vonHelmut Höge 15.09.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Als ich am Dienstagabend noch im Vierten Stock rumwuselte, kam plötzlich ein Haufen mir unbekannter Leute hoch – und verschwand im “Pavillon” über dem Lohnbüro. Das war der “taz-Chor”, der ähnlich wie die taz-Fußballmannschaft gar nicht mehr aus tazlern besteht. Im Chor singt allerdings noch immer die taz-Betriebsrätin und Praktikantenbetreuerin Doris mit, die ihn vor über zehn Jahren gründete. Einer der Sänger mußte neu sein, denn er lief im Vierten Stock herum und fand nicht den Weg zum “Pavillon”, der durch eine Eisentür und über eine Wendeltreppe führt. Als ich ihm den Weg zeigte, fragte er mich, ob ich nicht auch Lust hätte zu singen. Ich sagte nur “Friesen singen nicht!” Aber das sollte ich ihm erst mal erklären. Zwar bin ich kein Friese im strengen Sinn, aber erstens bin ich in der Wesermarsch – quasi gleich nebenan – aufgewachsen und kann nicht singen, und zweitens betreibe ich seit Jahren “Friesenforschung” – quasi im Auftrag einesKreuzberger Internet-Partisaneninfos, deswegen fiel es mir nicht schwer, dem Sänger, der im übrigen aus Rostock stammte, zu erklären, warum die Nordsee schweigt – und nur die Ostsee singt, was im Übrigen nichts Neues ist.

Der Schweizer “Weltwoche”-Korrespondent Christoph Neidhardt legte in seinem Buch “Ostsee” bereits die Vorstellung nahe, daß es sich dabei um ein Meer der Gesänge handelt. So spricht er z.B. von der “singenden Revolution der Esten”, die in ihrer Hauptstadt im übrigen das größte “Gesangs-Stadion” der Welt errichteten. Aber auch im lettischen Riga wurde bei der Konstituierung der dortigen Volksfront “immer wieder gesungen”. Zusammen hätten die beiden Völker “die Fronten der im Kalten Krieg erstarrten Ostseewelt” regelrecht “zersungen” – was dort aber quasi Tradition habe. Zu Zeiten der Hanse konnten “fahrende Spielleute und Ratsmusiker in jeder Stadt an der Ostsee arbeiten”. Vor allem die baltischen Städte “zogen viele wandernde Musiker an”. Gesungen wurde an der Ostsee bereits lange vor der Christianisierung: “Auf den Dörfern wurde mit Drehleiern, Strohfideln, Trummscheiten und Sackpfeifen musiziert.” Elias Lönnrot in Karelien und Friedrich Reinhold Kreutzwald im Baltikum sammelten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts dörfliche Liedtexte…”1990 rappten die jungen Rigaer für Lettland”. Die Esten sagen rückblickend, sie seien während der Sowjetzeit in ihr “Liedgut emigriert”. Heute touren “ihre Chöre um die ganze Welt”.

Man könnte noch hinzufügen: In Litauen wurde 1991 der Komponist Vytautas Landsbergis zum Staatspräsidenten gewählt und wenig später ein Matrosen-Punksong zur Quasi-Nationalhymne erkoren. Die Polen und Russen haben bekanntlich schon immer gerne gesungen, die Finnen sind geradezu tangovernarrt, die Schweden mischen spätestens seit Abba in der internationalen Musikscene mit und in Dänemark kennt man ebenfalls viele lustige Lieder. Im ostelbischen Deutschland hatte zuletzt das sozialistische Liedgut ein Zuhause und die Wende wurde dort – mindestens in der Heldenstadt Leipzig – von einem Dirigenten namens Kurt Masur angeführt.

Neben der Gesangskunst, die am Mare Balticum gedeiht, arbeitet der Autor Christoph Neidhardt aber auch noch heraus, daß die Ostsee a) “ein Milchsäuremeer” und b) “eine See der starken Überzeugungen” ist – gemeint sind vor allem Sozialdemokratismus und Bolschewismus, ferner, daß man dort überall gerne Kaffee trinkt. Und dann steigt auch noch das Land ringsum langsam aus dem Meer empor.

Genau umgekehrt ist es an der Nordsee: hier handelt es sich bei den Küstenstreifen durchweg um sinkendes Land. Statt Kaffee bevorzugt man Tee. Und von den Bewohnern des “Mare Frisicum” behauptete bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus kategorisch “Frisia non cantat!” Seitdem haben unzählige Volkskundler und Regionalforscher den Beweis erbracht, daß die Friesen nicht nur kaum eigenes Liedgut besitzen, sondern überhaupt wenig auf Dichtung und Literatur geben. Dafür haben sie anscheinend eine Begabung für die Mathematik: “Am ausgesprochensten ist der Sinn der Friesen für Rechnen”, schreibt der Friesenforscher Rudolf Muus. Erklärt wird dies u.a. damit, dass das in drei getrennten Nordsee-Regionen – Hollands, Niedersachens und Schleswig-Holsteins – siedelnde Küsten- und Handelsvolk keine einheitliche Sprache hat, so daß die Verständigung immer über eine vierte – Hochsprache – erfolgen muß, wobei es ihnen primär um kaufmännigliche Vorteile geht.

Dennoch oder deswegen oder desungeachtet waren die Friesen fast immer frei: Sie haben mehrere Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. Um 1230 wird ihnen quasi offiziell bescheinigt: “omni jugo servitutis exuti” – Sie haben das Joch der Knechtschaft verlassen. “Seltsam nahm sich Friesland unter den deutschen Territorien aus,” schreibt der Groninger Historiker I.H.Gosses: “Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter, keine Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern”. In dem die “Amtsgewalt nicht von oben – von einem Grafen, der den König vertritt, sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde” hervorgeht, deren Bemühungen schließlich in das kodifizierte Stammesrecht “Lex Frisiorum” münden.

Im politischen Kampf um den Erhalt der “friesischen Identität” war noch 1848 der Schriftsteller Theodor Storm in das ihm verhaßte preußisch-deutsche Exil abgetrieben worden, nachdem das dänische Heer die “schleswig-holsteinische Freiheitsbewegung” zerschlagen hatte. Auch als dann einige Jahrzehnte später Preußen an der “Düppeler Schanze” die Dänen zurückschlug und Storm als Landvogt im Triumph nach Husum heimkehrte, konnte er sich nicht recht über diese Fremd-“Befreiung” freuen. Deutschland und Friesland wissen die Friesen bis heute sauber zu unterscheiden. So antwortete mir z.B. der Emder Bürgermeister, auf die Frage, was er früher gewesen sei: “Die bisherige ostfriesische Evolution verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber dann auch in Deutschland: vier Jahre – in Köln, dann bin ich jedoch wieder nach Emden zurückgegangen”.

Diese Behaarlichkeit der Friesen erklärt die Forschung damit, daß sie in den Marschen auf von ihnen selbst geschaffenem Land siedeln: “Deus mare, Frisio litora fecit” so sagen sie es selbst: Gott schuf das Meer – und die Friesen die Küste! Diese wenig christliche, selbstbewußte Haltung im Verein mit ihrer Neigung zu Partisanenkampf, Piraterie und Strandräuberei hat die Kirche lange Zeit vergeblich zu bekämpfen versucht, sie hatte dort denn auch mancherorts schon Schwierigkeiten, den Zehnt einzutreiben, auf Sylt z.B., und ihr altes heinisches Heiligtum Helgoland ist bis heute eine zoll- und steuerfreie Zone.

Wiewohl Bauern, Händler und Seefahrer, besteht die eigentliche Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung – durch den Bau von Deichen gegen die Flut und Sielen zur Entwässerung bei Ebbe. Das Husumer Nissenmuseum – einst von einem friesischen Auswanderer, der in Amerika reich wurde, gestiftet – ist deswegen auch vor allem ihrer Deichbau-Kunst gewidmet. Ein anderer Auswanderer – nach Deutsch-Südwest-Afrika, Sönke Nissen, finanzierte sogar die Eindeichung eines ganzen nach ihm dann benannten Koogs (Polder in Westfriesland genannt), inklusive der darin errichteten riesigen Bauernhöfe. Und der Husumer Dichter Theodor Storm wurde nach seinem Tod vor allem mit seinem Deich-Drama “Der Schimmelreiter” bekannt. Umgekehrt benannte man einen nach dem Zweiten Weltkrieg eingedeichten Koog nach seinem Novellen-Held, den Deichprojektierer “Hauke Haien”.

