vonHelmut Höge 15.09.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Im „Fryslan“, dem Magazin für Geschichte und Kultur der friesischen Genossenschaft zu Leeuwarden, schreiben die Autoren Wim van Driel und Klaas Zandberg – über die Leeuwarderin Margaretha Geertruida Zelle: „Die Verbindung von Erotik, Spannung, Drama und Unschuldsvermutung gaben immer wieder aufs Neue Stoff für Bücher und Filme – über Mata Hari, die wohl bekannteste Friesin aller Zeiten“.

Bereits 1975 stellte die Verwaltungshauptstadt der Provinz Fryslan, Leeuwarden, ein kleines Denkmal vor Margreet Zelles Geburtshaus auf, das sie als Nackttänzerin Mata Hari zeigt. Und im Fries Museum Leeuwarden gibt es eine Dauer- Ausstellung über die 1917 als Doppelagentin hingerichtete Huthändler-Tochter. Sie wurde am 7.August 1876 geboren. Ihr Vater scheint sie sehr verwöhnt zu haben: „Großes Aufsehen erregte sie in der Stadt, als sie mit einem eigenen Ziegenwagen durch die Straßen fuhr“. Adam Zelle liebte es, Margreet, Griet genannt, als exotische Prinzessin auszustaffieren. Er war ein angesehener Kaufmann, sogar einmal Fahnenträger der Ehrenwache beim Besuch des Königs 1873. Anschließend ließ er sich vom Leeuwardener Maler A. Martin porträtieren. 1889 mußte er jedoch Konkurs anmelden und seine Familie fiel auseinander.

Margreet zog nach Leiden, wo sie eine Kindergärtnerinnenausbildung begann. Dort verliebte sich aber der Direktor in sie. Man zwang daraufhin das „friesische Flittchen“, die Schule zu verlassen. Margreet zog zu einem Onkel nach Den Haag. Dort las sie in einer Heiratsannonce „Offizier mit Urlaub aus Ostindien sucht Mädchen mit liebem Charakter, um eine Ehe einzugehen“. 1895 lernten sich die beiden kennen – und heirateten sogleich. Zunächst lebte das Ehepaar MacLeod in Amsterdam, wo Margreet ihr erstes Kind, Norman, gebar.

Danach zog die Familie nach Indonesien, wo sie ein zweites Kind, Jeanne, genannt „Non“, bekam. Dennoch paßte Margreet „nicht in die Zwangsjacke der Frau eines Offiziers in Ostindien, und er betrachtete ihr unabhängiges Benehmen als Ehebruch“. 1899 starb ihr Sohn. 1902 kehrte die Familie in die Niederlande zurück, wo Margreet die Scheidung beantragte. Zwar wurde ihr die Tochter zugesprochen und ihr Mann mußte für den Unterhalt aufkommen, aber erst zahlte er nicht und dann weigerte er sich, „Non“ herauszurücken. Sie sah danach ihre Tochter nur noch einmal kurz im Jahr 1905 auf dem Bahnhof von Arnheim. Nach der Scheidung war Margreet 26 Jahre alt – und mußte „wieder von vorne beginnen“, wie das Fries Museum Leeuwarden schreibt. Sie ging nach Paris!

Einem Interviewer erklärte sie später: „Ich dachte damals, daß alle Frauen, die ihren Ehemann verließen, nach Paris gingen“. Beim ersten Mal scheiterte sie – und kehrte mittellos in die Niederlande zurück. Beim zweiten Mal, 1904, nahm sie dort Tanzunterricht. Bereits ihr Debüt – als orientalische Tänzerin „Lady MacLeod“ im Salon der Baronin Kirejewsky war ein Erfolg: Es folgten weitere Auftritte in Privatsalons. Schließlich wurde sie vom Besitzer eines privaten Museums für asiatische Kunst, Guimet, eingeladen. Dort sollte am 13. März 1905 ihr erster öffentlicher Auftritt stattfinden, vorher dachten sich Guimet und Margreet einen neuen Künstlernamen für sie aus: „Mata Hari“ – „aufgehende Sonne“ auf Malayisch.

