannten Berichten von Alexej Fjodorow leiten lassen: „Das illegale Gebietskomitee arbeitet“ und „Der letzte Winter“. Dieser „Partisanen-Katechismus“ wurde mir – zünftig – als Flugblatt in die Hand gedrückt, er enthält 70 Punkte:

1.Der Frost ist kein Freund der Partisanen.

2.Die Partisanen leben voll und ganz auf Kosten der (West)Deutschen, und ihre Parole lautet: „Tod den Okkupanten“.

3. Grundlage der Partisanentaktik ist die Bewegung.

4. Ein Partisanen-Wunschkonzert kann die Stimmung erheblich heben.

5. Die Partisanenmode ist oft keck (z.B. ungarisch und mit umgekrempelten Stiefelschäften) und besteht zumeist aus umgearbeiteten Beuteuniformen.

6. Die Partisanen sprechen nicht von „Kämpfen“, sondern von „Arbeit“, „Produktion“ und „Schwarzarbeit“: letzteres sind Sprengungen und sonstige Zerstörungen – „ein Brand ist doch immer schön“.

7. Für Partisaneneinheiten ist es stets gut, sich zu treffen, sich kennenzulernen und über gemeinsame Aktionen zu reden.

8. Abschließend wird ein gemeinsamer Partisaneneid abgelegt.

9. Bei der Aktion braucht es oft einen besonders Wagemutigen, „um die Sache in Schwung zu bringen“.

10. Bei der Partisanenschulung leistet neben der Wandzeitung die „lebendige Zeitung“ gute Dienste, auch Gedichte sind wichtig.

11. Der Wald ist ein gigantisches Partisanenlager, sein Territorium das Partisanenreich. Im Partisanenrevier können unterschiedliche Partisanenformationen leben.

12. Wichtiger als das Heldentum der Partisanen ist es, ihre Überwindung der Furcht herauszustreichen.

13. Partisanen sind daran zu erkennen, daß sie immer ein wenig undiszipliniert sind.

14. Das Partisanenbewußtsein kann durch Einladungen nach Moskau noch gesteigert werden.

15. Die Partisanenabteilungen übertreiben oft ihre Einsamkeit.

16. Die Partisanenausrüstung bedarf ständiger Verbesserung.

17. Auch in Hotels wird sofort eine Partisanenordnung eingeführt (beginnend z.B. mit der Übertretung des Rauchverbots).

18. Wenn die Polizisten „in ganzen Rudeln“ überlaufen, so ist das gut und nicht schlecht.

19. „Meine (West)Deutschen sind nicht schlechter als deine…“ – deswegen sollten die Partisanenabteilungen ihre Waffen stets gerecht untereinander aufteilen.

20. Die Standpunkte rückständigen Partisanentums müssen bekämpft werden, dazu gehört, die vorübergehende Existenz der Partisanenbewegung zu leugnen.

21.Jede Partisanen-Selbstherrschaft muß einmal ein Ende haben.

22. Zur massenpolitischen Arbeit gehören Vorträge und Filmvorführungen von Partisanen, z.B. mit einem Wanderkino.

23. Die Partisanen müssen alle zugleich Detektive und Kenner der menschlichen Seele sein.

24. Nach Partisanensitte werden Tote „nach Möglichkeit in einem Dorf“ beigesetzt.

25. Partisanenkolonnen sollten sich viele Kilometer lang hinziehen.

26. Sogar das Lächeln als einen Ausdruck von Undiszipliniertheit zu betrachten, ist übertriebenes Partisanenführertum.

27. Sobald Partisanen im Dorf sind, sollte ein Feiertag auf den anderen folgen: ihre Legitimierung durch den Kirchenkalender ist nicht schwer.

28. Wenn schon dauernd Hering, Sauerkraut und Pellkartoffeln, dann letzteres wenigstens auf Partisanenart zubereitet.

28. Die Form der Partisanenorganisation wird durch das Leben selbst diktiert.

29. Das Partisanengewissen sollte immer rein sein.

30. Auch beim Fusionieren bewahren die Partisanenabteilungen ihre Autonomie – „gleichsam wie kleine Landsmannschaften“.

31. Partisanen tanzen und singen gerne.

32. Der Schlaf der Partisanen sollte kurz aber fest sein.

33.Die Partisanen müssen alles darauf richten, eine Volksbewegung zu werden, dann ist die Bevölkerung auch bald für sie eingestellt – und versucht ebenfalls den Okkupanten zu schaden: „Kommt ein Partisan vorbei, sagen sie hinterher, daß es tausend waren, kommen aber tausend vorbei, dann sagen sie, daß es einer war“.

34. Eine typische Partisanen-Ausrede lautet: „Ich hab mich im Wald verlaufen!“

35. Partisanen sorgen sich selbst um das tägliche Brot. Und Branntwein ist immer willkommen.

36. Manchmal tut es den Partisanen auch gut, zur Abwechslung einmal frisch rasiert und mit geschnittenen Haaren herumzulaufen.

37. Die Partisanen sollten und können nicht jeden Verräter gleich umlegen. Zudem trügt oft der Schein, gerade in Konfliktsituationen. Aber bekanntlich haben Partisanen keinen Platz für Gefangene.