Mit einer seltsam sturen Leidenschaft versucht dieses stets entlang der Nordseeküste und auf den Inseln bzw. Halligen siedelnde Volk allen Stürmen von See (aber auch allen Heeren von Land) die Stirn zu bieten. Inzwischen hat ihr “Projekt” – über die Jahrhunderte hinweg – “etwas absolut Extravagantes” im Sinne einer “poetischen Erfindung”, eines “Unternehmens von großer tragischer Thematik” bekommen, wie der italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli im “Corriere della Sera” 1985 schrieb.

Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten einst die Friesen ins Grübeln gebracht: dieses “armselige Volk”, das auf “hohen Erdhügeln” in Schilfhütten lebt und mit “getrocknetem Kot” seine kärglichen Speisen kocht, damit sich “ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmen”. Bei Flut, “wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern, Schiffbrüchigen aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind”. Dennoch wollten die Friesen sich partout nicht den reichen, zivilisierten Römern unterwerfen: “wahrlich,” schloß Plinius, “viele verschont das Schicksal zu ihrer Strafe”.

Indem sie dann jedoch – ausgehend von den Flussläufen – anfingen, das Land einzudeichen, die Moore und Sümpfe trocken zu legen und neues, künstliches Land zu schaffen, verzichteten sie erst auf die Wohnhügel (Wurten bzw. Warfen genannt) und dann auch auf Haufendörfer. Gleichzeitig entstand durch die Notwendigkeit des andauernden Deichbaus und – erhalts ein enger – kein völkischer, sondern ein eidgenössischer – Zusammenhalt, der sich u.a. in einer Kollektivmoral gegenseitiger Hilfe äußerte: “Wer nicht will deichen – muß weichen!”, gleichzeitig aber auch eigenwillige Konfliktlösungsstrategien hervorbrachte sowie grüblerische Charaktere.

Bei Sturm geht der Friese auf den Deich und schaut schweigend über das tosende Meer. Aber auch sonst, während man sich z.B. in Süddeutschland, vor allem in Wien, lärmend auf der Couch wälzt und an der Ostsee anfängt zu singen – heißt es in Friesland: Wo Blanker Hans war – soll Ich werden!

Schon Sigmund Freud griff bei der Beschreibung des Prozesses der Ich-Bildung auf eine friesische Deichbau-Leistung zurück, als er die Notwendigkeit zur Sublimation, d.h. der Kulturarbeit, mit der “Trockenlegung der Zuidersee” verglich. Wilhelm Reich hat demgegenüber dann, von Kopenhagen und Oslo aus, eher die Notwendigkeit der genitalen Befriedigung, d.h. das Sich Verströmen und Fließen Lassen, ein “ozeanisches Gefühl”, betont. Eine derartige Wunschpolitik müßte laut Klaus Theweleit in die antifaustische Formel münden: “Wo Dämme waren, soll (wieder) Fluß werden!”

Der Friese gönnt sich eine solche Deterritorialisierung nur in Form des Fernwehs, dem er dann als Seefahrer auch immer wieder nachgibt. Dieser Sturm und Drang rechtfertigt sich dadurch, daß das friesische Ich zu großen individuellen Leistungen vor allem im Ausland fähig ist. Im “Inneren” setzt dem die altehrwürdige Kollektiv-Ökonomie Grenzen. Das ist der Kern der berühmten Stormschen Novelle über das Scheitern – “Der Schimmelreiter”: “Als Exponent der von Storm so hoch geschätzten Selbstverwaltung ist der Deichgraf auf demokratisches Miteinander angewiesen; Hauke Haiens Verhältnis zu seinen Dorfgenossen aber ist gestört,” schreibt der Stormbiograph K.E. Laage. Storm selbst spricht von “der Ehrsucht und dem Haß” in seinem Herzen. Gerade als er eine neue – flache – Deichkonstruktion, die heute nebenbeibemerkt überall zu finden ist, durchsetzen will, gerät er “in Gegensatz zu seinen Freunden” – und scheitert.

In der berühmten fast dokumentarischen Verfilmung der Novelle – aus dem Jahr 1933 – wird diese Handlung an einigen wenigen aber entscheidenden Stellen zugunsten des “Führergedankens” verändert. Dadurch bekommt das Stormsche Drama ein Happy-End – und aus dem menschlich-fragwürdigen Deichgrafen, der zuletzt bereut, wird ein rundum positiver Held – der Neuen Zeit, dem Nationalsozialismus, vorauseilend. Auf diese reagierte man in den drei friesischen Siedlungsräumen dann jedoch durchaus unterschiedlich: Die militante, autonome Landvolkbewegung der reichen nordfriesischen Bauern (Gräser) Ende der Zwanzigerjahre verschwand fast sang- und klanglos im “Reichsnährstand”, nachdem die sozialdemokratische Regierung ihre Aktivisten kriminalisiert hatte. Die eher proletarisch orientierten Ostfriesen verschanzten sich in Mikropolitik. Und die Westfriesen wagten den Widerstand, indem sie Teile ihres eingedeichten Landes unter Wasser setzten, Sabotage verübten und Juden vesteckten. Von den 120.000 holländischen Nazi-Kollaborateuren waren 5000 Friesen, aber auch von diesen gingen nur wenige so weit, dass sie ihre Nachbarn verrieten – und deswegen nach dem Krieg hingerichtet wurden.

Wenn immer wieder betont wird, dass die Friesen dem Singen abhold sind, dann hängt dies mit ihrer gemeinschaftlichen Position in der Ambivalenz zusammen – zwischen Verlockung und Furcht gewissermaßen eingeklemmt. “Die ganze Küste ist äußerst labil”, urteilt der Kölner Historiker Otto Jessen. Vom Land her droht Unterwerfung, verbunden jedoch mit verheißenem Wohlstand. Während die Seeseite mit neuen (Siedlungs-)Räumen lockt, im Sturm aber auch alles verschlingen kann. “Nordsee ist Mordsee”, so hieß einmal ein Jugendfilm von Hark Bohm. Es gab eine lange Zeit, in der Friesland wegen der Sümpfe und Moore leichter von der See als von Land her erobert werden konnte.

In dem berühmten “Freesenleed” heißt es:

“wo de Möwen schrien, hell in’t Stormgebruus,

dor is miene Heimat, dor bün ick to huus.

Well’n un Wogen sungen dor mien Weegenleed,

un de hogen Dieken kenn’t mien Kinnerleed,

kenn’n ook all mien Sehnsucht, as ick wussen weer,

in de Welt to fleegen, över Land un Meer.”

Das “Friesenlied” schrieb eine Frauenzeitungsredakteurin im Jahr 1907 – die sinnigerweise aus dem Ostseebadeort Zingst am Darß stammte. Ein in München lebender Flensburger (!) brachte es dann nach Zürich (!), wo ein Arbeitergesangsverein es vertonte. Daneben gibt es noch mehrere hochdeutsche “Ostfriesenlieder” sowie auch ein holländisches Friesenlied, das in den Niederlanden als Wiegenlied bekannt wurde. Aber auch in jenem “Freesenleed”, das gewissermaßen die Ostsee den Friesen andichtete, singen nur Möwen, der Sturm und das Meer – kein Mensch. Und an die Gesänge der Mutter kann dieser sich auch nur noch vage erinnern: angesichts des männlich-mächtigen Damms ringsum – lange nach “Deichschluß”, wie man den dramatischen Abschluß einer Landgewinnungsmaßnahme nennt, der früher in ein Tieropfer gipfelte. Im Lied werden ihm nun die Jugendträume dargebracht.