Das Fries Museum merkt dazu an: „Es ist der Anfang einer faszinierenden Karriere. In der Presse erscheinen lobende Kritiken…Einige Journalisten sind ein wenig kritisch über ihre Tanzkunst, aber die Tatsache, daß sie völlig nackt tanzt, macht viel Eindruck. Die Welt liegt ihr zu Füßen“. In den Interviews mit der „indischen Tänzerin“ erfindet Margreet immer neue Geschichten über ihre Herkunft und ihre Initiation als Tempeltänzerin. Bereits ein Jahr später,1906, nach einem Auftritt in der Oper Monte Carlos im Ballett „Le Roi de Lahore“ von Jules Massenett, ist sie die am besten bezahlteste Tänzerin Europas, über die zudem am meisten gesprochen und geschrieben wird. Margreet nimmt sich einen Agenten. Dennoch „ist das hohe Tempo nicht durchzuhalten,“ so die friesischen Museologen: „Sie beschließt, sich etwas mehr Ruhe zu gönnen, sowohl in bezug auf Auftritte als auch in bezug auf die Männer. Jeweils nur ein Geliebter und für längere Zeit“.

Im Sommer 1906 ist das der Berliner Großgrundbesitzer und Leutnant Kiepert. Er mietet für sie ein Apartement in Kurfürstendamm-Nähe. Zwei mal tritt sie in dieser Zeit mit ihrer „indischen Nummer“ in Wien auf. Eine Zigaretten- und eine Teesorte werden nach ihr benannt. Daheim in Leeuwarden versucht auch ihr Vater, an ihrem Ruhm zu partizipieren: Er veröffentlicht ein Buch „voller Erdichtungen und Phantasien“ über seine Tochter. Margreet unternimmt weite Reisen – u.a. nach Ägypten. Anschließend tritt sie in Paris mit neuen Tänzen auf – hauptsächlich auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. 1910 tanzt sie in Monte Carlo den „Danse du Feu“ in der Oper „Antar“ nach der Musik von Rimsky-Korsakov. Der Bankier Rousseau mietet das Chateau de la Dorée bei Tours für sie an und begleicht alle Rechnungen. In der Saison 1911/12 tritt sie in zwei Balletten der Mailänder Scala auf. Den darauffolgenden Herbst wohnt sie in einer Villa bei Paris, wo sie einige Male im Garten auftritt, begleitet von einem Orchester unter der Leitung von Inayat Khan, dem Begründer der Sufibewegung. Ihr Gönner, der Bankier Rousseau, muß Konkurs anmelden, Margreet ist gezwungen, wieder für Geld zu tanzen, nebenbei arbeitet sie in mehreren Bordellen gleichzeitig.

Als „spanische Tänzerin“ tritt sie in einer Revue des Folies-Bergere auf. Anfang 1914 ist sie wieder bei ihrem Geliebten Kiepert in Berlin. Bevor sie im Metropoltheater tanzen kann, bricht der Krieg aus. Margreet läßt sich in Den Haag nieder. Der Baron und Kavallerieoffizier Van der Capellen hält sie aus. Sie reist von Hauptstadt zu Hauptstadt. „Im Frühjahr 1916 muß sie mit dem deutschen Geheimdienst in Kontakt gestanden haben,“ heißt es vorsichtig im Fries Museum. Die Deutschen geben ihr den Codenamen „H-21“ – und 20.000 Francs Vorschuß. Im Juli 1916 ist sie wieder in Paris, wo sie sich in den jungen, aber wenig begüterten Vadime de Masloff verliebt, einen Hauptmann des ersten Russischen Kaiserlichen Regiments. Daneben aber auch noch in nicht weniger als 11 Offiziere – aus sieben Ländern: „Ich liebe Offiziere. Mein größtes Vergnügen ist es, mit ihnen zu schlafen, ohne an Geld zu denken“, wird sie sich später verteidigen, um den Spionagevorwurf zu entkräften. Dann lernt sie auch noch den Leiter des französischen Geheimdienstes, Hauptmann Ladoux kennen. Er macht ihr den Vorschlag, für Frankreich zu spionieren – in Brüssel. Auf dem Schiffsweg – über Spanien – wird sie in England von Bord geholt, weil man sie für die deutsche Spionin Clara Bendix hält. Margreet erzählt Scotland Yard von ihrem französischen Auftraggeber Ladoux. Dieser rät den Engländern daraufhin, sie nach Spanien zurückzuschicken – was auch geschieht.