38. Ohne schöpferische Streitgespräche kommt man im Sprengwesen nicht aus.

39. „Es existiert eine mathematisch präzise Formel, die aus der Praxis des Partisanenkrieges abgeleitet wurde: Bewachung und Verteidigung von Eisenbahnlinien sind direkt proportional der Schlagkraft gegen diese“.

40. Die Begriffe „unter Wetter“ und „bei Zuglärm“ gehören zur Taktik von Partisanenoperationen.

41.Wenn die Eisenbahner selbst ihre Züge in die Luft sprengen, spricht man von einer Partisanenagentur.

42. Periodisch leiden die Partisanen immer wieder unter großem „Sprengstoffhunger“.

43. „Flugblätter und Instruktionen sind natürlich gut, aber den Partisanen die Hand zu schütteln und mit ihnen zu reden, bedeutet viel“.

44. Der Hang zur Autonomie bei den Partisaneneinheiten – „ist eine Kinderkrankheit“.

45. Zur Ausbildung von Sprengmeistern empfiehlt sich die Gründung einer „Partisanenakademie“.

46. „Das hat gefunkt“ – ist ein bei den Sprengkommandos beliebtes Sprichtwort.

47. Wenn der Partisan einmal einen Lagebericht in einer Kirche von der Kanzel verlesen muß – dann sollte dies wenigstens „auf hohem Niveau“ geschehen.

48. Auch ein Partisanenlazarett sollte man mit „fröhlicher Energie“ aufbauen.

49. In der Anrede sollte man stets von „Partisanen und Partisaninnen“ sprechen.

50. Vor allem gilt es, den Feind mit allen Kräften daran zu hindern, die ortsansässige Jugend zur Arbeit nach (West)Deutschland zusammenzutreiben. Und gegenüber den sogenannten „Arbeitsämtern“ darf es kein Pardon geben.

51. Selbst auf gefrorenem Boden läßt sich ein Partisanenhopak tanzen.

52. Und was den Faschisten betrifft – „hau ihn bis zum Nabel durch, dann fällt er von selbst auseinander“.

53.Für die jungen Partisanen aus dem Ausland sind Ausbildungsstellen einzurichten.

54. Die Fernaufklärer werden von den Partisanen gerne als „Rahmabschöpfer“ bezeichnet.

55. Die Aufklärung muß alles wissen, was notwendig ist, zumindest das Zehnfache von dem, was nicht notwendig ist. Und dann ist auch noch der Zufall im Leben der Aufklärer ein wichtiger Faktor.

56.Die Partisanenliebe ist in fast jedem Fall zu befürworten – sie fördert den Zusammenhalt der Gruppe und stärkt ihre Kampfmoral. Auf besonderen Wunsch kann sie in eine Partisanenhochzeit gipfeln, mit dem schriftlichen Segen des Kommandeurs und des Kommissars.

57. Dem Druck von außen kann die Partisanengruppe nur standhalten und etwas entgegensetzen, wenn sie einen entsprechenden Innendruck entwickelt – dieser beruht auch und vor allem auf emotionale Bindungen.

58. Partisanen-Kulturveranstaltungen sind wichtig und erholsam, wenn es dabei um Aufklärung und Kritik geht und ein Abrutschen in Unterhaltung oder (amerikanisches) Entertainment vermieden wird, um nicht dem allgemeinen Hang zu billigen Lachern Vorschub zu leisten.

59. Das Partisanen-Lachen an sich ist jedoch gesund. Aber schnell wird dabei aus dem Partisan ein Unterhaltungs- oder Vortragskünstler, dabei sollte es umgekehrt darum gehen, aus Künstlern und Intellektuellen gute Partisanen zu machen.

60. Die sexuelle Belästigung vor allem unter Alkoholeinfluß hat unter Partisanen nicht selten den Tod durch sofortiges Erschießen zur Folge.

61. Minderjährige Partisanen und Partisaninnen werden nicht zu den Einsätzen gezwungen oder überredet. Sie selber wollen den Feind bekämpfen – „wie Racheengel auf seidenen Fallschirmflügeln“.

62. Aus irgendeinem Grund sind Partisaninnen besser als Partisanen geeignet, Posten als Scharfschützen und Funker zu übernehmen. Auch bei der Luftbildauswertung leisten sie Hervorragendes. Die Partisanin ist Gegenspielerin des Technokraten.

63. Die Partisanen-Tollkühnheit und -Lässigkeit ist manchmal – besonders bei Sprengmeistern – beunruhigend.

64. Zwischen den illegalen Organisationen und den Partisanengruppen, -abteilungen und sogar -einheiten mangelt es mitunter an guten Verbindungen, besonders zwischen denen, die sich spontan bildeten. Manchmal braucht es deswegen spezielle Partisanen-Koordinierungsgruppen. Deren Autorität muß anerkannt sein.

65. Wälder, Sümpfe und Berge sind die natürlichen Freunde der Partisanen, aber auch diese Beziehung muß entwickelt und erarbeitet werden.

66. Dem Ex-Partisanen entsteht noch im Urlaub auf Kuba beim Meeresrauschen und beim Rascheln der Palmen vor seinem inneren Auge „immer wieder der Partisanenwald“.