“Sich (damit) abfinden und gelegentlich auf Wasser sehen,” riet Dr.Gottfried Benn aus Landsberg/Gorzów. Laut Rudolf Muuß, einem Pastor aus Stedesand, redete ein friesischer Bauer in den Zwanzigerjahren seinem Sohn die Sehnsucht in die Ferne mit den Worten aus: “Mien Söhn, wat wullt du dor buten? Hier is de Masch und de ganze annere Welt ist bloots Geest”. Noch im Jahr 2004 bestätigte der junge Dithmarschener Bauer und Filmregisseur Detlev Buck diese altfriesische Welt- und Weitsicht, als er – in der taz – schrieb: “Bin einmal um die Welt geflogen, hab gemerkt, das ist ja nicht viel, worum sich’s dreht, und – Mann, da ist ja viel Wüste, mehr als alles andere. Und habe beschlossen, verdientes Geld aus der Filmunterhaltung in Land anzulegen.”

Nicht nur die Friesen lockt das Meer (das im Französischen gar mit dem Wort Mutter ineins klingt) in Form verführerischer Frauen, die man Nixen oder auch Meerjungfrauen nennt. Die Dänen haben solch eine gar zum Wahrzeichen ihrer Ostsee-Hauptstadt gemacht – so als wäre diese die Frucht einer glücklichen Verbindung zwischen Land- und Meeresbewohnern. Als solche begreift sich im übrigen auch das kleine sibirische Volk der Niwchen, das am Ochotskischen Meer lebt und eine Meer-Frau als Urahnin verehrt. Neuerdings besitzt auch das Ostseebad Boltenhagen eine bronzene Nixe, die auf einem Findling im Meer sitzt, sie schaut allerdings nicht wie die Kopenhagenerin aufs Wasser, sondern “etwas unbestimmt in Richtung Ufer”, wie die FAZ schreibt.

Noch im 18. Jahrhundert hatte der dänische Anatom Caspar Bartholin diese Wassernixen zusammen mit den Menschen und Affen als “homo marinus” klassifiziert. Den Friesen locken jedoch selbst diese notorischen Sängerinnen nicht mit Liedern aufs Meer oder in die Tiefe – im Gegensatz zu den vielen Kulturträgern oben auf der Geest.

Angefangen mit den homerischen “Sirenen” des Odysseus, der seiner Schiffsmannschaft die Ohren verstopfte, um sie vor deren “verderblichen Gesang” zu retten. In Goethes Gedicht “Der Fischer” ist es dann ein “feuchtes Weib”, das dieser vor sich im Wasser auftauchen sieht: “Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;/ Da war’s um ihn geschehn:/ Halb zog sie ihn, halb sank er hin/ Und ward nicht mehr gesehn.” In Heinrich Heines berühmten Gedicht über “Die Heimkehr” wird aus den Sirenen eine langhaarige Flußnixe: “…Ich glaube, die Wellen verschlingen/ am Ende Schiffer und Kahn;/ Das hat mit ihrem Singen/ die Loreley getan”. Auch in dem mehrfach als Oper und Ballett auf die Bühne gebrachten romantischen Märchen von Friedrich de la Motte Fouqué “Undine” umwirbt eine kleine reizende Nixe aus dem “Mittelländischen Meer” einen Mann mit Gesang: um durch Vermählung mit ihm in den Genuß einer Seele zu kommen. Nachdem er sie als Hexe beschimpft hat, verschwindet sie jedoch wieder im Wasser, d.h. “verströmt sich” – um ihn zuletzt mit einem zärtlichen Kuß in den Tod zu befördern. Der Autor hat sich dabei von einer Schrift des Paracelsus aus dem Jahr 1590 inspirieren lassen: das “Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus”, das zunächst die allerchristlichsten Hexenverfolger auf die Idee der “Wasserprobe” gebracht hatte.

De la Motte Fouqués “Undine” war dann Vorbild für Hans-Christian Andersens “kleine Meerjungfrau”, und zuletzt für Ingeborg Bachmanns frühfeministische Erzählung aus dem Jahr 1961: “Undine geht”. Auch hier wendet sich die Frau, wieder “unter Wasser”, noch einmal, ein letztes Mal, an den Mann, an die Männer – “Ungeheuer” und “Verräter” allesamt. Neuerdings hat eine feministische amerikanische Anthropologin mit dieser Idee von der singenden Undine als homo marinus noch einmal Ernst gemacht. Laut Elaine Morgan waren es die Frauen, die nach Verlassen der Bäume erstmals Schutz vor ihren Feinden im Wasser suchten. Dort lernten sie den aufrechten Gang, die Schmackhaftigkeit der Meerestiere, bekamen eine glatte, unbehaarte Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden intelligent und verspielt. So wie im übrigen alle Säugetiere, die wieder ins Wasser zurück gingen: Delphine, Otter und Pinguine beispielsweise. Während die Männer dagegen quasi auf dem Trockenen (auf der Geest?) hocken blieben – und dabei jede Menge Jäger-Idiotismen ausbildeten. Elaine Morgans Studie endet versöhnlich: “Wir brauchen weiter nichts zu tun, als liebevoll die Arme auszubreiten und ihnen zu sagen” (oder zu singen): “Kommt nur herein! Das Wasser ist herrlich!” Kafka schrieb: “Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, das ist ihr Schweigen.”

In Russland bildete sich spätestens mit dem Bau von St.Petersburg, als neuer Hauptstadt an der Ostsee, eine ganze Meerestheologie heraus, die von Neptun und Nixen bis zum Vereidigungszeremoniell der Marine reichte – und später in Ozeanologie überging. Dazwischen, um die Jahrhundertwende verkaufte die Hamburger Firma Umlauff, deren Gründer mit Hagenbeck verwandt waren, mit Ethnografica und ausgestopften Tieren handelte sowie Völkerschauen ausstattete, an russische Schausteller dutzendweise ausgestopfte Meerjungfrauen – “halb Frau halb Fisch”: Dazu “wurde der Körper gebunden, auf den Rumpf ein schlechter Frauenschädel gesteckt und dieser ausmodelliert. Die Hände wurden aus Affenhänden gemacht, hieran ganze lange Nägel, und die andere Hälfte – das Hinterteil – war mit einer grossen Fischhaut überzogen. Auf dem Kopf eine blonde Perücke. Die ganze Länge betrug 1 Meter 50.”

Ein russischer Schausteller bot der Firma eine große Summe, wenn sie seiner Konkurrenz keine solche “Seejungsfrau” verkaufen würde. Johannes Umlauff erinnert sich: “Darauf konnten wir aber nicht eingehen. Ich verkaufte in einem Jahr 15 Stück, und alle, die sie kauften, sind reiche Leute geworden, natürlich in Russland.”
Das Geschäft mit den ausgestopften Meerjungsfrauen kam mit der Revolution zu einem abrupten Ende. In Leningrad herrschte der Dichter Wladimir Majakowski die Männer an: “Solange in dieser Newa-Tiefe/Die rettende Liebe Dir nicht begegnet/Irre weiter durch die Kanäle/Rudere!/Und ertrinke zwischen den Häuser-Steinen”. Während der Petersburger Dichter und Lehrer von Puschkin, Wassili Shukowski, umgekehrt in seinem Poem “An Undine” das “feuchte Weib” geradezu herbei gesungen hatte.

Als der Jäger und Offiziersschriftsteller Ernst Jünger 1944 einmal mit seiner Kompanie im friedlichen Hinterland – auf dem norddeutschen Geestrücken bei Hannover – stationiert war, notierte er: daß solch “trockene Böden zur Hervorbringung musischer Existenzen nicht geeignet” seien, deswegen gelte auch für sie jetzt: “Frisia non cantat”. Diese etwas unbedachte Äußerung – Friesland war von Jüngers Standort Kirchhorst immerhin rund 150 Kilometer entfernt – korrespondiert mit all jenen, die heute in Friesland Konzerte und dergleichen veranstalten bzw. touristisch vermarkten – und dabei noch jedesmal behauptet haben: Das Event war ein voller Erfolg, die Gäste vergnügten sich und sangen bis in die frühen Morgenstunden – womit nun eindeutig bewiesen sei, dass Tacitus sich irrte. Auch der staatliche Norddeutsche Rundfunk verkündet frech: “Die Friesen singen fast immer und überall”. So etwas würde der eigenständige westfriesische Sender nie über den Äther lassen.

