In moralischer und/oder künstlerischer Hinsicht fächert sich der Widerstand von Einzelnen derart aus, dass es sich verlohnt, ihren Schleichwegen hier und da zu folgen. In Deutschland – anders als in den slawischen und den romanischen Ländern – entwickelte sich nach all den niedergeschlagenen Volksaufständen (seit dem Bauernkrieg) und den zwei „verlorenen“ Weltkriegen nach 1945 eine eigene Theorie dieses Widerstands.
„Bei manchen ist es schon eine Lüge, wenn sie Ich sagen“, klagte Adorno. Lévy-Strauss war sich sicher: „Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen einem Wir und dem Nichts.“ Und Antonin Artaud behauptete kurz und knapp: „Ich ist eine Sauerei!“ Demgegenüber begriffen z.B. die kerndeutschen Schriftsteller Ernst Jünger und Rolf Schroers den „Partisanen“ vor allem als ichstarken Einzelkämpfer – gegen die amerikanisch dominierte Nachkriegsmoderne. Neuerdings werden auch der Dramatiker Heiner Müller und der Künstler Joseph Beuys dazu gezählt bzw. als „Partisanen der Utopie“ bezeichnet (in einem gleichnamigen Buch). Und während der jesuitische Sozialforscher Michel de Certeau den Überlebenskampf des „kleinen Mannes“ in den modernen Großstädten als fortwährenden, quasi ichlosen partisanischen Akt begriff, ist für den Heiner-Müller-Schüler Thomas Martin inzwischen schon jeder „Berliner“ ein Partisan – das heißt ein Jüngerscher „Waldgänger“ im Großstadtdschungel.
Da jedoch der partisanische Widerstand in einen Volksaufstand gipfeln soll (und muß), ist die „Organisation der Massen“, sind kollektive Aktionen wichtiger als jeder individuelle Terrorakt, der bestenfalls ein „Fanal“ sein kann. Darauf hat bereits Carl Schmitt hingewiesen – als er den Partisanenbegriff von Jünger und Schroers kritisierte, und später noch einmal, als er die Begrenztheit des bolschewistischen Partisanenbegriffs gegenüber dem von Mao tse tung hervorhob. Dennoch kommt auch dem individuellen Widerstand bisweilen eine aufklärerisch-organisierende Funktion zukommt, die unter bestimmten Umständen sogar „gewaltig“ sein kann.
1. Die Selbstverbrennung
Beinahe täglich überschüttet sich heute irgendwo auf der Welt – vor einem Gericht, auf einem Marktplatz, in einem Rathaus oder Finanzamt – ein Mensch in äußerster Bedrängnis mit Benzin und zündet sich an. Nur die wenigsten tauchen hernach kurz in einer Nachricht namentlich auf. Alle zusammen bilden sie jedoch bereits eine große Protestbewegung, die mit dem eigenen Tod für ein menschenwürdigeres Leben einsteht. Manchmal hinterlassen die Täter-Opfer einen Brief, in dem sie versichern, dass sie nicht verrückt sind. Das Phänomen begann spätestens mit dem „ersten Medienkrieg“ der Geschichte:
Am 11.Juni 1963 verbrannte sich in Hué der buddhistische Mönch Thich Quang Duc – aus Protest gegen den „Vietnamkrieg“ der Amerikaner und die Politik ihrer Marionettenregierung in Saigon. Seine Selbstverbrennung wurde von einem Fernsehteam gefilmt, dessen Aufnahmen hernach überall auf der Welt ausgestrahlt wurden. Thich Quang Duc folgten in den darauffolgenden Jahren einige weitere vietnamesische Mönche. Zu den Augenzeugen der Selbstverbrennung von Thich Quang Duc gehörte der US-Reporter David Halberstam, er berichtete: „Flammen schlugen aus einem Menschen empor; sein Körper verdorrte und schrumpfte langsam, sein Kopf schwärzte sich und verkohlte. Der Geruch brennenden Menschenfleisches lag in der Luft; Menschen brennen verblüffend schnell. Hinter mir konnte ich das Schluchzen der Vietnamesen vernehmen, die sich nun zusammenfanden. Ich war zu erschüttert, um zu weinen, zu durcheinander, um mir Notizen zu machen oder Fragen zu stellen, sogar zu bestürzt, um überhaupt zu denken … Während er brannte, bewegte er keinen einzigen Muskel, gab keinen Laut von sich und bildete damit durch seine sichtliche Gefasstheit einen scharfen Gegensatz zu den klagenden Leuten um ihn herum.“
In Warschau verbrannte sich am 8. September 1968 der ehemalige Partisan der Heimatarmee (AK) Ryszard Siwiec während des nationalen „Erntedankfestesfestes“ auf einer Tribüne im vollbesetzten Stadion von Praga, dem heutigen „Jarmark Europa“. Ryszard Siwiec wollte damit gegen die antisemitische Kampagne der Regierung und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei protestieren. Seine Selbstverbrennung wurde vom staatlichen Fernsehen aufgenommen, jedoch nie gesendet.
Erst 1991 fand sich ein Regisseur, Maciej Drygas, der sich um das Material kümmerte und daraus einen Film machte: „Uslyszcie moj Krzyk“ (Höre meinen Schrei). Drygas suchte darin nach den Gründen für diese außergewöhnliche und extreme Tat, wobei die Dramatik seines Films dem Ereignis seine maximale Aufmerksamkeit zurück zu geben versuchte. In den Archiven war der Vorfall als „Unfall“ abgelegt worden – Siewiec galt als „Verrückter“ und „Psychopath aus Przemysl“, über seine Tat durfte nicht berichtet werden. Den Feuerwehrleuten, die man für ihren Einsatz belohnte, sagte man, es handelte sich um die Tat eines „Unzufriedenen, eines „Systemfeindes“. Eine im Stadion passiv gebliebene Zuschauerin entschuldigt sich fast: „Ich habe erst später von all diesen Ungerechtigkeiten – Katyn und so – erfahren“. Im Film kommen außer Augenzeugen vor allem Leute zu Wort, die ihn näher kannten, u.a. seine Frau und seine fünf Kinder. Sie bezeichnen ihn als schweigsam und bibliophil. „Als die Studenten 1968 von den so genannten Arbeitern verprügelt wurden, fühlte er sich selbst angegriffen. Er hasste das Regime und wollte für die polnische Sache kämpfen“. Einem seiner Söhne hinterließ er „Gegenstände aus dem Warschauer Aufstand“, die Selbstverbrennung seines Vaters nennt dieser „eine große Heldentat“.