In Madrid trifft sich Mata Hari mit dem Militärattaché der deutschen Botschaft, von Kalle. Am 2.Januar 1917 fährt sie nach Paris, wo sie Ladoux besucht, der bestreitet jedoch, mit ihr ein Arrangement getroffen zu haben. Fünf Wochen später verhaftet man sie in ihrem Hotel Elysées Palace. Ein Militärgericht klagt sie „prodeutscher Spionageaktivitäten“ an – und befindet sie schließlich für schuldig. Ein Gnadengesuch des niederländischen Außenministeriums wird abgewiesen. Am 15.Oktober 1917 tritt sie vor ein zwölfköpfiges Erschießungskommando. Ihre Haltung – „bis zuletzt“ – nötigt den Zeugen Respekt ab.

Es gibt noch eine zweite berühmte Friesin: Franziska von Reventlow aus Husum (Nordfriesland). Über beide Frauen gibt es inzwischen eine Unmenge Literatur und auch Filme inzwischen, meist von Frauen. Gerade erschien ein Reventlow-Roman von Franziska Sperr, der zu loben ist: „Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich“. Zuvor hatte man bereits im Osten und im Westen zwei neue Biographien über Mata Hari veröffentlicht.

Die Friesen und erst recht die Friesinnen waren zu herausragenden Ich-Leistungen vor allem in der Emigration fähig – in Friesland selbst setzte ihnen wie erwähnt die Kollektiv-Ökonomie enge Grenzen. Die Gräfin Reventlow und Mata Hari erlebten erst den Niedergang ihres friesischen Heims, dann ging die eine nach Paris und die andere nach München. Zunächst heirateten sie einen sie versorgenden Spießer, dann entdecken sie die Kunst, das wilde Leben einschließlich Rauschgift und freie Liebe. dabei arbeiten sie zur Not auch als Prostituierte. Beide kommen dabei gut in der Welt herum, wobei es sie in die mondäne zieht, in der es Männer mit Geld gibt, obwohl sie eher jüngere minderbemittelte begehren – die eine Pazifisten, die andere Offiziere. Beide sind starke Einzelkämpfer und führen darüber Tagebuch, darüberhinaus wurde auch die Reventlow im Ersten Weltkrieg in einem „neutralen Kurort“ mit einer buntgemischten Gruppe von Ausländern als Spionin verhaftet und verhört, weil man sie und ihren Begleiter verdächtigte, den Deutschen „Lichtsignale“ gegeben zu haben, 1915 veröffentlicht sie darüber die launige Kurzgeschichte: „Wir Spione“ im Simplizissimus, 1918 stirbt sie nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus von Ascona.

Was die als Spionin 1917 hingerichtete Mata Hari betrifft, so haben gerade die Mata Hari Foundation und ihre Geburtsstadt Lieuwarden neue Beweise für ihre Unschuld gefunden und den französischen Staat verklagt. Ihre Recherchen basieren auf ein zweibändiges Werk über Mata Hari, das der 92jährige Résistance-Held Léon Schirmann soeben veröffentlichte: „L’Affaire Mata Hari: autopsie d’une machination“ Das ZDF berichtete am 6.2. 2004 darüber, wobei es zu dem Schluß kam, daß Mata Hari „verrucht aber unschuldig“ war: „Auch wenn sie alles andere als eine Jahrhundertspionin war, so bleibt sie doch eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die ihrer Zeit weit voraus war. Eine moderne Frau, die sich immer wieder neu erfand, intelligent, unabhängig, kosmopolitisch, freizügig, verführerisch, geheimnisumwoben, romantisch und pragmatisch zugleich“.

Die westfriesische Hauptstadt Lieuwarden ist heute nicht nur die „stad van Mata Hari“, sie hat noch eine weitere Berühmtheit vorzuweisen: Das etwa sieben Kilometer entfernte Friesendorf Jorwerd, über das der niederländische Publizist Geert Mak eine Studie veröffentlichte: „Wie Gott verschwand aus Jorwerd“. Sein Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, im Deutschen bekam es 1999 den Untertitel: „Der Untergang des Dorfes in Europa“. Bei Leeuwarden wurde er sozusagen ausgelotet.