67. Für jeden Partisanen ist es Ehrensache: „Wenn er schon sterben muß, dann mit Musik, wie man so sagt“.

68. Marx hatte Recht, als er schrieb, daß die Partisanen ihre Operationsbasis in sich selbst tragen und daß jedes gegen sie gerichtete militärische Unternehmen damit endet, daß das Kampfobjekt verschwindet.

69. Die abschließende Zusammenstellung von Berichten hat erst einmal etwas Langweiliges, Bürohaftes für die Partisanen, aber dann erweist sie sich als eine lebendige interessante Sache.

70. Danach sollte unbedingt eine „Kommission für die Angelegenheiten ehemaliger Partisanen“ gegründet werden.

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(1) Unter Ausbildungs-Gesichtspunkten ließe sich der Unterschied zwischen einer taz-akademie und einer pub in etwa mit dem zwischen Ralswiek (Ostsee) und Marienhafe (Nordsee) vergleichen. Hier wie dort geht es um Piraterie, d.h. Freibeuterei,Terrorismus etc.
Die Piraterie ist eine Form der ursprünglichen Akkumulation. Meist kennt man nur die gescheiterten Seeräuber, also die, die gefangengenommen und oder getötet wurden. Unbekannt sind dagegen all jene Freibeuter geblieben, die erfolgreich waren, also mit ihrer Beute entkommen konnten – und normale Geschäftsleute wurden, denen mithin die ursprüngliche Akkumulation gelang.

Der gescheiterte Westberliner Kaufhauserpresser Dagobert, Arno Funke, spricht in seiner Autobiographie von der gefährlichen „Schnittstelle“ – zwischen Polizei und Geldübergabe, der alle Aufmerksamkeit zu gelten habe. Die Schnittstelle bei der Seepiraterie ist eine doppelte: einmal – beim Entern – zwischen dem eigenen und dem fremden Schiff und dann beim Umrubeln der Kaperware an Land bzw. beim anschließenden Transfer der Gewinne in legale Geschäfte – auch Geldwäsche genannt. Dergestalt sind die Freibeuter zwiefach gezwungen, sich an die Haupthandelsströme zu heften. Und demzufolge waren ihre Wirkungszentren nacheinander das Mittelmeer, die Karibik, das südchinesische Meer, die Nord- und Ostsee – sowie bis heute die Wasserstraßen zwischen Indonesien und den Philippinen.

Piraten müssen stets auf Kollisionskurs gehen! Hinter ihnen standen aber nicht selten ganze „Companies“ – d. h. seriöse große Kapitalgeber. Dies war besonders in Mittelamerika der Fall, wo es ein Pirat dann auch schaffte, ohne zu scheitern berühmt zu werden: Henry Morgan, er wurde später Gouverneur von Jamaica. Die Liste der erfolgreichen Investoren in Kapergeschäfte ist lang. Sogar Voltaire beteiligte sich als Kapitalgeber an einer auf Sklavenraub und -handel spezialisierten „Company“. An der kroatischen Küste und auf den Inseln gab es lange Zeit das Kuriosum, dass dort ganze Bevölkerungen von der Piraterie lebten.

In Deutschland kaperte der kommunistische Hamburger Seemann Hermann Knüfken zusammen mit dem holländischen Arbeiter Jan Appel und dem Schriftsteller Franz Jung 1920 ein deutsches Schiff, um nach Rußland zu gelangen – zum 2. Kongreß der Komintern, wo der Vorsitzende Lenin Knüfken als „Genosse Pirat“ begrüßte. Wieder zurück in Deutschland nahm dieser alle Schuld auf sich und bekam fünf Jahre Knast. Wieder und wieder wurde auf KP-Demonstrationen in Hamburg die Freilassung des Volkshelden gefordert. (Der baltische Historiker Andreas Hansen hat gerade Knüfkens Biographie im Berliner Basisdruck-Verlag veröffentlicht.)

1945 entstand mit dem Zusammenbruch Deutschlands erneut eine der Piraterie günstige – unübersichtliche – Situation, besonders in der Ostzone. Hier waren es dann eine Frau Gnahb und ihr Sohn Otto, die mit einem Fischkutter den „Stückgutverkehr“ zwischen den schwarzen Märkten entlang der Ostsee besorgten. Wobei sie vor allem zwischen Swinemünde, Peenemünde und Rügen operierten – von den Russen geduldet. Es gibt sogar ein Shanty von und über diese „Königin der Ostsee-Piraten“. Es findet sich in Thomas Pynchons V2-Peenemünde-Roman „Die Enden der Parabel“ auf Seite 777.

Auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, 1991, blühte wieder der Schmuggel. Vier Jahre erforschte die polnische Ethnologin Malgorzata Irek den „Schmugglerzug Warschau – Berlin – Warschau“. Ihre hervorragende Arbeit erschien im Berliner Verlag „Das arabische Buch“ (sic!). Bei dieser Form von Freibeuterei über Land geht es explizit um ursprüngliche Akkumulation. Auch Menschen- bzw. Mädchenhandel kam nun wieder an dieser Schnittstelle (der einstigen Systeme) auf, deren Wasserscheiden, Oder und Neiße, deswegen sofort zügig zur „sichersten Grenze der Welt“ ausgebaut wurden. Ähnliches wiederholt sich derzeit an den neuen Grenzen der EU – weiter östlich.