Obwohl es stimmt, daß immer mehr Leute von der Geest herunterkommen, um sich in Friesland nieder zu lassen. Sie müssen sich nicht mehr an Deicharbeiten beteiligen. Stattdessen gibt es an der Waterkant nun etwa 50.000 Grundeigentümer, die jährlich Deichsteuer zahlen. Der friesische Deichschutz wurde zum staatlichen Küstenschutz erklärt und Flutkatastrophen zu Bundeswehrübungsaufgaben. Neue Eindeichungen wird es nicht mehr geben – eher sogar eine EU-geförderte Reduzierung der landwirtschaftlichen Flächen – u.a. mittels Milch- und Mistquoten sowie Flächenstillegungsprämien. In Westfriesland wurde darüberhinaus sogar auf manchen Grundstücken “der fruchtbare Ackerboden entfernt, um das Terrain wieder künstlich karg zu machen,” wie der friesische Dorfforscher Geert Mak 1999 berichtete.

In Nordfriesland, wo man aus dem einen oder anderen Koog ein “Biosphärenreservat” macht, ferner die Salzwiesen im Deich-Vorland nicht mehr beweiden lassen will und gar einen “Miesmuschel-Management-Plan” verabschiedete, meint so mancher Bauer inzwischen: “Die Grünen sind schlimmer als die Grafen einst!” Kein Wunder, daß gerade die Zugezogenen, die sich in keine Kollektivökonomie und -kultur mehr einpassen müssen, immer mal wieder auf die Idee kommen, in Friesland einen Gesangsverein zu gründen – um wenigstens den Hauch einer Gemeinschaftsaufgabe noch zu spüren. Eine Handvoll solcher e.V.s hat sich inzwischen fest etabliert. Und Husum richtet neuerdings sogar ein “internationales Musikfestival” aus. Dort hatte der Halbfriese Theodor Storm bereits 1859 den ersten Gesangsverein ins Leben gerufen. Wie man sagt: aus Langeweile. Er ließ es denn auch bald wieder sein.

Der These, dass Freie eben nicht singen – nur Sklaven! hätte er wohl trotzdem nicht zugestimmt. Dabei stammt noch ein Großteil unserer heutigen Musik aus den Gesängen der amerikanischen Schwarzen, der europäischen Zigeuner und der jüdischen Stetl. Der Rigaer “Eastbam”-Konzertmanager Indulis Bilzenz meinte 1989 überdies – angesichts der vielhundertjährigen Fremdherrschaft in Lettland und Estland könne man sagen: “Wir sind die letzten Indianer Europas!” Dies legte bereits 1927 ein Vorwort zur Autobiographie des baltischen Hochstaplers Harry Domela nahe, in der es hieß: “Die deutschen Balten, auch die nicht adligen…blickten auf die Letten so geringschätzig herab wie die weißen Amerikaner auf die Neger”. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass rund um die Ostsee jahrhundertelang die übelste Bedrückung und Kolonialisierung herrschte – so daß es dort allen Grund gab, seinen Sehnsüchten wenigstens immer wieder in Liedern Ausdruck zu geben.

Bertolt Brecht behauptete jedoch, im Grunde sei den “altägyptischen Sklavenliedern” nichts mehr hinzuzufügen – sie würden bereits alles enthalten. Demnach wäre vielleicht sogar jedes Singen Sklavenmusik! Viktor Schklowski erinnerte 1916 daran, dass das Singen (der Wolgaschlepper z.B.) die Arbeitskommandos ersetze und auch das militärische Marschieren erleichtere. Ein heute beliebter Spruch lautet: “Vögel in Käfigen singen – freie Vögel fliegen!” Er stimmt aber nicht, weil die Vögel auch und gerade in Freiheit singen.

“Es ist das Volk, das die Musik schafft, wir Musiker arrangieren sie nur,” meinte zu Anfang des 19. Jahrhunderts der russische Komponist M.I. Glinka. An der Nordsee loteten zuletzt die originalostfriesischen Musiker Otto und Trio mit ihren “Hits” ironisch die Grenzen zur Nichtmusikalität aus – erwähnt seien ihr “Honecker-Lied” und “Da-Da-Da”. Die Friesen werden anscheinend noch immer vom Schweigen versucht. In einem hochdeutschen Spruch heißt es hübsch hässlich: “Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder!” Das verstehen wir jetzt so: Das Böse, das sind immer die anderen – unbotmäßigen, die sich nicht unterwerfen wollen: Terroristen wohlmöglich, deren blutrünstiges Credo da lautet: “Lever dod as Slaav”. Die Scheidelinie zwischen Singen und Schweigen verläuft in diesem Fall exakt entlang des “Sietlandes” – dem Sumpfstreifen zwischen Geest und Marsch.

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Was hat es nun aber mit dem Gesang der kleinen Meerjungsfrauen auf sich?

In Berlin entwickelte sich mit der Abwicklung des alten Instituts für Kulturwissenschaft und der Gründung eines neuen an der Humboldt-Universität auch eine Nixenforschung, die u.a. darin bestand, dass der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler eine Schiffexpedition in die Gewässer um Capri, der Insel der Sirenen, organisierte, wo Odysseus sich einst ihrem Gesang ausgesetzt hatte. Nach einer der drei Sirenen, Parthenope, wurde später eine Stadt benannt, das heutige Neapel. Schon Goethe hatte sich dort in Sirenenforschung versucht: “Und nun nach allem diesem und hundertfältigem Genuß locken mich die Sirenen jenseits des Meeres, und wenn der Wind gut ist, gehe ich mit diesem Brief zugleich ab – südwärts,” schrieb er “leichtlebig” aus Neapel, kam dann jedoch nie wieder auf seine Forschungfahrt zu sprechen. Kittler brachte jedoch von seiner Kreuzfahrt zwischen Messina und Neapel, an der sich u.a. auch der Leiter des Tierstimmenarchivs der Humboldt-Universität, Karlheinz Frommholt, beteiligte, jede Menge audiovisuelles Material mit. Auf seiner CD “Musen, Nymphen, Sirenen” erstattete er darüber auch schon Bericht.

Aber seine Sirenenforschung ist noch nicht abgeschlossen. Ich, dessen Forschungsbegriff noch vom “Fischbüro” in der Köpenickerstraße geprägt ist, erhoffte mir landeinwärts zusätzliche Aufklärung – aus der einst vom Biologen Anton Dohrn gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel. Obwohl es die einzige jemals in einem Aquarium gehaltene “Sirenide” dort nicht mehr gibt. Wie der faschistische Theoretiker Curzio Malaparte in seinem Buch “Haut” berichtet, wurde dieser “Fisch”, wie alle anderen in Dohrns Aquarien auch, 1944 vom Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, die Neapel eingenommen hatten, getötet – um anschließend von ihnen verspeist zu werden. Malaparte will selbst dabei gewesen sein. Weil aber dieses “zur Gattung der Sirenoiden” gehörende Meerestier (“dessen Flanken in einem Fischschwanz endeten – genau wie von Ovid beschrieben”) einem kleinen toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe eine der anwesenden weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den “Fisch” stattdessen ordnungsgemäß im Garten zu bestatten.

Es geht das Gerücht, dass er später wieder ausgegraben wurde und dass das Skelett sich heute im “Museo di Biologia Marina e Paleontologia” von Reggio Calabria befindet (man kann es sich im Internet ansehen).

Für die Amerikaner sind die Sirenen das, was wir “Seekühe” nennen: pflanzenfressende Meeressäugetiere, die es nur noch in tropischen Gewässern gibt. Es gab auch noch welche in den sibirischen Gewässern: Sie wurden aber – nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung – ihres Trans und schmackhaften Fleisches wegen, ausgerottet (siehe dazu z.B. die Webpage “Sirenews”). Die einen wie die anderen Seekühe sehen jedoch weder wie die auf antiken Vasen dargestellten Sirenen aus, noch singen sie wie von Homer geschildert. Das gilt auch für die bis zu ein Meter langen Arten der Gattung “Siren”, die man auf Deutsch treffend “große Armmolche” nennt, weil sie nur Vorderbeine haben, dazu Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der “Sirenidae”, leben an der Küste Floridas, ernähren sich von Kleingetier und Pflanzen und halten Sommerschlaf.