Der 1909 geborene Siewiec hatte Philosophie studiert und arbeitete zuletzt als Buchhalter, nebenbei züchtete er Hühner und besaß einen Garten. Am Tag der Tat bat er seine Frau, seinen Anzug zu bügeln, er müsse auf eine Dienstreise. Sie sagt, er war ein Unbedingter, „so aufrecht, dass man es kaum ertragen konnte. Beim letzten gemeinsamen Weihnachtsfest saß er schon wie ein Fremdkörper in der Familie.“ Im Zug nach Warschau schrieb er ihr einen Abschiedsbrief, u.a. hieß es darin: „Ich fühle mich stark“. In seiner Tasche hatte Siwiec Flugblätter dabei, in denen er erklärte, seine Selbstverbrennung geschehe aus Protest gegen die Sowjetunion und ihre verbrecherische Diktatur. Den Text hatte er zwei Tage zuvor auch auf ein Tonband gesprochen, das er hinterließ, es endete mit den Worten: „Hört meinen Schrei!“. Zuvor hatte er bereits mehrere andere Flugblätter auf seiner Schreibmaschine verfaßt. Als er brannte, schrie er mehrmals „Weg mit Gomulka!“ Der Priester und Philosoph Jozef Tischner erklärte dazu im Film: „Indem er es den buddhistischen Mönchen nachtat, vollzog er einen Akt der Selbstvernichtung, der gleichzeitig ein schöpferischer Akt war.“ Ein TV-Reporter, der damals das Erntedankfest im Stadion kommentierte und Siwiec brennen sah, meint dagegen im Film: „Das war für mich ein relativ wirkungsloser Protest“ – denn das Fest wurde nicht unterbrochen. Geschmückte Frauen auf den Schultern von ebenfalls folkloristisch gekleideten Männern winkten den Prominenten auf der Ehrentribüne mit Papierblumensträußen zu. Ein Brot wurde von einer Delegation mit Gomulka in der Mitte auf einen Gabentisch gelegt. Hunderte von Jungen und Mädchen tanzten Krakowiak und Mazurka. Sie hörten auch nicht damit auf, als wenige Meter entfernt von ihnen Siewic brannte und die ihm nächst stehenden Zuschauer versuchten, das Feuer mit ihren Jacken zu löschen. „Die Musik war zu laut, um seine Rufe zu verstehen“. Quälend lang werden diese nun von Drygas gezeigt – mit einem gleichsam Edvard Munch nachempfundenen Schrei ohne Ton endet der Film. Siwiec lag noch vier Tage im Krankenhaus, bis er am 12.September starb. Erst im Mai 1969 verbreitete Radio Free Europa die Nachricht von seiner Selbstverbrennung.
Nachdem Maciej Drygas 1991 den Film darüber gezeigt hatte, dauerte es noch einmal 12 Jahre, bis der gewendete Kommunist Alexander Kwasniewski als Staatspräsident Riyszard Siwiec posthum einen Orden verlieh. Dieser wurde von der Familie des Toten jedoch zurückgewiesen. Inzwischen hat man im Stadion von Praga eine Gedenktafel angebracht und am 4. September 2006 wurde Siwiec ein Orden von der Slowakei verliehen, den seine Kinder in Empfang nahmen. Sie bedankten sich außerdem bei Drygas für den Film über ihren Vater.
In Polen erschien 2006 ein Roman „Weder Fisch noch Fleisch“ (Ni pies, ni wydra) von Viktoria Korb – über das Jahr 68. Die Autorin war als aufmüpfige Studentin und Jüdin im „März 1968“ ein Opfer der antisemitischen Kampagne der polnischen Arbeiterpartei geworden – und daraufhin nach Westberlin emigriert. An einer Stelle erwähnt die Autorin kurz, dass davon gesprochen wurde, im Stadion von Praga habe sich angeblich jemand aus Protest gegen die Politik der Regierung und der Invasion in der CSSR verbrannt. Dazu erklärte sie mir jetzt: „Damals war dieses Hinausdrängen der Juden, die wir uns zuvor überhaupt keine Gedanken über unser Juden-Sein gemacht hatten, so erschütternd, dass wir diese Selbstverbrennung nur ganz am Rande als Gerücht oder Nachricht wahrnahmen, und deswegen habe ich es im Roman auch nur so kurz erwähnt.“
Ebenfalls aus Protest gegen den Einmarsch der Roten Armeen in der Tschechoslowakei verbrannte sich im Januar 1969 auf dem Wenzelsplatz in Prag der Philosophiestudent Jan Pallach. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Meine Tat hat ihren Sinn erfüllt. Aber niemand sollte sie wiederholen.“ Die Regierung versuchte danach – stets vergeblich – zu verhindern, dass man seiner alljährlich am 16.1. öffentlich gedachte und bemühte sich im übrigen, die Mär zu verbreiten, dass hinter seiner Tat eine ganze (konterrevolutionäre) Gruppe stecke, deren Opfer Pallach quasi geworden war. Erst nach 1989 wagte es die Ärztin, die ihn bis zu seinem Tod behandelt hatte, über ihre auf Tonband aufgezeichneten Gespräche mit Pallach öffentlich zu berichten: Danach hatte er ihr gesagt, dass er seine Tat bei vollem Bewußtsein ausgeführt habe und dass es keine Hintermänner oder Komplizen gäbe. Inzwischen wurde der Platz vor der philosophischen Fakultät der Prager Universität nach ihm benannt und eine Tafel am Gebäude angebracht, dass an ihn und seine Tat erinnert.
Weniger bekannt als Jan Pallach ist der Student Jan Zajic, der sich – ebenfalls aus Protest gegen die sowjetische Besetzung seines Landes – einen Monat später als „Fackel Nr. 2“ auf dem Wenzelsplatz mit Benzin übergoß und verbrannte. In seinem Abschiedsbrief an seine Eltern und Geschwister schrieb er: „Nehmt es mir nicht übel. Wir sind in der Welt leider nicht alleine! Ich tue es nicht deswegen, weil ich lebensmüde bin! Ich tue es deswegen, weil ich das Leben so hoch schätze! Ich hoffe, ich werde das Leben mit meiner Tat besser machen! Ich kenne den Preis des Lebens! Ich weiß, dass es das teuerste ist!“ Heute erinnert eine Gedenkstätte vor dem Nationalmuseum an ihn. Wieder zwei Monate später, am 4.April 1969, verbrannte sich der Arbeiter Evzen Plocek auf dem Marktplatz von Jihlava – aus den selben Gründen, doch weil diese Tat in der Provinz geschah, blieb Plocek noch unbekannter als Zaciz.