Um die Jahrhundertwende wohnten ungefähr 650 Leute in Jorwerd, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 420, 1995 nur noch 330, wobei die meisten in der Stadt arbeiteten. 1956 schloß das Postamt, 1959 gab der letzte Schuster auf, der Hafen wurde zugeschüttet, die Bäckerei schloß 1970, zwei Jahre später wurde die Buslinie stillgelegt, 1974 gab der letzte Binnenschiffer auf, der Fleischer schloß seinen Laden 1975, der Schmied gab 1986 auf und 1988 machte der letzte Lebensmittelladen dicht, 1994 wurde die Kirche einer Stiftung für Denkmalschutz übergeben. Als ich jetzt – im Herbst 2000 – dort hin kam, hatte nicht einmal mehr die Dorfkneipe „Het Wapen van Baarderadeel“ täglich geöffnet. Ansonsten sah das Dorf aber sehr freundlich und gemütlich aus. Der Autor Geert Mak meint denn auch am Schluß seines Buches – sinngemäß, daß man den Jorwerdern ihr langsames Verschwinden nicht anmerke: wie eh und je feiern sie alljährlich ihr rauschendes Dorffest, die „Merke“ – „So lebt das Dorf weiter, im Traum des Frommen, im langsamen Tanz der Alten, in einer Leichtigkeit, die es früher nicht gekannt hat“.

Über die Ursachen aber, wie es dazu gekommen ist, gehen die Meinungen in Jorwerd auseinander. Für die Bäuerin Lies Wiedijk z.B. begann das Unglück damit, daß das Milchgeld, das ihnen jeden Freitag der Molkereifahrer ausgehändigt hatte, plötzlich auf ein Konto überwiesen wurde. Hiermit setzte die schleichende Verwandlung der Produktionsgemeinschaft in eine Konsumgesellschaft im kleinen ein, wobei die ökonomischen Banden nach und nach durch sportliche und kulturelle ersetzt wurden. Gerade die Neuhinzugezogenen stürzten sich häufig mit aller Energie ins Dorfleben, lernten Friesisch und traten dem Theaterclub bei. Da hier noch und zunehmend das Gesetz der kleinen Zahl galt, brauchte jedoch bloß einmal ein „aggressiver Schreihals in einen Neubau“ einziehen – und ein paar Wochen in der Kneipe herumstänkern: schon blieben die Gäste aus. Zum Glück zog er wieder weg, „sonst wäre das wichtigste soziale Zentrum des Dorfes in ernste Schwierigkeiten geraten“. Geert Mak meint: „Mit der Landwirtschaft war die Stabilität nicht nur aus der dörflichen Wirtschaft, sondern aus dem gesamten sozialen Leben des Dorfes gewichen“.

Und die Landwirtschaft hatte man sukzessive mit den staatlichen Subventionen zur Förderung konkurrenzfähiger Agrarbetriebe aus den Dörfern vertrieben. Weit über 100.000 Bauern gaben nach 1945 in Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern alljährlich auf. Heute sind es allein in Deutschland noch 10.000 jährlich. Und ein Ende dieses Konzentrationsprozesses und damit der industriellen Tier- und Pflanzenproduktion ist nicht in Sicht. Was in der Sowjetunion die Kulakenvernichtung hieß, war und ist in Westeuropa die Vertreibung der Kleinbauern. Die „Bauernkultur“ erlebte in der Mitte des 19.Jahrhunderts ihr letztes „großes Feuerwerk“, danach begann – mit der Mechanisierung – ihr Niedergang.

Im Mai 1940 setzten auch etliche Jorwerder „Bauern in ihrer Armut all ihre Hoffnungen (noch einmal) auf die neue Ordnung…Minne und seine Mutter traten begeistert den Nationalsozialisten bei, Lammert hatte sich sogar den Schwarzhemden angeschlossen“. Sietske, Fedde und Pieter versteckten dagegen untergetauchte Juden auf ihren Höfen: „Wir haben viel Spaß miteinander gehabt“. Dafür wurden sie nach dem Krieg in Israel geehrt, Lammert wurde zum Tode verurteilt, später jedoch begnadigt.