Bei dem von Malaparte beschriebenen “Speisefisch” aus der “Zoologischen Station” von Neapel könnte es sich eventuell um eine solche “Schwanzlurche” gehandelt haben, dann ist sie allerdings nicht mit dem Skelett im Museum von Reggio Calabria identisch.

Ich wollte es schon bei diesem (unbefriedigenden) Stand der Dinge bewenden lassen, aber dann entdeckte ich im Medizinhistorischen Museum auf dem Charité-Gelände gleich zwei kleine in Alkohol eingelegte “Sirenen”. Es handelte sich dabei um tote Kinder, d.h. um in Spiritus eingelegte “menschliche Fehlbildungen”: Bei der einen – “Sirenoiden” – fehlten “die Beinanlagen, der Harntrackt und die Geschlechtsorgane” – der Körper ging stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. Der anderen – “Sirenomelie” – fehlten “Beine, Geschlechtsorgane, Niere, Blase und Enddarm”. Beide waren also nicht lebensfähig, man ließ sie wohl gleich nach der Geburt sterben.

Wenn ich nicht irre, befanden sich die Exponate früher in der Anomaliensammlung auf dem Gelände des Veterinärmedizinischen Instituts der Humboldt-Universität – und wurden erst kürzlich in das neue Medizinhistorische Museum überführt, bei dessen minimalistisch-modernistischem Aufbau jetzt das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte federführend ist. Aus dessen Reihen wurde kürzlich auch eine Recherche – als “Preprint” -veröffentlicht, in der der Autor den Namen der Mutter von einem der Sirenoiden ausfindig gemacht hatte. Für die zwei ausgestellten “sirenoiden Fehlbildungen” machen die Kuratoren der Ausstellung “übermässigen Alkoholgenuß der Mütter” verantwortlich, der Autor der Einzelfallrecherche äußert sich dazu glaube ich nicht.

Kürzlich gelang es, eine solche “Sirenomelie” – heute kommt schon auf 70.000 Geburten eine – operativ so zu korrigieren, dass das Kind, Milagros Ceron, nun lebensfähig ist. Die Berliner Lokalpresse interessierte sich seltsamerweise sehr für das “Meerjungfrauensyndrom” des kleinen peruanischen Mädchens und seine Heilung.

Zuvor hatten die Berliner Medien bereits ein regelrechtes “Seekuhfieber” entfacht gehabt – nachdem der neue West-Direktor des Ost-Tierparks ein großes Becken mit fünf Seekühen “aus den Sümpfen Floridas” eingerichtet hatte. Täglich steigt seitdem ein Tierpfleger in Taucheranzug zu ihnen in die Tiefe, um sie zu liebkosen – d.h. mit ihnen zu kommunizieren, wie man heute sagt. “Die brauchen das,” erklärt er eins ums andere Mal dem rbb, nachdem er – noch nass – aus dem Wasser gestiegen ist..
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Die “Stazione Zoologica Anton Dohrn”

– So heißt das 1872 vom Zoologen Anton Dohrn gegründete Aquarium in Neapel seit 1982, es hat heute fast 300 Mitarbeiter und wird jährlich von über 100.000 Leuten besucht. Der Biologe Konrad Lorenz behauptete, er habe durch sein Aquarium zu Hause mehr gelernt als während seines ganzen Studiums.
Aus Justus von Liebigs “Welt im Glase” hatte sich ab Mitte des 19, Jahrhunderts – zuerst in London und dann auch in anderen europäischen Städten das “Institut der Aquarien” entwickelt, so Hermann Helmholtz, Rudolf Virchow und Emil du Bois-Reymond in ihrer “Eingabe an den Reichstag 1879” zur finanziellen Unterstützung der “Zoologischen Station”, mit der der in Neapel “Dottori dei peisci” genannte Anton Dohrn die Darwinsche Theorie der Entwicklung der Arten durch empirische Studien im Golf von Neapel erhärten wollte. Sein Aquarium sollte das erste in einer Kette maritimer Forschungsstätten rund um die Ozeane der Welt werden. Es wurde und ist immer noch die berühmteste “Zoologische Station”, in der seit 1872 tausende von Forscher und Künstler studierten. Finanziert wird sie durch Eintrittsgelder, die über ein öffentliches Aquarium hereinkommen, über staatliche und private Zuschüsse (anfänglich u.a. auch von Charles Darwin und Thomas H. Huxley) sowie über ihr sogenanntes “Tisch-System”, das man als einen “permanenten Gelehrtenkongreß” bezeichnet hat: Ausländische Regierungen oder wissenschaftliche Institutionen mieten jahresweise Arbeitsplätze, die sie dann ihren Forschern zur Verfügung stellen.

Nach 1945 konnte T.H. H. Huxleys Enkel Julian Huxley als erster Direktor der UNESCO durchsetzen, dass diese Organisation ebenfalls die Station in Neapel unterstützte. Anton Dohrn nannte sein Projekt ein “organisatorisches Kunstwerk”, dazu gehörte auch eine umfangreiche Bibliothek sowie ein Aufsichtsrat, in den Wissenschaftler aus aller Welt berufen wurden. Anton Dohrn starb 1909, sein Sohn Reinhard Dohrn übernahm daraufhin die Leitung. 1922 wandelte man die Station in eine Körperschaft italienischen Rechts um. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie teilweise beschädigt und ausgeplündert. In den Sechzigerjahren geriet das Aquarium vorübergehend in finanzielle und personelle Schwierigkeiten.

1992 sorgten zwei Neurobilogen, Graziano Fiorito und Pietro Scotto, die mit in der Bucht von Neapel gefangene Kraken Intelligenztests angestellt hatten, für Schlagzeilen, indem sie behaupteten, dass das Gehirn dieser Weichtiere ähnlich “hochdifferenziert” wie das von Menschen sei, obwohl ganz anders aufgebaut besitze es ebenfalls die Fähigkeit des “Beobachtungslernens”. Der Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau wußte dazu aus eigener Beobachtung: “Wenn ein Taucher die Augen eines großen Kraken auf sich gerichtet sieht, empfindet er eine Art Respekt, so als begegne er einem sehr klugen, sehr alten Tier.” Ähnlich hatte sich zuvor bereits der Surrealist und Soziologe Roger Caillois in seinem Buch “Der Krake – Versuch über die Logik des Imaginativen” geäußert: “Der Krake scheint aufrecht zu gehen wie ein Mensch. Sein kapuzenförmiger Kopf und die riesigen Augen erinnern an die als sadistisch verschrienen, in Kutten gehüllten Folterer einer geheimnisumwitterten Inquisition. Der Krake, dieses Hirntier, um nicht zu sagen, dieser Intellektuelle, beobachtet immerzu, während er agiert. Diese Besonderheit, die offenbar sein innerstes Wesen zum Ausdruck bringt, läßt sich sogar bei Hokusais wollüstigen Kraken feststellen: Er beugt sich über den Körper der nackten Perlentaucherin, die er in Ekstase versetzt, und läßt sie nicht aus den Augen, als verschaffe es ihm zusätzlichen Genuß, ihre Lust zu belauern.”
Naturforschungsergebnisse – das sind oft auch Männerphantasien! Eine bezieht sich direkt auf die Zoologische Station in Neapel. Sie stammt von dem laut Trotzki “faschistischen Theoretiker” und nationalsozialistischen Frontberichterstatter Curzio Malaparte, der bei Mussolini in Ungnade fiel und sich deswegen gleich nach der Landung der Alliierten in Neapel im September 1943 beim amerikanischen Oberkommando als halber Widerständler einführen konnte, woraufhin er an dessen “Tisch-Gesellschaften” teilnehmen durfte (s.o.). Curzio Malaparte heißt in Wirklichkeit Enno Boje und kommt aus Husum.