1976 verbrannte sich in Zeitz der Pfarrer Oskar Brüsewitz – gleichfalls aus Protest gegen die kommunistische Staatspolitik. In seinem Abschiedsbrief deutete er an, dass für ihn der „Kampf“ zwischen Christentum und Kommunismus einer zwischen „Licht und Finsternis“ sei. Mit seiner Selbstverbrennung wollte er in dieser Auseinandersetzung Stellung beziehen. Im Frühjahr 2006 erschien ein Buch von Karsten Krampitz u.a.: „Erinnerungen an Oskar Brüsewitz“. Außerdem tauchte im Internet eine Wikipedia-Eintragung zum Thema „Selbstverbrennung“ auf, wo es etwas dumpf heißt: „Die Selbstverbrennung ist eine extrem schmerzhafte und wenig erfolgversprechende Suizidmethode.“
Im März 1980 verbrannte sich in Krakau, an einen Brunnen des Hauptmarkts, gekettet ein älterer Mann namens Walenty Badylak. Mit seiner Tat wollte er gegen die Demoralisierung der Jugend, gegen die Vernichtung der ehrlichen Handarbeit und gegen das Schweigen über „Katyn“ protestieren.
Dort – in einem Wald bei Smolensk – hatten zu Beginn des Jahres 1940 Einheiten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD mehrere Tausend polnische Offiziere und Zivilisten ermordet. Die kommunistische Propaganda machte für das Massaker stets die Deutschen verantwortlich, die 1939 Polen überfielen – und Millionen töteten. Erst 1990 gab Michail Gorbatschow die sowjetische Alleinschuld an „Katyn“ zu. Seitdem gibt es auch einige DDR-Historiker, die Bücher über „Die Wahrheit von Katyn“ veröffentlichen, darüberhinaus erschien im Dietz-Verlag 1991 Czeslaw Madajcyzyks „Drama von Katyn“ auf Deutsch. Die Selbstverbrennung, so sie bekannt und medial verbreitet wird, gilt als eine heldenhafte Form von Protest. Walenty Badylak tötete sich sozusagen für die Wahrheit von „Katyn“.
Aber dann wurde – mit dem Zusammenbruch des Kommunismus – mehr und mehr das Private politisch. Weil seine Familie aus Deutschland abgeschoben werden sollte, verbrannte sich 2003 der Roma-Flüchtling Lata Aradinovic im Foyer des Rathauses der norddeutschen Kreisstadt Syke.
Im selben Jahr verbrannten sich zwei tschechische Studenten, kurz zuvor hatten sich bereits drei andere junge Tschechen mit Benzin übergossen und angezündet. Damit hatten sich in den ersten vier Monaten des Jahres 2003 bereits so viele junge Tschechen verbrannt wie zwischen 1996 und 2002. Die Diskussion in der Öffentlichkeit konzentrierte sich dann vor allem auf den Selbstmord des 19jährigen Zdenek Adamec, der sich im März 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz angezündet hatte. Der „Computerfreak aus Ostböhmen“ (taz) hatte als Grund für seinen Selbstmord u.a. „Unzufriedenheit mit den Zuständen“ in Tschechien angegeben: „Bitte macht keinen Verrückten aus mir,“ schloss er seinen Abschiedsbrief. Der tschechische Psychologe Petr Brickcin sprach im Zusammenhang der Selbstmordwelle in seinem Land von einer „gesamtgesellschaftlichen Depression“, die Selbstverbrennung bezeichnet er als das Verlangen, „beachtet zu werden“.
Am 9.März 1995 zündete sich der in die USA emigrierte und dort obdachlos gewordene ehemalige polnische Förster Zbigniew K. aus Augustow in Manhattan – in den Räumen des Roten Kreuzes – an. Viele Mitglieder seiner Gemeinde, die der Arbeit wegen nach Amerika auswanderten, kämen „in Metallsärgen zurück“, meint der Pfarrer in Augustow.
2004 versuchten fünf Falungong-Anhänger aus Kaifeng, sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zu verbrennen, wobei eine der Beteiligten wenig später im Krankenhaus starb. Während die Falungong-Gesellschaften von einem staatlich inszenierten Attentat sprechen, vermutet die Regierung laut ihrer Botschaft in Berlin, dass der Sektenführer Li Hongzhi sie in den Selbstmord getrieben habe. Dies wird bei Massenselbstmorden von Sekten oder sektenähnlichen Organisationen fast immer vermutet bzw. unterstellt. Beginnend spätestens 1978 mit der Selbsttötung von 921 Anhängern der Jim-Jones-Sekte in der guayanischen Urwaldsiedlung Jonestown. 2005 erschien dazu der Bericht einer Überlebenden – auf Deutsch: „Selbstmord im Paradies“. Zwischen 1994 und 1997 brachten sich ferner 82 Mitglieder der Sonnentempler in der Schweiz, in Frankreich und in Kanada um. 2000 verübten in Uganda sogar über 1000 Anhänger der „Bewegung zur Wiedereinführung der zehn Gebote“ kollektiven Selbstmord. In Indien verbrannten sich kürzlich ebenfalls mehrere Anhänger einer Sekte.
Für die bürgerliche Presse gehören auch noch die Selbstverbrennungen von PKK-Mitgliedern nach der Verhaftung ihres Vorsitzenden Öcalan in diese Reihe, ebenso wie die Selbstverbrennungen von Mitgliedern der iranischen Volksmujaheddin im Exil – aus Protest gegen die Regierungspolitik in Teheran. Neuerdings spielt dabei gelegentlich das Internet mit: In Japan verabreden sich z.B. immer mehr Jugendliche via Internet, um gemeinsam Selbstmord zu begehen. Und in Oregon wollte jüngst ein 26jähriger mithilfe von Webcams einen Massenselbstmord von 32 Personen koordinieren und realisieren. Schon gibt es einen kleinen Bestseller (in der Edition Lübbe) – mit dem Titel „Der wunderbare Massenselbstmord“, wie ebenso auch „Ratgeber“ zur Verhinderung von „spontanen Selbstverbrennungen“ – die „noch immer Rätsel aufgeben“.
In einigen Kulturkreisen sind sie zudem stärker verbreitet als in anderen – In Korea z.B.. Dort verbrannte sich 2002 ein Gewerkschaftsführer, nachdem sein Tarifabschluß mit Unternehmen der Stahlindustrie von den Arbeitern kritisiert worden war. Und jüngst verbrannte sich ein koreanischer Tiermediziner – um die durch die Fälschungen des „Klonforschers“ Hwang Woo Suk diskreditierte Gentechnik wieder zu rehabilitieren. Einer der bekanntesten koreanischen Schriftsteller Ko Un erzählt: Einen Bruch in seinem Leben gab es zur Zeit der Militärdiktatur unter Park Chung Hee. Er bezeichnet die öffentliche Selbstverbrennung des Textilarbeiters Chon Tae Il im November 1970 in Seoul als sein einschneidendstes Erlebnis, das ihn aus seinen damaligen Selbstzweifeln aufgeschreckt habe. Chon hatte sich aus Protest gegen die Verhinderung eines Arbeitsgesetztes durch die Regierung selbst angezündet. „Ich sah auf mich selbst zurück, wer ich bin,“ sagt Ko heute. Danach habe eine Schaffensphase eingesetzt, die vor allem durch ein politisch engagiertes, realistisches Schreiben gekennzeichnet sei.