1993 wurden von Peenemünde auf Usedom aus 40 Kriegsschiffe der NVA nach Indonesien verkauft. Nach Protesten von Pazifisten mußte die Regierung Suharto sich verpflichten, sie in ihren Gewässern nur gegen Kriminelle – „Piraten und Schmuggler“, die dort „Sea-Gypsies“ genannt werden – einzusetzen. Nach 1945 hatten dort – gegen Japan und Holland – die Indonesier selbst ihren Unabhängigkeitskampf erst einmal als Piraten und Schmuggler mit englischen Schiffen geführt. 1999, kurz nach dem Bürgerkrieg in Indonesien, trauten sich die Schiffe der „Seezigeuner/Piraten/Verbrecher bis in den Hafen von Djakarta, wo sie an Land gingen – um eine Handelsgesellschaft zu eröffnen.

Zurück an die Ostsee: Dort waren 1959 am kleinen Fischerhafen Ralswiek parallel zur „Bitterfelder Konferenz“ die „Rügenfestspiele“ gegründet worden. Ein „Bayreuth der Ostseeküste“ sollte daraus werden. Hanns Anselm Perten inszenierte nach einer Ballade von Kurt Barthel den Seeräuber Störtebeker als „Seher der Großen Oktoberrevolution“. Damit war bereits die Richtigkeit des Bitterfeldes Weges nachdrücklich beweiskräftig gemacht worden. In ähnlich präproletarische Richtung bewegten sich auch Willi Bredels Roman „Die Vitalienbrüder“ und der Mosaik-Comic „Auf Störtebekers Spuren“. 1981 fand die letzte DDR-Störtebeker-Inszenierung auf Rügen statt.

Inzwischen war ein DDR-Kaskadeur namens Peter Hicks republikflüchtig geworden. Man hatte ihn jedoch an der Grenze geschnappt und verhaftet, woraufhin die BRD ihn freikaufte. Im Westen fand Hicks dann – als Bösewicht und Stuntman – einen Job bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg. Er arbeitete sich dort bis zum Intendanten hoch. Mit der Verpflichtung von Pierre Brice als Winnetou gelang ihm ein dauerhafter Publikumserfolg. Nach der Wende ging Hicks zurück in den Osten, wo er, unterstützt von einigen Kapitalgebern, die Störtebeker-Festspiele auf Rügen wiederbelebte. Hans-Dietrich Genscher verlieh ihm dafür den „Managerpreis 93“. „Wir waren streckenweise der größte Investor auf der Insel“, so Hicks. Damals hatte er bereits 24 Dauer- sowie 150 Saisonarbeitsplätze geschaffen. Als sein Hauptsponsor fungiert der japanische Autokonzern Nissan.

Von den alten Störtebeker-Mimen übernahm Hicks nur Burkhard Kurth. Der hatte zuletzt den „Chefideologen“ Magister Wigbold gespielt: „Das war der Kurt Hager von Störtebeker, Goedeke war der Haudegen Mielke und Störtebeker die Lichtgestalt – Honecker“. Die damalige Inszenierung hatte jedoch neben diesem „ideologischen Korsett auch ihre Qualitäten“: So war z. B. in den Massenszenen mit über 1.000 Darstellern „mehr Dynamik drin“, und es gab mehr Koggen als jetzt, „die sich sogar untereinander beschossen“. Auch doppelt so viele Pferde, die Perten „jedoch immer nur von links nach rechts galoppieren ließ“. Statt Musik vom Band hatte man ein ganzes Symphonieorchester zu den „18. Arbeiterfestspielen“ verpflichtet, für das Abschlußfeuerwerk sorgte die NVA vom nahen Standort Prora. Perten hatte damals auch noch 80 Tänzerinnen angeheuert, sie werden von Kurth heute besonders vermißt.

Für die Störtebeker-Rolle verpflichtete Hicks in den ersten Jahre den blondlockigen West-Mimen Norbert Braun. „Großartige Haltung, nur sprechen kann er schlecht“, nörgelte ein Kritiker in der Berliner Zeitung. Beim Publikum kam Norbert Braun besser an. Als nordischer Typ von nebenan gewann er sogar bald eine gewisse Vorbild- Funktion für die Rüganer Postkartenserie „Männliche Modelle auf Molen“, und ein von ihm ausgehender Naturfaser-„Seeräuber-Look“ verdrängte streckenweise bereits – auf der nahen „Sail Saßnitz“ beispielsweise – die plastikbunten Freizeit-Fitneß-Verkleidungen der urlaubenden Männer. Zu den Aufführungen kamen und kommen übrigens meistens Männer der Bundeswehr, denn diese erbte von der NVA einen Campingplatz im nahen Prora.

Wir entfernen uns mit der fortschreitenden Vermarktung des Events nur scheinbar von der Piraterie. Im Programmheft der Störtebeker-Festspiele schrieb die Pressesprecherin: „Norbert Braun hat im Tennis-Club Bergen eine passende Unterkunft gefunden. Schon im letzten Jahr hat er dort manches Match gewonnen. Für die Fahrt zu den Vorstellungen steigt er in seinen 144 PS starken Nissan Sunny GTI und sattelt dan auf 1 PS um – auf seinen geliebten Friesenhengst Eysbrand.“ Auf knappstem Raum haben wir hier alle tollen Dinge zusammen, um die es heute geht: eine Edelherberge, Tennisspiele, Sportwagen und Reitpferd, man könnte noch hinzufügen: Handy, Computer, Internet.