So ründet sich die ganze “Frisia-non-cantat”-Geschichte, was ja auch nicht zu verachten ist.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/09/15/uberfriesen-1/

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kommentare

  • In der Weihnachts-“Zeit” schreibt der MIT Knight Science Journalist Christoph Drösser: Es wird immer weniger zusammen gesungen. “Selbst wenn sie wollten, könnten die Generationen kaum noch zusammen singen, weil Alt und Jung kein gemeinsames Repertoire mehr haben.” Dabei stärke gemeinsames Singen das Gemeinschaftsgefühl, meint Drösser, und fährt dazu sogleich in Form von Zitaten eine ganze Riege der aus Funk und Fernsehen bekannten “US-Wissenschaftler” auf.

    Unter dem Strich kommt dabei heraus:

    “Kollektiver Gesang erzeugt Kooperation und Selbstlosigkeit”. Er euphorisiert und der Körper schüttet Endorphine aus, die schmerz-unempfindlich machen. Die Beispiele und Experimente stammen aus dem Militär, aus Fußball-Fankurven, von der Love-Parade und von in Marsch gesetzten US-Elitestudenten und einer nicht-marschierenden Kontrollgruppe.

    Erfahrungen mit Chören von Arbeitslosen, Obdachlosen und Gefangenen zeigen überdies, dass das Singen ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden steigert. “Soziologisch gesehen bleibt der Chorgesang jedoch ein Hobby von Mittelschichtmenschen.” Und diese Bande tut alles, um ihr Wohlbefinden zu steigern. Dennoch oder gerade deswegen haben die Chöre große “Nachwuchssorgen”. Aber es gibt Hoffnung: beim juvenilen Amüsierpöbel wird Karaoke immer beliebter. Der Artikel endet deswegen optimistisch – mit dem Satz: “Letztlich ist alles gut, was die Kinder wieder zum Singen bringt!”

    Weil das aber nicht reicht – und zudem noch viel zu sehr nach “Singend in den Tod” klingt, findet sich auf der letzten “Zeit”-Seite noch ein langer Artikel über die Jesuiten von Paraguay, die dort mit Gesang eine indianisch-kommunistische Republik aufbauten. Alle Arbeit wurde gemeinschaftlich singend erledigt und “Kirchenfeiern wurden zu üppigen Sängerfesten”. In den agrarischen Großkommunen gab es bald auch Orgelbauer.

    Von 1609 bis 1767 dauerte dieser “Triumph der Menschlichkeit”, dann verbannte der spanische König alle Jesuiten aus seinen Kolonien – und die Indianerkommunen, die zuletzt 200.000 Menschen umfaßten, zerfielen unter dem Druck der portugiesischen Einwanderer, die die Indianer lieber versklavten.

    Für Paraguay waren die 150 Jahre das “Goldene Zeitalter”, meint sein heutiger Präsident: Die Jesuiten nahmen die “Theologie der Befreiung” vorweg. Der “Zeit”-Autor Christian Schmidt-Häuer will aber die wiederauferstandene Musik der Indianer dort vor Ort – hier und heutealso – selbst mitbekommen haben, wobei sie sich die Instrumente auf Müllhalden selbst zusammengebaut hatten. Eine äußerst frohe Botschaft also auch in diesem Artikel über kollektiven Gesang – in der “Zeit”-Weihnachtsnummer.

    Die taz wählte dagegen einen Artikel über Geburt und Aufzucht eines behinderten Kindes – als Aufmacher für den 24.12.. Er enthält jedoch ebenfalls eine (elterliche) Frohbotschaft.

  • Hier noch ein taz-text von Martin Reichert, der seine Diplomarbeit über die Jugendbewegung schrieb und kürzlich im Siebengebirge wanderte:

    Pflücken verboten!

    “Es blühet im Walde tief drinnen die blaue Blume fein, die Blume zu gewinnen, ziehn wir in die Welt hinein. Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss, und wer die blaue Blume finden will, der muss ein Wandervogel sein.”

    (“Wir wollen zu Land ausfahren”,

    Text: Hjalmar Kutzleb)

    Mit zweihundert Stundenkilometern in Richtung Entschleunigung: mit dem ICE von Berlin nach Bonn die Landschaft durchschneiden, um im Siebengebirge beim Wandern zu sich selbst zu finden. Das eigene Tun muss schließlich in einem Sein gründen! Martin Heidegger kam zwecks Naturerfahrung immer mit dem Bus von Freiburg in den Hochschwarzwald gefahren. Auch nicht besser.

    Zu Hause in Berlin frei nach Hape Kerkeling einen Zettel hinterlassen, “Bin dann mal weg”, der Aufforderung Manuel Andracks folgend: “Du musst wandern!” Na gut. Geschwind das Ränzlein geschnürt, darin Erbswurst von Knorr, Capri-Sonne mit Strohhalm, die “Mundorgel” und ein schwerer, neuerschienener Wälzer von Ulrich Grober: “Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst”. Zumindest theoretisch müsste das Buch der kommende Verkaufsschlager werden: Das Wandern, früher als zutiefst christdemokratisches, piefig-spießiges Rentnerhobby verschrien, erfreut sich wieder allgemeiner Popularität – wenn die Listen, auf denen die aktuellen Bestseller vermerkt sind, recht haben.

    Hurra! Das letzte hartgekochte, schwefeldünstende Ei ist verspeist und das Ziel schon in Sicht: Königswinter am Rhein, gelegen am Fuße des Siebengebirges mit seinen 40 Bergen und Anhöhen. Und 200 Kilometern Wanderwegen. Der “Rheinsteig” führt von hier bis nach Wiesbaden. Wenn nur die hochfrequentierte Bahnstrecke nicht wäre. Gut fünfzehn Minuten und 500 Güterwaggons später öffnen sich die Schranken, und die Suche nach der blauen Blume kann beginnen. Allerdings: Würde man sie finden, man dürfte sie nicht pflücken. Naturschutzgebiet! Eigentlich alles verboten hier, sagt ein moosüberwuchertes Schild am Fuße der ersten Anhöhe. Vorbei am Verbotsschild und mitten hinein in den deutschen Wald, dessen Wege – wohl aus versicherungstechnischen Gründen? – mit Granulat bestreut sind. Selbst das Flüsslein murmelt durch eine Betonrinne.

    Wie geht das nun mit dem neuen Wandern? Das alte kennt man ja nur noch aus der Grundschule, vielleicht noch von der obligatorischen Nachtwanderung während der Konfirmandenzeit. Lauter pubertierende Scheinheilige mit Taschenlampe irren durch den Forst. Doch nun wandern sie alle: ob alt, ob jung, ein Stock, ein Hut, ein Regenschirm. Ein neuer, alter Volkssport: Bergwandern, Fernwandern, Nordic Wandern, Sportwandern, Volkswandern, Barfußwandern, selbst Nacktwandern soll sich auf abseitigen Routen wachsender Beliebtheit erfreuen. Ähnlich populär ist nur noch das Bücherschreiben, weshalb fast jeder Wanderer eines verfasst. Über das Wandern.

    Das neue Wandern. Grober sagt, es gehe nicht darum, dass man sein Ziel erreicht, sondern darum, wie man es erreicht. Alles, was man braucht, solle man bei sich tragen (Rucksack!), und es sei wichtig, auf die Pendelbewegung zwischen Introversion und Wahrnehmung der Außenwelt zu achten, die durch das Gehen angeregt werde. Steht in der Zusammenfassung am Schluss; warum hat man bloß nie Zeit, so ein Buch mal ganz und in Ruhe zu lesen? Blöde beschleunigte Moderne, aber deshalb sind wir ja schließlich hier.

    Nach den ersten zweihundert Metern Waldesrauschen ist die Außenwelt schon wieder ganz schön penetrant: Ein Wanderbruder im TCM-Trekking-Outfit kommt aus einer vermeintlich idyllischen Höhle, die er für seine Notdurft missbraucht hat, und nimmt auf einer Bank Platz. Die Bank ist angekettet. Aus welchem Material sind bloß diese Klamotten, Neopren? Gore-Tex? Titan? Neuer Introversionsversuch nach der nächsten Weggabelung.