In den darauffolgenden Wiederaufbaujahren registrierten die Bauern die Brüche immer individueller: Für Sake Castelein war es die erste Melkmaschine, mit der „die Gemütlichkeit auf dem Hof innerhalb von ein paar Jahren verloren ging“. Für Bonne Hijlkema war es der erste Trecker 1960, und für Cor Wieddijk der erste Liegeboxen-Laufstall für die Kühe. Überhaupt wurde alles mehr und mehr auf Milchwirtschaft ausgerichtet. In Leeuwarden, dem regionalen Viehmarkt, stellte man ein großes Denkmal für eine Kuh auf, die von den Friesen sehr indisch „Unsere Mutter“ – „Us Mem“ – genannt wird. Nichtsdestotrotz verschwanden die Kühe von der Weide – und wurden bald ganzjährig im Stall gehalten, zudem derart hochgezüchtet, daß kein Tier mehr länger als drei bis vier Jahre seine „Milchleistung“ hielt. Auch das bukolische Heumachen gab es bald nicht mehr, stattdessen lagen überall mit schwarzer Plastikfolie abgedeckte Feldsilos. Schließlich floß selbst für landlose Schweinebauern und Hühnerzüchter „das Geld in Strömen“: ihre Kinder „fuhren mit dem Mercedes zur Landwirtschaftsschule“. Wegen der wachsenden Überproduktion zog die EU-Landwirtschaftspolitik die Notbremse: Es gab Abschlachtprämien für Kühe – und festgelegte Milchquoten. Die kleinen Milchbauern gaben auf – und verkauften ihre Quote: Noch „Mitte der Neunzigerjahre stellten in den Niederlanden durchschnittlich sechs Viehhalter pro Tag ihren Betrieb ein“. Inzwischen gibt es auch eine Mistquote. Und es mehren sich die Fälle von Viehverwahrlosung – „Früher hatte ein Kuh immer recht“. Jetzt ist sie ein Produktionsfaktor, so wie auch das Land, für das immer mehr „Naturpläne“ aufgestellt werden: „Manche Grundstücke wurden zu Biosphärenreservaten erklärt – und der Bauer erhielt eine Kompensation“. Es wurden sogar Planierraupen eingesetzt, um den fruchtbaren Ackerboden zu entfernen und das Terrain wieder künstlich karg zu machen.

„Immer mehr Menschen erwarben sich ihren Reichtum durch Worte, durch Papier und abstrakte Geschäfte“. Dabei schien die Stabilität in der Provinz einer „heimlichen Panik“ zu weichen. Früher wurde man hier umgekehrt wie in der Stadt ausgelacht, wenn man einer Mode folgte. Heute wird auch auf dem Land „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“. Feriendörfer, Yachthafen, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village.

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Etwa zur selben Zeit beschloß ich, von der US-Ökobewegung ebenso beeinflußt wie von der chinesischen Kulturrevolution, in der Landwirtschaft zu arbeiten – als Wanderknecht, heute sagt man: einspringender Betriebshelfer. In der Wesermarsch blieb ich einmal ein Jahr bei einem Bauern: D.

Eigentlich sollte ich ihm bloß einige Wochen lang bei der Ernte helfen. Aber D. war ein guter Ausbilder – und Kumpel. Sogar um mein Pferd bekümmerte er sich: Er besorgte ein Pony, damit es nicht so alleine auf der Weide stand. D. bewirtschaftete einen 100-Hektarhof, der seiner Frau E. gehörte. Sie spielte in der Kreishandball-Liga. D. traf sich währenddessen immer mit K., der Tochter eines Knechts aus dem Nachbardorf. Als ich bei ihm anfing zu arbeiten, trat er sie jedoch quasi an mich ab. Im Morgengrauen, nach einem Dorffest, gingen K. und ich an den Deich und küssten uns. Dort stand ein kleines windschiefes Haus, das früher drei alten Frauen gehört hatte, die ein Bordell für Flußschiffer betrieben. Danach mieteten es vier junge Feministinnen aus Bremen. Sie waren selten dort, ich kannte sie aber – über D., der ihnen manchmal Geräte lieh. Sie experimentierten mit Volksmedizin, sammelten Kräuterdrogen und trieben ihre Schwangerschaften selbst ab – mit einer Fahrradluftpumpe. Irgendwann fingen sie dann ein Medizinstudium in Hamburg an und kamen nur noch selten in ihre „Hexenhütte“ am Deich. K. und ich drangen in ihr Haus ein. Ich ging davon aus, daß die vier Frauen mir einen kleinen Einbruch nicht übelnehmen würden. Danach trafen K. und ich uns regelmäßig. Meistens kam sie im Dunkeln an mein Zimmerfenster, das sich im Erdgeschoß des Wohnhauses von D. und E. befand, und stieg dann zu mir ins Bett. Sie machte eine Lehre als Tischlerin in der Kreisstadt. Wenn wir zu laut wurden, stellte E. nebenan im Wohnzimmer taktvollerweise den Fernseher lauter oder verließ den Raum.