Der kalifornische Autor Mike Davis kam 2005 in einem Essay über die Geschichte der Autobombe ebenfalls auf das Selbstbrandopfer zu sprechen – insofern die von der IRA quasi erfundenen Autobomben ab 1983 von der palästinensischen Hisbollah mit dem Selbstmord-Attentäter als „Kamikaze-Kämpfer“ bzw. Märtyrer verbunden wurden. Diese Form der Selbstverbrennung in einem explodierenden Auto, wobei es oftmals gerade darum geht, andere, d.h. möglichst viele Menschen, mit in den Tod zu reißen, wird heute im Irak und in einigen anderen islamischen Ländern fast täglich praktiziert. Sie ähnelt eher dem Amokläufer als dem Selbstmörder, der mit seiner öffentlichen Verbrennung gegen unzumutbare gesellschaftliche Zustände protestiert. Letzteren wird man auch kaum als Attentäter oder Terroristen bezeichnen. Dennoch deuten z.B. auch die Taten der amoklaufenden Schüler in Colombine und Erfurt noch direkt auf gesellschaftliches „Unrecht“ hin, wie das der ostdeutsche Schriftsteller Lutz Rathenow nannte – insofern sind sie auch ein Protest dagegen, der etwas bewirken, d.h. ändern will. Dem Westen ist die scheinbar leichte Sterbebereitschaft von jungen Islamisten zunehmend ein Rätsel, so dass immer mehr Psychogramme von Selbstmordattentätern veröffentlicht werden. Der in Deutschland lebende iranische Islamwissenschaftler Navid Kermani kommt in seinem Essay – „Dynamit des Geistes“ – zu dem Schluß: „Durch eine einzige, unbedingt öffentliche Tat gewinnt der Amoktäter ein Surrogat für das, was einer modernen Gesellschaft beinah per definitionem fehlt: ein umfassender Sinnzusammenhang, der dem Individuum seinen Platz zuweist…Aus der Nichtigkeit schwingt der Amoktäter sich auf zu Gott.“ Dies kommt dem nahe, was einer der Söhne von Riyszard Siwiec sagte: „Nur ein vereinsamter Mensch wie mein Vater war zu einer solchen Tat fähig“. Und seine Mutter erinnerte sich: „‚Zuerst kommt Gott, dann Vaterland und Familie‘, hat er immer gesagt.“
Auf der Bonner Hardthöhe erläuterte uns (als Wähler) bereits 1998 ein Bundeswehr-Major die neue NATO-Verteidigungsdoktrin – die gegen einen solchen oder ähnlichen „Sinnzusammenhang“ (N. Kermani) gerichtet ist: „Sie ist nicht mehr nach Rußland hin angelegt, die russischen Soldaten haben inzwischen die selbe Einstellung zum Krieg wie wir auch – sie wollen nicht sterben! Außerdem ist die Stationierung von Atomwaffen in Ungarn und Polen z.B. so gut wie gesichert, es geht eigentlich nur noch darum, wie viel wir dafür zahlen müssen. Ganz anders sieht es jedoch bei den Arabern aus, mit dem Islam. Deswegen verläuft die neue Verteidigungslinie jetzt auch“ – Ratsch zog er hinter sich eine neue Landkarte auf – „etwa hier: zwischen Marokko und Afghanistan“.
Abschließend sei noch hinzugefügt, dass es zwar auch in Russland gelegentlich Selbstverbrennungen gab – und auch noch gibt. So verbrannten sich z.B. mehrere Mitglieder einer Sekte im Kaukasus, wo es sowieso von Sekten wimmelt (bei einigen setzt die Mitgliedschaft sogar eine Selbstverstümmelung voraus). Vor allem kommt die Selbstverbrennung jedoch in der russischen Literatur und Kunst vor. In Andrej Platonows Erzählung „Die Frau des Kerosinverkäufers“ geht es um den „Traum“ einer öffentlichen Verbrennung; in einem neueren Roman des in München lebenden Autors Wladimir N. Woinowitsch versucht ein Mann einen Prominenten zu überreden, sich zu verbrennen, alles anders würde er für ihn erledigen; und der Moskauer Performancekünstler Oleg Kulik veranstaltete einmal an und mit sich eine „Verbrennungsaktion“, die wie viele seiner Aktionen schmerzhaft war. Die letzten Selbstverbrennungen – in Kirgistan, in der Ukraine und in Moskau, wo sich zwei Homosexuelle mit Benzin übergossen – wurden vereitelt. In der russischen Presse sind sie jedoch ein sozusagen ständiges Thema, wobei man die Selbstverbrennung gerne auf den neuen westlichen Einfluß zurückführt. Als genuin russisch wird dagegen das sich zu Tode saufen aus Protest begriffen, d.h. dass die Menschen sich innerlich statt äußerlich anzünden – verbrennen. Der dies thematisierende Roman „Die Reise nach Petuschkin“ von Wenedikt Jerofejew ist geradezu ein Kultbuch geworden – auch in Deutschland.
Hier nahmen einige Künstler auch die Aktionskunst eines Kulik in gewisser Weise bereits vorweg – beginnend mit dem Wiener Aktionismus, von denen einer, Rudolf Schwarzkogler, sich auf der Bühne selbst zu verstümmeltn pflegte. Er wird heute von der Zeitschrift „Wiener“ zu den „100 wichtigsten Österreichern“ gezählt.
2. Kampfmaschinen
Ende der Siebzigerjahre wurde nicht nur die deleuzianische „Wunschmaschine“ heftig diskutiert, es entstand mit der Punkbewegung auch eine „Industrial Music“. Damit kündigte sich insgesamt bereits der Abschied von der Produktionsgesellschaft an – indem der Rhythmus und der Lärm der großen Maschinen nun von einem Partypublikum in ihrer Freizeit goutiert wurden. Zur Berühmtheit brachte es dabei die 1975 von dem Arbeitersohn Genesis P-Orridge gegründete englische Band „Throbbing Gristle“, die aus der „Fluxus“-Bewegung kam und dann vor allem oberhalb der Schmerzgrenze experimentierte.