Meine polnische Freundin Sonja arbeitet in einem Elektronik-Import-Export-Geschäft in der Kantstraße. Sie hatte dort bis vor kurzem einen Tagesumsatz von 100.000 DM, es gibt allein in ihrer Gegend etwa 30 solcher Läden – für polnische Schmuggler. Andersherum: Wenn man nach Rügen fährt und sich dem Fischerdorf Ralswiek nähert, kommt man an immer mehr Loser-Kneipen vorbei, die „Störti“, „Zum Störtebeker“ oder „De Likedeelers“ (Gleichteiler) heißen, und ein in Stralsund gebrautes Bier namens „Störtebeker“ wird als „Bier der Gerechten“ beworben. Im Klartext heißt das: Der mit der Zerstörung der Sowjetunion nach Osten ausgeweitete Freihandel hat alle möglichen Konsumgüter in greifbare Nähe gerückt, sie sind jedoch nicht mehr für jeden zu haben. Man muß sich also etwas einfallen lassen!

1993 reimten der Lausitzer Baggerführer Gundermann und seine Band Seilschaft in einem Lied bereits „Piratenschatz“ auf „Arbeitsplatz“. Seit Beendigung der Privatisierungstätigkeit der Treuhand geht es aber nicht mehr um Arbeitsplätze, sondern um Immobilien. Beim Anschluß Ost wurde vor allem mit Abschreibungsmöglichkeiten, „Sonder-Afa“ genannt, operiert. Auch in Gundermanns Braunkohlerevier, das man in eine Lausitzer Seenplatte verwandeln will, geht es nur noch um kostbare Uferimmobilien. Und in dieser Spannung zwischen den zumeist aus dem Westen stammenden neuen Grundstücksbesitzern und den arbeitslos gewordenen jungen Ostlern („Freedom is if there is nothing left to lose“, wie es in einem alten Neonazi-Lied heißt), baut sich nun ein neues Piraten-Phänomen auf.

Bereits 1998 traf ich an der Mecklenburgischen Seenplatte die ersten Binnensee-Freibeuter. Die beiden Yacht-Besitzer orientierten sich äußerlich an „Miami Vice“, innerlich liebäugelten sie jedoch mit dem Verbrechen. Der eine hatte bereits zu DDR-Zeiten wegen „Arbeitsverweigerung“ im Knast gesessen, und der andere bekam noch heute ein Gänsehaut, wenn jemand in seiner Gegenwart von „ehrlicher Arbeit“ sprach. Beide lebten vom „Tschintschen“ in Ufernähe. Und ihre Gewinnspannen waren dabei an guten Tagen höher als die monatlichen ABM-Einkünfte der Saisonarbeitskräfte des Malchower Biergartens, wo ihre Yacht „Bounty“ an jenem Abend angelegt hatte.

Die postproletarischen Massen im Osten sind jedoch in der Mehrzahl nicht derart geschäftstüchtig d. h. erfolgreich. Sie müssen sich buchstäblich auf eigene Faust durchschlagen – dazu bilden sie u.a. Banden (Wir-AGs). Wobei die sozialistische Arbeitskluft mit westlicher Sportswear vertauscht wird: anfänglich meist Billigkopien der Markenware von Adidas, Puma, Nike, Fila, Reebock und Converse. Diese „Men in Sportswear“ sind die „Likedeeler“ von heute! Der Prenzlauer-Berg-Dichter Bert Papenfuß hat dazu bereits einige neue „Shantys“ gesampelt, außerdem schreibt er an einem aktualisierten Ostsee-Piraten-Zyklus. In seiner Zeitschrift Sklavenaufstand (nunmehr „Gegner“ genannt) wurde darüber hinaus eine Geschichte der Freibeuterei des englischen Autors Hakim Bey abgedruckt. Kurzum: Was jetzt noch wie eine weithergeholte schweinische Klassenperspektive wirkt, wird uns in einigen Jahren schon so geläufig sein wie ein rechtsrheinisches Kavaliersdelikt: das Entern!

Darauf deutet auch die zunehmende Beliebtheit von Störtebecker und seine Mannen hin, die Vitalienbrüder oder Likedeeler (Gleichteiler) – weil sie die Beute (Briese) gerecht unter sich aufteilten, was ansonsten in der christlichen Seefahrt nicht der Fall war. Im vergangenen Jahr besuchten bereits 340.000 Besucher das Piraten-Spektakel in Ralswiek. Der Intendant Peter Hicks läßt sich zu jeder Spielsaison etwas Neues einfallen. Zuletzt hatte er Sascha Gluth als Störtebecker verpflichtet sowie daneben den Schauspieler Jürgen Zartmann, die Tochter von Schlagerstar Udo Jürgens, Jenny, sowie Ingrid van Bergen. Die 13. Festspiele hatten den Titel „Piraten vor Britannien“, deswegen wurde ein „Tower“ auf der Naturbühne errichtet. In dem Stück ging es darum, dass der Piratenbekämpfer Simon von Utrecht zum englischen König reist, um mit ihm „eine niederträchtige Koalition zu schmieden“: Richard soll den Likedeelers Kaperbriefe, Schutz und Häfen anbieten – aber nur zum Schein, um sie in Sicherheit zu wiegen und dann fest zu nehmen. Der englische König liegt zwar ebenfalls mit der Hanse im Streit, aber Simon von Utrecht kann seine Bedenken mit einem größeren Geldgeschenk zerstreuen. Um es kurz zu machen: Ein Teil der Piraten läuft in die Falle – aber, wie es in der Vorankündigung heißt, „mit Charme, List und Mut dringt Störtebecker in den Tower von London ein und befreit seine Freunde Goedeke Michels und Magister Wigbold,“ die deswegen auf den Plan Simons von Utrecht hereingefallen sind, weil das Angebot des englischen Königs ihnen verlockender erschien als Störtebeckers „Marotte, ein freies und friedliches Friesland mit aufzubauen“.