D. saß abends meist in der Kneipe. Es gab zwei im Dorf: eine für Bauern, eine für Knechte, und darüberhinaus noch Annis – nichtangemeldeten – Küchen- Ausschank. Dort saß Dirk am Liebsten. Meistens gingen wir nach der Arbeit erst mal zusammen in die Knechts-Kneipe. Bevor ich zu betrunken und müde wurde, verließ ich ihn aber. D. rief mir dann nach: „Sag E., ich komme auch gleich!“ Die Knechts-Kneipe wurde von A. und seiner Freundin L. bewirtschaftet. Sie arbeitete nebenbei noch auf einer Autobahnraststätte. A. machte mit D. Lohndrusch-Geschäfte und trank gerne mit ihm. Zu Hause mußte ich manchmal E. trösten. Ich half ihr beim Abwasch und plötzlich fing sie an zu weinen. Erschrocken streichelte ich ihr die Schulter. Einmal hackte ich mit ihr und zwei anderen Frauen aus dem Dorf ein 10-Hektar-Zuckerrübenfeld. Am Ende jeder vierten Reihe hatten sie eine Doppelkorn-Flasche zu stehen. Am Ende unserer Arbeit wußte ich, wer wen mit wem im Dorf betrog. Gelegentlich traf sich D. nachts noch mit K., das machte mich irgendwann eifersüchtig. Einmal waren die beiden zusammen auf dem Heuboden – und ich mußte sie von unten am Förderband mit Heuballen bedienen. Um sie beschäftigt zu halten, beförderte ich die Ballen immer schneller hoch, ich schuftete wie ein Stachanowist, und stellte an dem Tag einen neuen Ballenrekord auf. Nur war ich hinterher völlig fertig.

D. brachte mir alles mögliche bei – schweißen, mauern, tischlern, Geräte reparieren, und wie man z.B. den Traktor rückwärts fahren läßt und dann selbst den Anhänger ranhängen kann. Auf die Weise konnte man alleine aufs Feld rausfahren. Ich lernte auch, Ferkel zu kastrieren und den Tieren Spritzen zu geben. Einmal fuhren wir nach Lüneburg und bauten in einem pleitegegangenen Heide-Schweinemasthof für 100.000 DM Futterautomaten aus. D. behauptete, es wäre alles rechtens. Ständig mußte irgendetwas besorgt, umgebaut oder ausgebaut werden. „Der Betrieb läuft noch nicht rund,“ erklärte er mir immer wieder.

Auf dem Hof des Schwiegervaters versammelten sich im Herbst die Frauen des Dorfes um E. und schlachteten gemeinsam ihr Geflügel. Sie standen in einer Wolke von Federn und Blut, tranken Korn und machten böse Bemerkungen über alle Männer, die dort vorbei kamen. Je nach Alter: witzig, ironisch oder zynisch. Auch ich bekam mein Fett ab. Ein Polizist aus der Kreisstadt hatte im Jagdverein damit geprahlt, daß er öfter mit K. schlafen würde. Der eingeheiratete D. wollte daraufhin – durchaus klassenbewußt, er war Sozialdemokrat – die Ehre der Knechtstochter K. wiederherstellen, konnte sich dabei jedoch begreiflicherweise nicht richtig ins Zeug legen. Irgendwie schaffte er es dann aber doch – mit A.s Hilfe. Das hatte jedoch nur zur Folge, daß der Polizist fortan hinter mir her war: Immer wieder kontrollierte er mich, wenn ich mit D.s Opel unterwegs war. K. war ein prima Kumpel und sie erregte mich zudem, wenn ich sie nur ansah. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß sie mich nicht ganz für voll nahm.