Der Westberliner Musiksatiriker Thomas Kapielski war einer von vielen, die sich davon inspirieren ließen: Er konterte u.a. mit einer Doppel-LP, wovon die eine aus einem Kreissäge-Blatt bestand. Seine Konzerte mit dem Musikforscher Frieder Butzmann endeten damit, dass sie einen Kleiderschrank umkippten. Überhaupt wurde es Anfang der Achtzigerjahre auf den Bühnen immer gefährlicher, zugleich stieg bei den Künstlern stetig der Stromverbrauch, weil sie immer mehr Maschinen auf die Bühne wuchteten. Zu den Synthesizer-Pionieren zählt u.a. der „Pyrolator“ , zu den „Schlagwerk“-Erfindern die Gruppe „Einstürzende Neubauten“.
Gleichzeitig öffneten sich für immer mehr verhinderte Working Class Heroes steile Musikerkarrieren, so daß die Handarbeit und überhaupt die körperliche Präsenz quasi automatisch immer wichtiger wurde. In der Sowjetunion hatte man schon einmal – in den Zwanzigerjahren – riesige „Industriekonzerte“ mit Hämmern, Stahlpressen und Sirenen komponiert. Damals jedoch zur Begrüßung des (siegreichen) russischen Proletariats auf der Weltbühne, nunmehr ging es – im Westen – um seine (schmähliche) Verabschiedung: als „Brassed Off“.
Den Gipfel der „Industrial Music“, wiewohl eher von Begeisterung für Sprengstoffe getragen, bildete die 1978 von Mark Pauline gegründete kalifornische Gruppe „Survival Research Lab,“ die auf ihren Bühnen – die zumeist leere Rollfelder oder Flugzeughallen waren – Maschinen gegen Maschinen stürmen ließen. Und zwar mit allen kriegerischen Schikanen: Motorsägen, Flammenwerfer und Kontaktzünder. Einem der Künstler riß einmal eine Kampfmaschine beim Zusammenbauen die halbe Hand ab. Die Zuschauer mußten einen Sicherheitsabstand wahren, trotzdem hatten es die Veranstalter nicht leicht: In vielen Ländern erlaubten die noch aus dem Zeiten des militanten Antikommunismus stammenden „Sprengstoffgesetze“ nur gleichsam jugendfreie Auftritte des Survival Research Labs. Schließlich verschickten die Kunstterroristen bloß noch Videos von ihren Veranstaltungen, die inzwischen – laut ihren „Webbys“ – zur „most dangerous show on Earth“ gediehen sind. Für den Test ihres neuesten Kunstwerks „Flame Hurricane“ suchte das SRL-Team 2005 wieder einmal „nahe der San Francisco Bay Area“ ein neues Freigelände. Den Zuschauern verspricht die Gruppe dort „Great Free Entertainment for an Outdoor Party“.
Und das ist nicht übertrieben: Im Maße die letzten Standorte der Schwerindustrie verrotteten, entwickelte das SRL die einst noch wie verzweifelt wirkenden Gladiatorenkämpfe seiner unbeholfenen Maschinen zu spielerischen Auseinandersetzungen intelligenter Kampfmobile weiter, die jetzt sogar mit künstlichen Blitzen um sich werfen und dabei wie Raubkatzen schnurren.Was Ibiza für die Technofans wurde, ist die Bay-Area inzwischen für die wachsende SRL-Gemeinde. Die SRL-Kunst wurde darüber reines Entertainment. Inzwischen kommen die Liebhaber dieser „Unterhaltung“ von überall – aus den deindustrialisierten Ländern – dort hin. Und so wie die Love-Parade anfangs ideenmäßig von Modedesignern geplündert wurde, lassen sich auch die ganzen Star-Wars-Designer von Hollywood regelmäßig von der „Most Dangerous SRL-Show“ inspirieren. Und nicht nur sie: die Leidenschaft für Kampfroboter hat längst auch die unteren Schichten erreicht.
In England wimmelt es geradezu von mehr oder weniger arbeitslosen Männer-Teams, die ihre letzten Weiterbildungen in Computerwissen und -anwendung nun dazu nutzen, um gemeinsam kuriose Kampfroboter zu basteln. Diese lassen sie anschließend – ähnlich wie die Besitzer von Kampfhunden oder -hähnen – aufeinander los. Der Höhepunkt dieser fast schon staatlich geförderten Garagen-Guerilla ist jedoch eine offizielle Teilnahme an der bereits in 27 Länder verkauften BBC-2-Freitagabendshow „Robot Wars“, in der die Teams mit ihren Maschinen um den Titel „Britaniens beliebtester automatischer Killer“ kämpfen. Die Verlierer landen im Schredder, von den Gewinnern kann man beim BBC-„Robotshop“ anschließend kinderzimmertaugliche Minimodelle bestellen. Sie heißen SRLmäßig „Firestorm“ oder auch – vom englischen Humor beseelt – „Wheely Big Cheese“. Die Londoner Studio-Sendung mit Zuschauerbeteiligung namens „Robot Wars“ wird ebenso wie die riesigen Outdoor-Events von SRL in der Bay Area von hübschen Moderatorinnen geleitet. Die eine ist jedoch nach wie vor avantgardistisch ernst gestimmt, während die andere ob all der kreischenden Männer-Maschinen und -Macken um sie herum krampfhaft lustig zu bleiben versucht.
In der deutschen Adaption – bei RTL II – hatte man sie durch einen männlichen Moderator ersetzt – aus der dritten Staffel von Big Brother. „Der kommentierte danach diesen ‚Kampf der Roboter‘, so hieß die Sendung hier, im Stil eines Mad-Max-Sportreporters. Inzwischen ist sie wieder abgesetzt worden,“ erfuhr ich vom Journalisten Ulli Gutmair. Im Internet findet über diese Spektakel aber immer noch eine rege Kommunikation statt, dazu werden dort auch Videos von den Shows angeboten. Das letzte Video der Gruppe SRL wurde aufwendig in Japan produziert.
Und aus Asien kommen auch die Techniken zur Rückverwandlung der nur noch künstlerischen Zwecken dienenden Kampfroboter in lebendige Kampfmaschinen, die wieder ins wahre Leben eingreifen. Einen Vorgeschmack gab bereits der Film „Ghostdog“ von Jim Jarmusch und der kalifornische Verschwörungsroman „Die Kunst des Verschwindens“ von Jim Dodge… Seit dem 11. September sind es aber vor allem die „Heiligen Krieger“ des Islam, die – mit Sprengstoffbomben am Körper – Angst und Schrecken verbreiten, über die Medien auch in den deindustrialisierten Ländern des Westens.