Der realgeschichtliche Hintergrund der diesjährigen Inszenierung besteht darin, dass die „Pfeffersäcke“ der Hanse um 1400 zum großen Schlag gegen die Friesen und die Piraten ausholten. Gödeke-Michael floh mit seinen Leuten nach Norwegen, Störtebecker fand Zuflucht bei Albrecht von Holland. Die Friesen mußten den Hansekaufleuten versprechen, nie wieder Piraten bei sich aufzunehmen. Ihre Unterwerfung ließ Störtebecker keine Ruhe, er ließ sich von König Albrecht einen Kaperbrief ausstellen und fuhr erneut gegen die Hanse – mit seinem Schiff „Roter Teufel“, diesmal für Holland. „Doch es war ein Holländer, der Störtebecker einen Strich durch die Rechnung machte – Simon von Utrecht,“ wie es auf der Webpage der Kindersuchmaschine „Die Blinde Kuh“ heißt, wo sich auch der Hinweis findet, daß die Fans des 1.FC St.Pauli ihren Verein jedesmal mit einem Meer schwarzer Piratenfahnen unterstützen und viele kleine friesische Orte noch immer die Zeichen Störtebeckers in ihrem Wappen haben. Die Realgeschichte ging dann so weiter, dass Störtebecker die Insel Helgoland zu seinem neuen Stützpunkt machte. Von hier aus überfielen er und seine Leute vor allem Schiffe, die zwischen Hamburg und England verkehrten – bis die Stadt Hamburg beschloss, eine Flotte nach Helgoland zu schicken: Störtebecker und seine Mannschaft wurden überwältigt und nach Hamburg gebracht. Am 21. Oktober 1401 wurde er zusammen mit 30 seiner Genossen hingerichtet. Die abgeschlagenen Köpfe stellte man auf Pfählen entlang der Elbe zur Schau.

„Der anhaltende Erfolg des Störtebecker-Festivals auf Rügen – mit vielen „Stunts und Pyrotechnik, Artistik und Spezialeffekten“ – rief bereits die Konkurrenz auf den Plan: 2005 organisierte eine Trupüpe in Köpenick ein großes „Mittelalter-Spektakel: ‚Piraten auf dem Müggelsee'“. Und wenig später fand im friesischen Marienhafe zum vierten Mal seit 1996 ein großes „Störtebecker-Festspiel“ statt. Es wird vom Verein „Ostfriesische Volkstheater“ zusammen mit der Samtgemeinde Brookmerland organisiert und auf dem Marienhafer Marktplatz vor dem historischen „Störtebecker-Turm“ inszeniert, wobei man sich hier sehr viel strenger als in Ralswiek an der Realgeschichte des „Robin Hood der Meere“ orientiert, der tatsächlich Marienhafe, das seinerzeit von Witzel tom Brook regiert wurde, als seinen festen Stützpunkt betrachten durfte, wo er im Winter seine Beute verkaufte und auch eine Geliebte hatte, mit der zusammen er ein Kind, Ada, besaß. Außerdem bot er im Notfall der Stadt seinen Schutz an. Sein Hauptquartier befand sich allerdings in Visby auf der Insel Gotland.

Bei den Ostfriesen, die ebenfalls lange mit der Hanse haderten und dann mit den Preussen, die ihnen ihre Selbständigkeit nahmen, ist Störtebecker nach wie vor so beliebt, dass sie ihm viele Denkmäler widmeten, das größte steht in Marienhafe – wo sogar der heutige Störtebecker-Darsteller, Werner Nörtker aus Emden, sich wie sein Vorbild noch zu einem Frauenliebling aufschwingen konnte. Außerdem gibt es dort ein Störtebeckermuseum. Sämtliche Darsteller des Stücks sprechen bzw. singen auf Plattdeutsch, dazu gehört auch die von Chören unterstützte Musikgruppe Laway aus Wilhelmshaven, die mit dem Rolling-Stones-Hit „Satisfaction“ auf Plattdeutsch über die Region hinaus bekannt wurde. Die Veranstalter werben mit dem Spruch: „Free as de See un de Freesen“.