    Nachdenken über die blaue Blume. Symbol der Romantik! Novalis! In der blauen Blume verbinden sich nicht nur Natur, Mensch und Geist, sie symbolisiert auch das Streben nach der Erkenntnis der Natur. Und daraus folgend: nach der Erkenntnis des Selbst. Joseph Freiherr von Eichendorff, Adelbert von Chamisso, sie alle waren auf der Suche nach ihr, der Landschaftsmaler Fritz von Wille hat sie sogar zum Entzücken Kaiser Wilhelms II. gemalt. Vielleicht ist sie ja tatsächlich hier im Siebengebirge zu finden, einem der ältesten Naturparks Deutschlands.

    Schon 1869 hatte sich der “Verschönerungsverein für das Siebengebirge” (VVS) gegründet, der noch heute – unter anderem neben der Mannesmann AG – Mitbesitzer des Areals ist und Bänke ankettet. 1922 wurde das Siebengebirge vom preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung sowie für Landwirtschaft und Forsten zum Naturschutzgebiet erklärt. Schon damals gab es Superministerien, und schon damals war es mit der authentischen Natur offensichtlich nicht mehr so sehr weit her.

    Es ist wie mit dem Osterhasen: Eines Tages beim Osterspaziergang kam die Erkenntnis, dass die im Moosbett des Waldes liegenden violetten Milka-Eier aus der Manteltasche des wurfgeübten Vaters stammten. Zu allem Unglück kam auch noch ein Förster im Geländewagen, der zur Ruhe mahnte, damit die forstwirtschaftlich gehegten Rehe nicht gestört würden. Deutscher Märchenwald? Wenn das Hermann Löns gewusst hätte. “Isegrims Irrgang”, die Geschichte eines wilden Wolfs, der, bedingt durch die Zivilisierung der deutschen Wildnis, nach Russland emigrieren musste, ist heute aktueller denn je: Kommt ein Bär daher, wird er gleich als Problembär abgeknallt, kommt ein weißes Reh, singt Stefanie Hertel, und Stefan Mross tut so, als ob er Trompete dazu spielt. Damit “Rehweißchen” nicht auch noch erschossen wird.

    Die nächste Bank ist endlich mal frei, im deutschen Wald rennen mehr Menschen herum, als man denkt. Dabei ist bereits Anfang November und das Wetter trüb. Der Schweiß läuft schon den Rücken herunter, das muss am Klimawandel liegen. Sagt auch Ulrich Grober: “Öl wird knapp, Benzin teuer, Kerosin auch. Das Klima wird turbulent, nicht zuletzt als Folge unserer schrankenlosen Mobilitätsansprüche.” Er sagt, dass unsere Lebensweise in ein Chaos aus Verelendung, Gier, Schäbigkeit und Gewalt abstürzt. Auf den Schrecken erst mal eine Capri-Sonne, gekauft bei Edeka in Berlin-Neukölln. Grober preist jedoch das Wandern als “Überlebensstrategie”, schließlich sei auch die Körperkraft eine “erneuerbare Energie”.

    Was ein rechter Wandervogel ist, muss also auch essen! Der Versuch, in die Erbswurst zu beißen – ein Klassiker der Wandervogelbewegung -, scheitert kläglich. Ist keine Wurst, sondern gepresstes Trockengemüse mit Brühe, das man “abkochen” müsste. Womöglich unter Zuhilfenahme fossiler Brennstoffe. Die sind zwar in unmittelbarer Umgebung durchaus vorhanden, ihre Verwendung ist jedoch laut Schild streng verboten. Eine Extremsituation: Hunger! Was würde Reinhold Messner jetzt tun? Geschwind zum Grober gegriffen: “Das Fasten wäre eine klassische Übung in Selbstmächtigkeit, auch der Sport. Entscheidend ist das Moment der freiwillig auferlegten Askese.”

    Alsbald heißt es wählen zwischen zwei sich bietenden Wegen, von denen der eine weniger begangen scheint als der andere. Die Entscheidung fällt in einem Anflug neu erworbener Selbstmächtigkeit zugunsten von Letzterem, weil dieser laut Beschilderung zum “Milchhäuschen” führt. Endlich wieder “Herr der Lage”, “autonom” und frei von allen Zwängen, die der Alltag einem auferlegt, geht es den Berg hinauf in Richtung Gastronomie. Schon ganz dicht dran am eigenen Selbst, nach nur zwei Kilometern?

    Die nächste Begegnung mit der Außenwelt bugsiert das Pendel gewaltsam und ruckartig in Richtung Introversion: Der Mountainbiker, der mit einem Affenzahn und neonfarbenenen Radlerhosen um die Ecke schießt, hätte einen fast umgenietet. Vorbei wäre es womöglich gewesen mit dem “Sein”. Die eigene Autonomie reicht eben bloß bis zum Lenker des Nachbarn, und an allem ist nur dieses Pascal’sche Schwungrad schuld: Trügen die Menschen dieses Teil nicht in sich, würden sie mit ihrem Arsch zu Hause bleiben, und die Welt wäre ein Hort des Friedens. Schließlich war das Wandern zunächst eine Bewegung der Aufklärung. Es diente der nachhaltigen Erkundung der Außenwelt, ein selbstbewusstes Bürgertum durchschritt im 18. Jahrhundert Flur und Forst, um Land und Leute kennenzulernen – und nicht nur sich selbst. Lange her, in der wirkmächtigen Tradition der Romantik geht es auch heute noch, glaubt man der einschlägigen Literatur, hauptsächlich um den Weg zum Ich, das aufgrund anhaltender, mittlerweile sogar schon postindustrieller Entfremdung abhandenzukommen droht. Weshalb nun jeder Arsch durch den Wald dackelt.

    Völlig durchgeschwitzt und mit schmerzendem Rückgrat – wer kommt eigentlich für diesen völlig rücksichtslosen Gelenkverschleiß auf, insbesondere den der Hüftgelenke? – geht es die letzten verschlungenen Pfade zum Milchhäuschen hinauf. Nur die notorischen Rentner sind mal wieder völlig schmerzfrei, sie überholen hoch auf dem gelben Wagen: bequem in einer Kutsche sitzend, gleich hinterher kommt tatsächlich die Post im Renault Turbodiesel.

    Als man endlich oben ankommt, sind alle schon da. Schwer, einen Platz auf der idyllischen Terrasse zu ergattern. Und angesichts der Preise erscheinen auch die ureigentlich kapitalismuskritischen Aspekte des Wanderns plötzlich einleuchtend: Currywurst mit Pommes für zehn Euro! Da muss man erst mal eine rauchen, die zahllosen Mütter mit geländegängigen, dreirädrigen Trekking-Kinderwagen ignorierend. Schließlich sagt auch Grober: “Leben besteht nicht darin, permanent etwas zu tun.” Wie sind die eigentlich alle hier raufgekommen? Gibt es einen Bus? Der Schweiß rinnt weiter, während die Profis längst die Unterbeine ihrer Gore-Tex-Hosen abgenommen haben, per Reißverschluss: frische Luft für stramme Waden.

    Im Milchhäuschen unterhalb des Drachenfelsen kommen sie alle zusammen: die Rentner, die das Wandern noch vom Trommelwirbel ihrer Jugend her kennen – damals zog mit ihnen die neue Zeit oder was man dafür hielt, heute sind sie die Einzigen, die noch Stock und Gamsbarthütchen tragen. Eingefleischte Karl-Moik-Fans in Loden-Frey sitzen neben der Generation Florian Silbereisen, die mit iPod und nordischen Stöcken unterwegs ist. Verdammt lange her, dass Wandern mal so richtig cool war, ungefähr hundert Jahre – zu Wandervogelzeiten zog man mit Goethe im Tornister durch die Lande (und später in den Ersten Weltkrieg), auf den Spuren mittelalterlicher Vaganten und Scholaren, eine irdene Volkskultur beschwörend, die es schon damals längst nicht mehr gab, und wähnte sich als Avantgarde. Bis endlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die wahlweise kulturbolschewistische oder eben westlich-dekadente “Negermusik” eine jugendkulturelle Revolution einläutete. Übrig von der jugendbewegten deutschen Wanderkultur blieb nur das sozialpflegerische Missverständnis, man könne junge Leute mit Hilfe des “Erlebnisses” des Wanderns ganz wunderbar für die Ziele der Erwachsenen begeistern – seien sie religiöser, politisch-militärischer oder sexueller Natur.