Schon gibt es dazu die erste wahre Biographie einer terroristischen Kampfmaschine: „My Jihad“ von Aukai Collins. Der 28jährige Sohn eines frühverstorbenen Hyppiepärchens aus San Diego ließ sich erst in Osama bin Ladens afghanischen Lagern ausbilden, und dann in Kaschmir, Tschetschenien und im Kosovo als islamischer Kämpfer einsetzen. Zuletzt verlor er dabei ein Bein, jetzt berät er FBI und CIA bei ihren Partisanenbekämpfungs-Aktionen weltweit, das behauptet er jedenfalls – schon im Titel – seiner „True Story of an American Mujahid“. Bei den Arabern wurde er „Father of Trouble“ genannt. Obwohl der Autor beteuert, dass er in der Vergangenheit nie etwas anderes als ein „FBI-Werkzeug“ sein wollte, weigerte sich die Behörde jedoch seit 1998 – „aus Feigheit“, wie Collins meint, ihn im Kampf gegen den Terrorismus noch einmal ins Camp von Osama bin Laden zu schicken, obwohl er sie immer wieder darum bat. Der Gotteskrieger will nämlich nach wie vor den Tod im Kampf finden, er sitzt jedoch derzeit in einem 500-Dollar-Apartment bei Baltimore – und wartet: „Allah nimmt als Mujaheddin nur die besten – um sie zu ehren, man muß also Geduld haben,“ schreibt er in seinem Buch, das die Washington Post kürzlich unter der Überschrift „A Holy Warrior Killing Time“ rezensierte.
Von den „Wurzeln des Terrors“ sprach gerade die Netzeitung in ihrer Besprechung des Buches von Yasmina Khadras „Wovon die Wölfe träumen“. Der Autor, ein algerischer Armeeoffizier, der jetzt im französischen Exil lebt, beschreibt darin sehr kunstvoll, aber eben von der anderen Seite, das Leben und Sterben islamischer Kampfgruppen, wobei es ihm darum geht, den „Radikalismus“ der Terroristen „nicht von seinen Effekten, sondern von den Wurzeln – der sozialen Ungerechtigkeit – her zu begreifen“. Sein exemplarischer Gotteskrieger versteht sich anfänglich nicht als eine „Tötungsmaschine“, sondern als „Kämpfer“, am Ende erzieht er seine Untergebenen jedoch zu bloßen „Automaten“, weswegen ihr Kampf dann auch am Ende als gescheitert anzusehen ist.
Eher vom Coming-Out des Gotteskriegers in uns handeln dagegen mehrere Kunstaktionen, die hierzulande im Anschluß an den 11.September stattfanden. Da war zum einen das Casting von Zivilisten für die Weiterbildung von US Army-Offizieren zu Friedensmissionären in terroristisch verseuchten Krisengebieten. Ihre Übungen finden in islamischen Fake-Dörfern am Bodensee statt und gecastet wurden die „Statisten“, darunter etliche russische Emigranten, im Berliner Hotel Maritim – von der schwäbischen Firma Optronic, die an ihnen gleichzeitig ihre lasergestützte Übungsmunition testet. Die Statisten müssen dagegen in verschiedenen Szenarios die „Friedenstruppen“ versuchen zu überlisten, während diese dabei lernen sollen, nicht die Nerven zu verlieren und Verluste unter den Zivilisten möglichst gering zu halten.
In Berlin veranstaltete 2004 eine Künstlergruppe im Haus des Lehrers eine öffentliche Aktion zum „Mind Mapping“, mit der sie das hauptstädtische Aggressionspotential ausloten wollten. Dazu wurden an das Publikum rund 100 Schlüssel von Bahnhofs-Schließfächern verteilt, in denen man dann jeweils einen Umschlag mit zehn kleinen Hightech-Bomben fand, die man an Orten bzw. in der Nähe von Personen seiner Wahl plazieren sollte. Anschließend wurden sie mit einem Telefonanruf „gezündet“.
In Neumünster konnte sich ein Freiberufler, nachdem er einen „Milzbrandalarm im Supermarkt“ ausgelöst hatte, gerade noch vor Gericht damit herausreden, dass es sich dabei um eine „Kunstaktion“ gehandelt habe. Während der Performancekünstler Christoph Schlingensief in Münster mit seiner Aufforderung „Tötet Möllemann“ zur Gerichtskasse gebeten wurde, obwohl auch er sich auf einen „Kunstkontext“ beruft – und zwischen den beiden öffentlich herausgebrüllten Wörtern „eine dramaturgische Pause“ eingelegt haben will.
Schließlich fand im Berliner Gropiusbau auch noch eine Ausstellung mit Photos von den dramatischsten Momenten des 11.Septembers in New York statt – für alle, die seinerzeit nicht dabei sein konnten.
Einen ganz anderen Weg als den des „Survival Research Labs“ schlug die Band „Throbbing Gristle“ ein, die sich erst zur Gruppe „Psychic TV“ wandelte und dann auflöste, während ihr Gründer Genesis P-Orridge sich zu einem „cultural engineer“ fortentwickelte, der -inzwischen in New York lebend – mit seinen Performances, Aktionen und Installationen weiter die Öffentlichkeit schockiert: „If this is art God help us“, schrieb z.B. die Londoner Evening News. Andere englische Zeitungen bezeichneten ihn und seine Mitarbeiter als „wreckers of civilisation“ sowie als eine „Bizarre Boutique that sells Violence“. Daneben bespielte er jedoch bis heute 200 CDs, piercte seine Hoden durch und durch, verpaßte sich Narben usw.. Seine Künstlerfreunde beeilten sich zu versichern: „Genesis P-Orridge steht in der Dada-Tradition, er macht seriöse Kunst und keine Pornographie“, so schrieb z.B. William S.Burroughs. Timothy Leary bescheinigte ihm „a tremendous influence“ und dass er „a powerful person in person“ sei. Während Charles Manson sich unsicher war: „you must be a retarded person – or maybe you’re in another universe“.