Der Anarchodichter Bert Papenfuß richtete in dem von ihm miteröffneten neuen „Kaffee Burger“ zunächst einen offenen Stammtisch ein, den der als „illegales Gebietskomittee“ bezeichnete – in Anspielung auf den oben erwähnten Schulungstext von Fjodorow. Der Stammtisch kam nicht weit, aber dann veranstaltete Jürgen Kuttner in der Volksbühne ein 24-Stunden-„Partisanenlager“. Dieses litt am allzu juvenilen Stammpublikum:

Die Bühnendekoration „Neustadt von Neumann“ in der Volksbühne kennt man inzwischen: ein kleines Stadtzentrum aus Holzplatten mit Buden, Treppen und Büros. Jürgen Kuttner machte daraus das Partisanenlager: „24 Stunden Überleben im Theater“, er selbst bot eine „Überlebensberatung“ an, „aber nur, wenn sie gewünscht wird“. Ich hätte ihn nach der optimalen Bewaffnung – unter den besonderen Bedingungen Berlins – fragen können, mir war jedoch erst einmal an einer Überlegensberatung gelegen: ob es sich bei dieser Inszenierung um eine Entwendung oder eine Weiterentwicklung des Stadtguerilla-Begriffs handelte …

Die Volksbühne reitet ja nun schon seit über zehn Jahren auf ihrem multimedialen Erfolgsmodell herum, das längst über alle Berge kopiert wird. Deswegen gilt es nun, das Stammpublikum zu pflegen. Mit dem 24-stündigen Event wurden vor allem die Teenager gekeilt, und die Mitwirkenden, Punkbands z. B. über Kuttners Radio-Fritzsendung gewonnen.

Weitere Aktivisten offerierten „kostenlose Partisanenhaarschnitte“, an die jedoch niemand so recht ranwollte, ferner „Seminare für Trickbetrug“, die gut besucht waren, ein „Partisanen-Filmfest“, deren Beiträge erst mal geschossen werden mussten, eine „Partisanenhochzeit“ am nächsten Tag, die aber anscheinend ins Wasser fiel, ein „Morphisches Schlaflabor“ – gemäß der These des Partisanenführers Fjodorow: „Der Partisanenschlaf ist tief und fest und überall möglich“, sowie das „Modehaus Deutsche & Partisana“. Wer gedacht hatte, dass es hierbei um die leidige Frage ginge, ob Deutsche überhaupt Partisanen sein können, wo sie doch bisher immer nur als deren Vernichter in Erscheinung traten, sah sich angenehm enttäuscht: An fünf großen Zuschneidetischen, die von Mädchen geradezu umlagert waren, entstanden hier laut Ankündigung praktische „Partisanenklamotten“ und „PartisanTunes“, wobei die Entwürfe immer kühner ausfielen und bald auch in der Mitte der Partisan Neustadt auf dem Bühnenboden ausgebreitet wurden.

Wiewohl vom Fleiß und dem Enthusiasmus der vielen Mädchen durchaus angetan, war ich bei näherem Hinsehen jedoch gelangweilt: Die meisten hatten sich für kleine halbseidene Munitionstäschchen zum Umhängen, wie man sie etwa in die Oper mitnehmen kann, entschieden. Man sah etliche Mädchen damit später in der U-Bahn sitzen. Schon vor 40 Jahren hatten die Mädchen uns Jungs solche Täschchen – mehr oder weniger lieblos – im Handarbeitskurs genäht, es war zwar Ausschuss, aber sie gerieten ihnen trotzdem nachkriegsmäßig geradezu unverwüstlich. Hier handelte es sich jedoch durchgehend um Mädchen, die statt Handarbeit Psychologie, Medien oder Ethik lernten und deswegen in der „Partisan Neustadt“ gewissermaßen ihr erstes Täschchen-Coming-out probten – noch fast zwecklos.

Die Jungs gingen derweil beim Flugblattverfassen wie üblich verbal aufs Ganze: „Tötet Gerhard Schröder“ hieß eine Aktion, die sich als Kunst camouflierte, um die Strafe dafür à la Schlingensief nicht ganz so hart ausfallen zu lassen; eine andere hatte die Überschrift „Komm Poppen!“ – und gemahnte eher an die Praxis von Rotarmisten als an die von Partisanen, bei denen eine rigide Sexualmoral herrschte.

Beide Botschaften waren natürlich an die emsig Munitionstäschchen schneidernden Mädchen adressiert. Auch das war schon vor 40 Jahren so gewesen: dass die Jungs z. B. ständig von Überfällen und Trickbetrügereien redeten, aber sich nie trauten, während die Mädchen scheinbar nur an neuen Klamotten interessiert waren, aber in Wirklichkeit nach Schulschluss die gewieftesten Diebe und Elterntäuscher abgaben.