Vielleicht lag es an dem komplizierten Herr-Knecht-Verhältnis, ganz sicher aber auch daran, wie ich in der Wesermarsch war: Es sollte nur eine kurze Etappe für mich sein und ich schwankte zwischen Über- und Unteridentifizierung mit D.s Landwirtschaft. Um mich länger zu halten, gab er mir gelegentlich ein Schwein zum Grundlohn dazu, das ich auf eigene Rechnung verkaufte. Außerdem meldete er mich bei der Berufsgenossenschaft als „Betriebshelfer“ an, als sein Schwiegervater eine Kur bewilligt bekam. An meiner Arbeit änderte sich dadurch nichts, aber ich bekam mehr Geld dafür. An sich brauchte ich aber nichts. Alles, bis hin zum Tabak, besorgte E., und in den Kneipen zahlte D.. Wenn ich ihm bis morgens Gesellschaft leistete, sagte er: „Lange Tage, kurze Nächte/ das ist was für Bauernknechte!“ Er weckte mich jedoch immer erst um sieben, obwohl es schon um sechs mit dem Füttern losging. D. beabsichtigte, über kurz oder lang die Regie für beide Höfe vom Schwiegervater übertragen zu bekommen, aber der, obwohl bereits alt, zögerte noch. Sie stritten sich oft. Ich sollte vermitteln. Der Schwiegervater versuchte, mich auf seine Seite zu ziehen, aber ich fand ihn hinterhältig. Ihm waren einst bei Stalingrad die Zehen abgefroren.

Ein Mädchen aus der Nachbarschaft, B, schien sich für mich zu interessieren. Sie hatte schwellende Formen und einen Silberblick. Wir trafen uns an einer Feldweg-Kreuzung, wo sie Brombeeren pflückte. Auch sie hatte angeblich mal was mit D. gehabt: Zusammen mit der Tochter des reichsten Bauern im Dorf, der für die CDU im Landkreis saß, hatte sie mit D. und A. sowie einigen anderen Jungbauern auf der Damentoilette der Knechts-Kneipe rumgemacht. D. selbst hatte dies mir gegenüber einmal angedeutet. Wobei sich mir erneut die Vorstellung eines derb-geilen Abenteuers aufgedrängt hatte – das in beschämendem Kontrast zu meinen eigenen harmlosen Zärtlichkeiten stand. Selbst der CDU-Landrat haute an der Theke der Bauern-Kneipe seiner Tochter wie eine Stute auf die Schenkel. Alles erregte mich, sogar wenn ich mein Pferd auf der Weide besuchte und meine Nase in ihr wohlriechendes Fell drückte.

Manchmal saßen wir – E., D. und ich – aber auch ganz harmlos und harmonisch abends im Wohnzimmer, tranken Tee, kuckten Fernsehen und diskutierten neue Anbauvorhaben, erwogen ihr Für und Wider. Einmal bezahlte die beiden mir sogar die Druckkosten für ein Flugblatt, das ich dann auf dem Tunix-Kongreß 1978 in Berlin verteilte, vorher halfen sie mir auch noch beim Zusammenfalten der 2000 Din-A-Drei-Blätter.

Es hätte endlos so weitergehen können. Im Spätherbst schaffte ich es dennoch, mich endlich aufzuraffen – und mit dem Pferd weiter zu ziehen: in Richtung Süden. Zwar arbeitete ich dann im darauffolgenden Jahr noch einmal einige Wochen bei D. und E. auf dem Hof, aber dies mal ohne rechten Schwung. Dann brachte ich das Pferd zu Freunden in die Toskana und kaufte anschließend mit einer Freundin zusammen in Norddeutschland einen Traktor und einen Wohnwagen, den wir dort dann ausbauten. Anschließend machten wir uns mit dem Gespann wieder auf den Weg – erneut in Richtung Süden, wobei wir bis in den oberhessischen Vogelsberg kamen. Von D. und E. hörte ich nie wieder etwas – bis 2004. Da saß ich in Berlin am Computer und bekam eine Email von einem Bernd Ohm: Er fragte mich darin, ob ich derjenige sei, der in den Siebzigerjahren mal in der Wesermarsch in M. gewohnt habe und dann im Nachbardorf bei D. und E. eine zeitlang gearbeitet hätte. Er frage deswegen, weil er selber aus M. stamme und eine Cousine habe, N., die nun mit D. verheiratet sei, nachdem seine erste Frau E. ihn verlassen hatte. Sie sei danach mit einem Wohnwagen umhergezogen und irgendwann verschwunden. Ich schrieb ihm, er müsse da was verwechselt haben: Ich sei derjenige gewesen, der mit einem Wohnwagen Anfang der Achtzigerjahre losgezogen sei. Ob er sich nicht noch einmal erkundigen könne, bei seiner Cousine, was mit E. damals, nach ihrer Trennung von D., wirklich passiert sei, das würde mich sehr interessieren.