2005 zeigte Genesis P-Orridge im Künstlerhaus Bethanien unter dem nur allzu wahren Titel „Painful but Fabulous“ sein neuestes Werk – und das ist er selbst, der sich jetzt Breyer P-Orridge nennt. In den letzten Jahren hat er sich – man möchte sagen: systematisch – mittels Hormonen, Goldkronen, Implantaten und chirurgischen Operationen in eine Frau verwandelt, während seine Frau – Jackie Breyer – sich umgekehrt zu einem Mann umbauen ließ. Das lebende Ergebnis ist bemerkenswert (ich habe Genesis P-Orridge jedenfalls nicht wiedererkannt) und durchaus schön anzusehen. Aber darum geht es ihm gar nicht, ebensowenig um eine Luststeigerung oder um neue Lusterfahrungen nach der Umwandlung, und schon gar nicht um eine Reihe von „Schönheitsoperationen“, mit denen ein eventuell gestörtes Selbstwertgefühl behoben werden soll, das aus dem Leiden an einem als unerträglich empfundenen körperlichen Makel herrührt… Mit solch künstlicher Identitätskonsolidierung und Identitätspolitik überhaupt hat Genesis P-Orridge nichts zu schaffen, im Gegenteil: Es geht ihm auch bei diesen ganzen schmerzhaften Aktivitäten nach wie vor um nichts anderes als um reine bzw. radikale Kunst, genauer gesagt, um eine „Dematerialization of Identity“. Seine im Künstlerhaus Bethanien ausgestellten Großphotos und Videos dokumentieren dabei „das Verwischen von geschlechtlichen Grenzen mithilfe der Medizintechnik“. Die nun in London zu sehende Werkreihe nennt sich „Pandrogeny“: Wenn die Androgynie des Nichtgeschlechtliche bedeutet, dann ist die Pandrogynie das Vielgeschlechtliche.
Im Zusammenhang der körperlichen Annäherung und schließlichen Wiederentfernung durch Geschlechtertausch von Jackie Breyer und Genesis P-Orridge mittels aufeinanderfolgender chirurgischer und chemischer Eingriffe könnte man vielleicht auch von einer „Cross-Gender-Study“ in progress und situ sprechen. Das Künstlerhaus meint jedoch, dass die beiden Personen „letztlich zu einem einzigen multigeschlechtlichen Wesen verschmelzen“ (zu siamesischen Zwillingen gar?). Zur Eröffnung seiner Ausstellung erschien er allerdings nicht mit seinem „artistic partner in crime“ Miss Jackie Breyer P-Orridge, sondern mit einer Mitarbeiterin namens Nicole, die so etwas wie ein junges Opto-Orientierungsmodell für Genesis P-Orridge darstellt. Dies wurde noch dadurch unterstrichen, dass beide nahezu identisch frisiert und gekleidet waren – im Stil von Londoner Partygirls.
Die Transgender-Forscherin Susanne Schröter merkte zur Umformung einer Frau in einen Mann einmal an, daß eine „vollkommene Geschlechtsumwandlung“ nur von wenigen angestrebt wird, „schon aufgrund der geringen medizinischen Erfolgsaussichten“, weswegen sie in einem „Dauerzustand des ‚in between'“ verharren. Für Genesis P-Orridge ist es demnach leichter als für Jackie Breyer, radikal zu bleiben.
Zur Ausstellung gehört ein dicker Katalog: „The Lives & Art of Genesis P-Orridge“. An einer Stelle erklärt der Künstler mit proletarischer Herkunft darin, warum diese vorläufig letzte „Werkreihe“ nur eine konsequente Fortsetzung seines ständigen Bemühens ist, Kunst und Leben zusammen zu führen: Er hieß ursprünglich Neil Megson, 1965 erfand dieser Genesis P-Orridge und beschloß, ihn in der Kunst und Popkultur zu plazieren: „In gewisser Weise ist meine ganze Kunst nur ein Tagebuch von GPO…Bis heute bin ich ein Idealist und Utopist geblieben…Für mich ist Kunst Religion. Und die erste Eigenschaft Gottes ist es, etwas Neues zu kreieren – etwas, was vorher nicht da war. Unsere erste Phase – mit der Musik – war noch so etwas wie Propaganda, die viele Leute erreichen konnte und es auch tat…Aber inzwischen sind die ganzen cultural media zu einem business geworden….Deswegen bin ich zur Fine Art zurückgekehrt…Und es geht: man kann ein kreatives Leben führen.“ Zu fragen bleibt jedoch, ob GPO’s romantischer Avantgardismus dabei nicht letztlich im Handwerklichen stecken bleibt, denn „erst mit der Gentechnik beginnt die wahre Kunst, d.h. sind selbstreproduktive Werke möglich,“ wie Vilem Flusser beizeiten bereits zu bedenken gab. GPOs Künstlername „Genesis P.Orridge“ heißt nebenbeibemerkt auf Deutsch so viel wie „Haferschleimkreation“.
3. Kunst am Gesellschaftskörper
Die Kunststiftung der altösterreichischen Versicherungsgesellschaft „Generali“ lässt sich immer wieder Überraschungen einfallen. Früher einmal gab sie dem Prager Franz Kafka kargen Lohn und Brot. Jüngst finanzierte sie der Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn eine üppige Installation zum Thema „Arbeit/Freizeit“ in ihrer Berliner Niederlassung – an der sich sämtliche Mitarbeiter beteiligten. Und zuletzt beauftragte sie die Politartistin Alice Kreischer, „politische Militanz, Subjektverhältnisse und künstlerische Vorgehensweisen“ parteiisch, aber projektiv zusammenzuführen – im Wiener Hauptquartier der Generali, für die „Die Gewalt – als der Rand aller Dinge“ (so der Ausstellungstitel) natürlich auch versicherungsmäßig interessant ist. Die Berliner Journalistin und Filmemacherin Imma Harms steuerte dazu eine „Software-Installation“ bei, die aus der 1978er-Rede der RZ-Genossin Sabine Eckle besteht. Sie heißt: „Warum wir dem Vorsitzenden Richter des Asylsenats am Bundesverwaltungsgericht Günter Korbmacher in die Knie geschossen haben“. Dazu zitiert Eckle, die wegen dieses Anschlags erst kürzlich in Moabit angeklagt wurde, Bert Brecht: „Das Unrecht ist nicht anonym, es hat einen Namen und eine Adresse.“
Im Kern bestand ihre Rechtfertigungsrede aus einer „Analyse der Rolle des Asylrechts in der Weltinnenpolitik“, die laut Imma Harms „immer aktueller wird“. Deswegen hat sie sich drumherum nun „mit der Möglichkeit des politischen Attentats“ auseinander gesetzt – wobei ihre Videovisualisierung der Rede zum einen den Sprachduktus (die Argumentation) und zum anderen den Sprachdruck (die Empörung) hervorhebt. Hinzu käme für Imma Harms auch noch so etwas wie eine kantische „Pflicht zum Widerstand“, den sie dialogisch im Katalogbeitrag herauspräparierte: „Wir reden von der Militanz des Augenblicks, der spontanen Überschreitung der Legalitätsgrenze in einer gegebenen Situation.“ Mit der Kuratorin Kreischer ist sich Harms einig, dass „die Souveränität im Moment der Entscheidung liegt“ – mithin, dass Militantwerden bedeutet, souverän zu sein, indem man dabei die illegitimen Mittel zu legitimen erklärt. Noch jedes „Bekennerschreiben“ hat diesen Vorgang bekräftigt. Wo es keins gab, erklärte sich die Tat anscheinend von selbst. Erwähnt sei das Heydrich-Attentat in Prag 1943 und das WTC-Attentat in New York 2001.