Als nächstes lief uns eine Radiopiratin über den Weg. Sie gab uns ein Interview, das war dann aber leider nicht abdrucken durften. Dafür hatte sie uns mit dem Thema „Piratensender“ vertraut gemacht. Aber auch hierbei gab es gnug zu mäkeln:

Die ersten Piratensender waren holländische, die von außerhalb der Siebenmeilenzone funkten, und bei hoher See den Sendebetrieb einstellten, aber ansonsten für jede Rockmusik zu haben waren. Schon bald berappelten sich jedoch auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten – und sendeten fast alles weg, was ihnen an Musik unter die Finger kam. Dennoch gaben die Radiopiraten nicht auf: geradezu legendär wurde das „Radio Dreyecksland“. Für eine kurze Zeit gab es dann in Ostfriesland die größte Privatradio-Dichte der Welt. Jetzt hat übrigens Südbrandenburg die nahezu größte Privat-TV-Sender-Dichte (auf Kabel). Zunächst wurde im Osten jedoch erst mal das „Radio P“ bekannt, das vom Dach des „Tacheles“ in Berlin-Mitte aus sendete: Es wurde primär von und für Hausbesetzer gemacht. Schon wenig später gründeten diese „Ost-Piraten“ zusammen mit einigen Westfunkern den „Bundesverband freier Radios“. Vor einiger Zeit interviewte ich die „dienstälteste Piratin“ – des Ostens, die danach bei Radio „Potosi“ arbeitete: ein UKW-Sender in der gleichnamigen  bolivianischen Bergarbeiterstadt. Anschließend beim französischen Sender der Landkommunen-Kooperative Longo mai“ und nun gelegentlich – gegen Bargeld – beim Deutschlandfunk bzw. -sender ihre schmale Witwenrente aufbessert, um z.B. einen Schulranzen für ihre Tochter, der 99 Euro kostet, anzuschaffen. Die Radiopiraterie ging unterdes in andere Hände über. In Nürnberg sendete unterdes das „Radio Z“ munter weiter und in Berlin etablierte sich das Internetradio Polyphon. Zuletzt versuchte sich die staatliche Volksbühne im Prater an einem „legalen Piratensender“ – mit Kuttner unbezahlt am Mikro. Der neueste Schrei heißt nun „Pirate Beat Box“ und sendet jeden Freitagabend auf 95,2 Mhz.  Man braucht dazu einige Technik – etwa 1 Zentner, sowie eine zehn Meter hohe Antenne. Und das muß alles auf irgendwelchen Dächern installiert werden – möglichst mit Handschuhen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen und muß möglichst schnell wieder abbaubar sein, falls sich unten auf der Straße der Peilwagen einer Privatfirma – im Auftrag der Medienanstalt Berlin-Brandenburg – heranpirscht. Diese Anstalt verwaltet die Frequenzen und hat sogar gerade mal wieder eine frei. Viele „Radioprojekte“ bewerben sich darum: z.B. die durch einen karrieristischen  Konkurs arbeitslos gewordenen „Radio 100“- Macher sowie der „Offene Kanal“ zusammen mir dem Projekt „Reboot Fm.“. Das Piratenradio „Beat Box“ wünscht sich dagegen viele über die Stadt verstreute kleine Sender. Und weil es selbst bereits zu klein ist, holt es sich nahezu sämtliche sendefähigen Wort- und Musik-Beiträge aus dem Internet, d.h. es piratisiert sie: Form und Inhalt sind hier also bereits identisch geworden – um erneut den „Einheitsdudelfunk“ zu überwinden, wie die Beat Boxer der „Jungle World“ anonym verrieten. Ihre geharnischten Gegner, die „Medienanstalt Berlin-Brandenburg“ werben derweil zusammen mit dem „Medienboard“ – man glaubt es kaum: um „mobile Medien, digitale Innovationen, Nachwuchs und Spiele“ – und veranstalten  deswegen vom 25.-27.8. eine „Medienwoche“ mit einer „breiten Plattform, um aktuelle Entwicklungen und Zukunftsfragen der Medienwirtschaft zu diskutieren“. Mich luden sie zu einer „Fachkonferenz“ in diesem Rahmen ein, wobei sie mir großzügig „Frühbucherrabatte“ anboten sowie auf mein „Profil abgestimmte Branchenkontakte“ und die „Gelegenheit zum abendlichen Get-Together“, inklusive fürstlichem „Empfang im Hamburger Bahnhof“ und „Ministerempfang im Neuen Palais“…Da haben wir die ganze bundesdeutsche Scheißgesellschaft in einer Nußschale: Die da oben – ohne Sinn und Verstand, aber dafür mit um so wacherer Wichtigtuerei, um immer mehr Geld zu hecken – und auf der anderen Seite die da unten, die immer unwichtiger werden wollen und dafür keine Kosten und Mühen scheuen – und beide senden wie verrückt! Nur hören tut sie keiner. Denn bevor ich zu dieser ebenso idiotischen wie verbrecherischen „Medienwoche Berlin-Brandenburg“ tigere – fick ich mir doch lieber selber ins Knie. Aber die wunderbare „Pirate Beat Box“ hören tu ich auch nicht: Da ist mir die Stille lieber! Wie ich überhaupt kein Radio oder Fernsehen oder Kino mehr aushalten kann, geschweige denn das Cassetten-CD-Gedudel in Kneipen  – grad noch das Rascheln von Papier beim Umblättern irgendwelcher bedruckter Seiten. Denn das ist die Crux bei dieser ganzen freien Radiodebatte: Alle seine Teilnehmer sind wahnsinnig progressiv – und damit von Arsch!

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kommentare

  • Vergessen wurde, dass sich Partisanen vorm Zubett gehen in Palitücher und Rote Fahnen einwickeln, in die Kirche gehen nur um dort ihren Sperrmüll abzuladen, am ganzen Körper Hammer und Sichel Tätowierungen und kleinen Mädels gern das Täschchen zur Grossmutter tragen.

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