    Im Treck geht es nach der wohlverdienten Pause weiter hinauf, zum Drachenfelsen. Endlich: der Rhein! Und verdammt: Es fährt eine Zahnradbahn hierherauf! Der Blick schweift über die Rheinebene in Richtung Bonn, weiter hinten kann man sogar den Kölner Dom erkennen. Einen Euro in den “Erzählautomaten”, und schon spuckt der Kasten Legenden aus – wenn das Handy nicht geklingelt hätte, wüsste man nun auch, was es mit dem “fiesen Drachen” so auf sich hat. Irgendwas mit Sprengpulver, das auch dem Ausflugsbetonklotz im Stil der 80er-Jahre nicht schaden könnte. Der Akku der Digitalkamera ist alle, drum bleibt nur Introversion bei einer weiteren Capri-Sonne: Ist denn das Weltall nicht in uns? Ach Novalis! Was wusstest du schon von der metaphysischen Obdachlosigkeit im 21. Jahrhundert. Im Weltall sind längst Satelliten, die Privatfernsehen übertragen, das dann in uns ist. Aber wenn man die Freizeitmenschen durch Wandern ruhigstellen kann und sie dafür nicht auf die Idee kommen, zu beten oder irgendwo einzumarschieren, ist das ja so weit in Ordnung.

    Das Wandern ist postideologisch und generationenverbindend geworden – eine mittelanstrengende und im Prinzip preiswerte Freizeitaktivität für Wohlstandsbürger, die man gerne auch als Kurztrip am Wochenende ausübt. Nur Fanatiker rutschen auf blutigen Knien nach Lourdes; moderne Patchwork-Agnostiker mit Hang zu Esoterischem kaufen sich schicke Wanderschuhe, legen einen indischen Schal um den Hals und bezwingen den Jakobsweg in Spanien. Pilgerfahrten zum Mittelpunkt des Selbst. Wandern als prä- oder postfaschistisches Hobby? Wie hieß es noch in einem Theaterstück der legendären Familie Schmidt aus den Achtzigerjahren? Da spricht ein dauernörgelnder älterer Herr: “Die Jugend von heute wandert ja nicht mehr. Mein Gott, was sind wir damals gewandert. Hunderte von Kilometern!” Sagt die Nachbarin: “Ja. Und die Russen immer hinterher!”

    Die jugendbewegten Studenten der späten 60er-Jahre wollten die blaue Blume dann doch lieber rot färben – allenfalls klampfte man noch ein wenig umweltbewegt auf der Burg Waldeck herum. Nur die Genossen von der FDJ im Osten wähnten sich schon wieder als Bannerträger einer neuen Zeit. Bis zum bitteren Ende mit blauem Hemd und kurzen Hosen, immer ein Liedchen auf den Lippen – nur noch eine skurrile Anekdote in den Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger. Die Wanderung als Basismodell politischer Prägung ist so was von tot – wahrscheinlich war es der wandernde Expräsident Karl Carstens, der sie zu Grabe getragen hat. Oder Reinhard Mey. Oder vielleicht sogar Heino mit seinen “Liedern der bündischen Jugend”.

    Ja, zum richtigen Wandern gehört auch das Singen. Und um die schmerzenden Kniegelenke zu betäuben, folgt der Griff zur “Mundorgel” – das kleine, rote Büchlein ist quasi der jugendpflegerische Nachfolger vom “Zupfgeigenhansl”, dem Liederbuch des Wandervogels, randvoll mit Volksliedern. Seit über 50 Jahren herausgegeben vom Christlichen Verein Junger Männer, befand es sich noch in den 70er-Jahren im Besitz jedes zweiten Kindes, so auch im eigenen. Ein protestantisches Liederbuch für Fahrt und Lager! “Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt” auf den Lippen, geht es nun den Berg wieder hinunter – mit klammheimlicher Vorfreude auf eine abendliche Kneipentour durch Köln: “YMCA!”

    Und die blaue Blume? Ist aus Plastik und kostet 6,90 Euro. Gesehen am Wander-Nippesstand am Fuße des Siebengebirges. Nach dem Abstieg.

  • Ergänzung zu “Frisia non cantat”:

    Wenn es stimmt, dass die Friesen nicht singen, dann haben sie es inzwischen geschafft, dass auch im restlichen Deutschland keine Lieder mehr gesungen werden. Immer wieder passiert es, dass im Ausland sich aufhaltende Deutsche gebeten bzw. gezwungen werden, ein Lied zu singen – und dass sie es nicht können. Höchstens noch die erste Strophe eines Weihnachtsliedes hinkriegen, wobei ihnen dann z.B. die Russen mit den anderen Strophen aushelfen können – und sogar auf Deutsch.

    Dabei wurde noch bis in die Nazizeit in Kneipen,auf Versammlungen und vor allem in der Pfadfinder- und Jugendbewegung wie blöd gesungen. Der HJ und anderen Naziorganisationen gelang es dann jedoch, dieses “Liedgut” zu bergen, d.h. anscheinend umzufunktionieren – und das war dann – nach der “Niederlage” – das Ende vom Lied. Die wenigen Widerständischen, die überlebt hatten – z.B.von der bündischen Jugend und den Edelweiß-Piraten – versuchte es dann zwar noch mal – u.a. auf der Burg Waldeck, später gab auch noch Heino eine LP heraus mit Liedern der bündischen Jugend, aber diese lebten nur so lange bis auch den letzten Überlebenden die Stimme wegblieb.
    Ein Teil des “Gutes” war unterdes direkt von den Nazi-Kameradschaftsabenden und -treffen in das Repertoire des Musikantenstadls und der Bierzelte gesickert, wo es nun langsam von Abba-, Boney M.-und Prinzen-Songs abgelöst wird. Diese Songs – die eben nicht “Lieder” heißen – werden nicht mehr mitgesungen. Nur manchmal hört man noch jemanden drei Zeilen eines Popsongs mitsummen oder -pfeifen.
    Dabei gibt es Chöre genug, z.B. auch einen in der taz, und allerorten wird das Spielen irgendeines oder sogar mehrerer Musikinstrumente geübt, aber das ist gleichsam Hochkultur, ebenso wie die vielen Punkbands und Rapper – entstanden zumeist aus dem Karriere-Frust “A working-class-hero was somthing to be”.

    Wer mehr über diese Verrammelung des deutschen Liedgutes wissen will, dem sei das Buch des Bündischen-Jugend-Archiv-Verwalters Paulus Buscher “Das Stigma” empfohlen, das von den Edelweiß-Piraten und ihren Kämpfen gegen die HJ handelt, wobei jeder reflektierende Gedanke dazu vom Autor mit einem Liedtext sozusagen untermalt wurde.

  • Das alle Ostsee-Anrainerstaaten beginnend mit Dänemark und seiner kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen Nixen-Verehrer sind (und singen wie blöd) legt der obige Text bereits gebührend nahe. Auf dem Flohmarkt am Schöneberger Rathaus erwarb ich dazu heute noch einen brauchbaren Reader von Enn Vetemaa: “Die Nixen in Estland – ein Bestimmungsbuch”. Es erschien auf Deutsch 1985 in der “Spektrum”-Reihe des Verlags Volk und Welt, jedoch nicht aus dem Estnischen, sondern aus dem Russischen übersetzt, dafür aber mit zwei Nachworten auf Französisch und auf Plattdeusch – Ostsee-Plattdeutsch, denn da heißen die Nixen “Fischswanzdierns”, an der Nordsee würde man von “Fischswanzdeerns” sprechen.Das Buch enthält neben einer “Bestimmung anhand des Liedes” von Nixen auch noch ein allerdings unvollständiges Literaturverzeichnis.

  • Im Zusammenhang der Meerjungfrauen-Plastiken an der Ostsee sei noch die Warschauer Sirene (mit dem Schwert) erwähnt, die als Wahrzeichen der Stadt fungiert. Sie soll sich der Sage nach einst aus der Ostsee kommend in die Weichsel verirrt haben und dann bei Warschau angeschwemmt worden sein. In einem demnächst vom “Büro Kopernikus” (Stefanie Peter) herausgegebenen kleinen “polnischen ABC” findet sich dazu Näheres.

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