Gleichzeitig gab es aber immer auch gefälschte Attentate – zum Beispiel vermeintlich linke Putsche von rechts, um Notverordnungen und Militäraktionen durchzusetzen. Bis heute wird um den „Reichstagsbrand“ gestritten. Die Feuerversicherungsstiftung schweift derweil von der Subjektwerdung der Polittäter (in der selbst erklärten Souveränität) zu der der emanzipierten Handwerker (in der künstlichen Souveränität) ab, wobei die Stifter jedoch gleichzeitig in ihrem Leporello behaupten: „Die Begriffe ,Kunst und Militanz‘ können nicht gegeneinander ausgespielt werden.“ Am Beispiel des WTC-Attentats haben dies jedoch gerade Karl-Heinz Stockhausen und Jean Baudrillard geleistet – sie wurden dafür grob gescholten.
Am Beispiel des Attentats auf das Knie von Korbmacher führte Imma Harms dazu in einer Diskussion in Berlin Näheres aus. Sie gab inzwischen die Rede von Sabine Eckle auch als Buch heraus. Die Autorin der RZ-Erklärung, Sabine Eckle, wurde dann – nach einem Geständnis des Mitangeklagten Rudolf Schindler – aus der U-Haft entlassen. Die Anklage wegen schwerer Körperverletzung war inzwischen verjährt, was blieb, war die Beteiligung an der Bildung einer „terroristischer Vereinigung“ – wobei sich in einer neuen Gerichtsverhandlung das Problem von quasi natürlicher und künstlerischer Militanz noch einmal stellt.
5. Mail-Art
Ähnlich kompliziert wie diese Interpretationsverhandlung verhielt es sich nach dem Attentat auf das World-Trade-Center mit den so genannten „Anthrax-Briefen“. Die ersten waren echt – und tödlich, stammten jedoch, was ihren Inhalt – Anthraxsporen – betraf, höchstwahrscheinlich aus Geheimlaboratorien der US-Regierung und ermordeten – vielleicht auch nicht zufällig – einige regierungskritische Journalisten. Siehe dazu die gründliche Suhrkamp-Studie des Schweizer Historikers Philip Sarasin.
Diese echten Anthraxbriefe wurden jedoch sogleich als Fakes nachgeahmt, d.h. immer mehr Leute verschickten sogleich Briefe mit einem harmlosem weißen Pulver an andere Leute bzw. an Very Important Persons, um sie einzuschüchtern oder symbolisch umzubringen. Schon bald gab es die ersten Fälle auch in Deutschland: So schickten z.B. zwei Praxishelferinnen einer süddeutschen Zahnarztklinik ein Anthrax-Briefchen an ihren Chef: Sie bekamen fünf Monate auf Bewährung. „Da muß also die Kommunikation zwischen denen wirklich im Arsch gewesen sein, daß die beiden Frauen so etwas getan haben – und daß ihr Chef damit sogleich zur Polizei gelaufen ist…“, meinte ein Berliner Sozialamtsmitarbeiter und Querulantenforscher, der im übrigen die „Selbstverbrennung“ für die konsequenteste Form von Querulantentum hält. In der Regel gehen die Angriffe der vom Staat sich ungerecht behandelt fühlenden Widerständler nicht so weit. Es bleibt meist beim Briefverkehr, der – wenn auch mit Beschimpfungen gespickt – in eine sachliche Auseinandersetzung vor Gericht mündet, wo dann das Querulantentum nur noch in so weit zum Tragen kommt, als von ihnen in jedem Fall der Instanzenweg ausgeschöpft wird – bis zum Gehtnichtmehr.
Doch fallen die einen wie die anderen Schriftsätze durch ihre Länge und linguistische Impertinenz auf. Letzteres bringt der (konsumistische) Querulant Neuen Typs heute kaum noch auf, deswegen ist der Anthrax-Brief an tyrannische Vorgesetzte, Hauseigentümer, Behörden, Regierungen etc. – eingebettet in eine wachsende öffentliche Hysterie und Sicherheitsmacke – quasi der Weisheit letzter Schnellschluß. Ich erinnere nur an jene Berliner Callcenter-Betreiber, die erst auf einen Forderungs-Brief ihrer Mitarbeiter – einen Betriebsrat zuzulassen – eingingen, und dann den Briefschreibern fristlos kündigten. Sowie auch an jenes Berliner Callcenter, das seinen Mitarbeitern den Lohn schuldig blieb und wo die Geschäftsfühung sich dann damit entschuldigte, daß die Firma irgendwelchen Amerikanern gehöre, sie könnten da gar nichts tun. Wo die Architektur die Soziologie, der Urbanismus die Sozialpartnerschaft und die Kunst bzw. die Künstlersozialkasse den Klassenkampf ersetzt, da darf es nicht verwundern, daß viele Anthrax-Attacken Kunstaktionen sind (zuletzt in Neumünster) bzw. trotz umfassendem „Milzbrand-Alarm im Supermarkt“ nicht als Kunst anerkannt werden – wenn sogar erste „Anthrax-Tests“ positiv ausfallen.
Dabei gibt es inzwischen schon Anthrax-Kunst, bei denen die Empfänger (früher Kunstbetrachter jetzt Artvictims genannt) real erkranken – obwohl die Künstler nur Backpulver verwendeten. Das ist der Einfluß des internationalen Schamanismus auf die postmoderne Kunst, bei dem selbst hartnäckige Kritiker nicht mehr so weit gehen zu behaupten, daß seine Gebete im Quadrat ihrer Entfernung abnehmen. Gleiches gilt für die (schamanistischen) Flüche. Und auch bei den z.T. hochdekorativ angelegten Schriftsätzen der Querulanten, die erst mit dem modernen Rechtsstaat aufkamen, haben wir es noch mit reiner Papiermagie zu tun – im Guten wie im Bösen: Einerseits nerven und beunruhigen sie die Adressaten und andererseits schaffen es die Querulanten damit, wie eine Forschungsgruppe der Uni Bremen herausfand, über 80% aller höchstrichterlichen Entscheidungen zu erwirken – also den Rechtsstaat bzw. eine unklare Rechtslage wirklich zu verbessern. So gesehen ist jeder Penner auch ein Schläfer! wie gerade der Schweizer Schriftsteller Perikles Monioudis anläßlich einer Amerikareise mutmaßte.
Übler Artikel, voller Zynismus und Demagogie. Für mich eine Störung der Totenruhe und üble Nachrede.
Das selbstgefällige Grinsen des Autors sagt mehr aus, als sein übler Artikel…
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