Es dauerte einige Wochen, bis ich von Bernd Ohm eine Antwort bekam: „Ich habe nur ein bisschen in Erfahrung bringen können: D und E. haben sich damals zerstritten, weil E. den Hof auf ökologischen Landbau umstellen wollte, wogegen er sich aber wehrte. Das muss in den späten 80ern gewesen sein, weil die Kinder damals schon „aus dem Gröbsten heraus“ gewesen sein sollen (sie leben übrigens heute beide in Hamburg, die Tochter scheint auch schon verheiratet zu sein), und E. hat sich wohl ausbezahlen lassen, weil seitdem ihre Schwester den Hof bewirtschaftet. D. hat sich im Dorf dann einen anderen Hof gekauft (oder gepachtet) und meine Cousine N. als Haushälterin angestellt, eine Beziehung, die dann offenbar irgendwann auf Schlafzimmer und Standesamt ausgedehnt wurde. Meiner Mutter zufolge hat E. dann noch ein paar Jahre in der Gegend gelebt und ist tatsächlich im Wohnwagen von WG zu WG gezogen – unter anderem für längere Zeit zu einer in Oiste, wo heute die Schwester von jemandem wohnt, den ich hier in Berlin aus meiner Zen-Gruppe kenne, il mondo é paese, nicht wahr?

Meine Mutter ist 74, natürlich ein bisschen konservativ eingestellt (alte Hinterpommerin) und kann sich noch sehr gut an den für sie eher ungewöhnlichen Kleidungsstil E.s aus jener Zeit erinnern („die lief da in Hoya rum wie die Zigeunerbraut“, na ja, kennen Sie ja sicher, die Einstellung…), ich glaube also schon, dass da keine Verwechslung mit Ihnen vorliegt. Wie Sie sehen können – Dallas ist ein Kindergarten gegen die Wesermarsch. Wo E. heute lebt, konnte ich leider nicht so genau in Erfahrung bringen, außer dass sie irgendwann „ins Rheinland“ gezogen sei, aber ich fürchte, der durchschnittliche Zentralniedersachse bezeichnet mit diesem Begriff einen Landstrich, der sich ungefähr von Bielefeld bis Darmstadt erstreckt. Falls ich doch noch Genaueres höre, sage ich sofort Bescheid! Ich finde es übrigens sehr interessant, von Ihnen ein bisschen über die Vorgeschichte der alternativen Szene in unserer Gegend zu erfahren. Bei meinen Recherchen musste ich feststellen, dass es doch noch eine ganze Menge Land-WGs dort gibt (Sven Giegold von attac z.B. scheint in K. zu leben), was besonders meine Frau freut, die ursprünglich aus Essen kommt, fast 20 Jahre in Kreuzberg gelebt hat und schon ein wenig Bammel vor dem Landleben hat, das wir in M. führen wollen, sobald dort das Haus umgebaut ist.

Das kleine Häuschen am Deich gibt es übrigens auch noch, einer der letzten WG-Bewohner, den Namen habe ich gerade nicht parat, lebt immer noch dort und betreibt da eine Öko- Tischlerei. Überhaupt ist man insgesamt viel toleranter Zugezogenen gegenüber geworden, ich war ja noch ziemlich klein damals, aber der Tratsch über Ihre Landkommune in M. ist mir noch ganz gut in Erinnerung („Die Frauen sitzen da ohne BH bei Post am Tresen!“ – „Die lassen da Ziegen rumlaufen und den Rasen fressen!“ – „De schmökt da Haschisch, düsse verdreckten Gammlers!“). Gott sei Dank, kann ich sagen, sonst würde ich gar nicht daran denken, zurückzugehen, was wir ja demnächst vorhaben.“

Inzwischen haben Bernd Ohm und ich schon mehrere Emails ausgetauscht und er hat auch noch mal mit seiner Cousine K., die jetzt mit D. zusammen lebt, geredet, sowie weitere Erkundigungen eingezogen, aber E.s derzeitiger Aufenthaltsort ist noch immer unbekannt. Meine Hochachtung vor ihrem Aus- und Aufbruch ist derweil immer mehr gestiegen.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/09/15/uberfriesen-3/

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