„Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten – die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit.“ (Francois Ewald)
„Man muß alles tun, um diese neue Unordnung so durchsichtig wie möglich zu machen!“ (Jacques Derrida)
Google hat kürzlich die Filmrecherche über den 11. September“ auf Deutsche ins Netz gestellt (www.loosechange911.com), würde es sich nicht um eine US-Dokumentation (von drei jungen Startuppern) handeln, könnte man Mathias Broeckers‘ zwei – auf Internetrecherchen basierende – Bücher über den Elften September (bei 2001 erschienen) – als Drehbücher dazu bezeichnen. Inzwischen hat der Bush-Herausforderer Kerry einen Kongressbericht angeregt, in dem sich weitere Details über das internationale Öl- und Drogengeschäft, die Rolle und Funktion der liquidierten BCCI-Bank sowie die Herren Bin Laden und Bush finden. Man kann ihn sich runterladen – ausdrucken empfiehlt sich nicht, er hat über 1000 Seiten. Es gibt außerdem Leute, die sich – jedenfalls in puncto Öl und Gas – Klarheit in diesem „Dschungel“ zu verschaffen wissen. Sie werden dafür seit Jahren bezahlt – z.B. die Forschungsgruppe am OSI der FU um Dr. Behrooz Abdolvand. Ihre Berichte erscheinen fast regelmäßig, wenn auch gekürzt, in den Blättern für internationale Politik, vor einem Monat auch in der Zeitschrift der humanistischen Union „Vorgänge“ (Nr 174), wobei es hier vor allem um den Gazprom-Konzern ging. Im Gegensatz zur Pariser Le Monde Diplomatique und speziell ihres „Atlas der Globalisierung“ betreibt die OSI-Forschungsgruppe keine Analyse der Geopolitik (mehr), sondern bemüht sich um ein Verständnis der neuen Geoökonomie, wie es marxologisch auch Robert Kurz unternimmt, zuletzt mit seinem Buch „Weltkapital“, in dem er davon ausgeht, dass die Betriebswirtschaft bereits derart global wurde, dass die Volkswirtschaft am Ende ist . Von Abdolvand erfuhr ich zuletzt, dass „die Chinesen“ den Irakkrieg finanzieren, indem sie jede Menge US-Staatsanleihen kaufen.
In einem soeben erschienenen Buch von Giovanna Boradori entwickelt Jacques Derrida, den die Autorin in New York interviewte, eine „Lesart“ des „main events“ Elfter September, der ein Ausweg aus dieser ganzen Faktologie sucht – Derrida spricht davon, dass man über den Empirismus hinausgehen müsse, vor allem sind seine Gedanken jedoch gegen die eingebetteten – d.h. formatierten, in Formaten fungierenden – Journalisten und Sinngeber gerichtet, deren Begriffe („Krieg, Terrorismus“ etc.) allesamt einem „dogmatischen Schlaf“ entstammen, gegen die sich eine (seine) „politische Philosophie“ richtet. Das richtet sich im übrigen auch gegen Jürgen Habermas, der ebenfalls in dem Buch von Giovanna Boradori interviewt wurde. Für Derrida sind schon die Begriffe „Bürgerkrieg“, „Partisanenkrieg“ überholt („Der Ausdruck ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ ist besonders konfus.“), denn „das Verhältnis zwischen Erde, terra, Territorium und Terror hat sich geändert“ – aufgrund der fortgeschrittenen „Techno-Wissenschaft“ – von der Genetik über die Nanotechnologie bis zu den Medien („Was wäre der 11. September ohne das Fernsehen gewesen?“). Ja, „eines Tages wird man sagen: der 11. September, das war die (gute) alte Zeit des letzten Krieges. Der gehörte noch zur Ordnung des Gigantischen: sichtbar und riesig.“Und zum letzten Krieg gehörte er, weil er den Kalten Krieg (zwischen Ost und West) sozusagen mit einem Paukenschlag beendete. Die Alternative „Terrorist/Freiheitskämpfer“ gehört für Derida ebenso der Vergangenheit an wie der Begriff „Staatsterrorismus“, wobei er daran erinnert, dass die Freiheitskämpfer gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan erst von den Amerikanern ausgerüstet und gefeiert wurden und nun als Terroristen denunziert werden, ähnliche Umdefinitionen hatten zuvor die Franzosen mit den „Ereignissen“ in Algerien vorgenommen. Neuerdings werden solche Verfahren auch bei der Deterritorialisierung angewandt. So sind z.B. die Erdölvorkommen territorial (landlocked), aber es genüge bereits, sich „die Rechte für eine Pipleine zu sichern“. Derrida spricht statt von Globalisierung von Mondialisierung, weil er im Zusammenhang der neuen Weltordnung nicht die Worte Globus und Kosmos verwenden will. Und die Worte „Bin Laden“ und „Bush“ benutzt er „metonymisch“.
Diesen Begriff fächern die Wikipedia-Autoren anhand einiger Beispiele in folgende „Arten“ auf:
– Ursache steht für Wirkung, oder Erzeuger für Erzeugtes, z.B. der Name des Autors für sein Werk (Schiller lesen), oder umgekehrt die Wirkung für die Ursache (Viel Lärm um nichts für ‚Streit‘)
– Rohstoff steht für das daraus Erzeugte (das Eisen für das Schwert)
– Gefäß steht für Inhalt (ein Glas trinken), oder das Land für dessen Einwohner bzw. Regierende (Frankreich verhandelt mit England), oder der Raum für die darin befindlichen Personen (der Saal applaudiert), oder die Epoche für die darin lebenden Personen (das Mittelalter glaubte)
– Besitzer für das Besitztum, Befehlshaber für die Ausführenden (Hannibal erobert Rom)
Speziell das Wort Bin Laden benutzt Derrida, so sagt er, „immer als eine Synekdoche“.
Dazu finden sich bei Wikipedia die folgenden Beispiele:
– „Der Franzose isst gern gut.“
– „Unser täglich Brot gib uns heute…“ (Brot für Nahrung).
– „Hast Du ein Tempo“ als Gesamtbegriff für ein Papiertaschentuch.
– „Ich esse gerne Kellogg’s.“ (Kellogg’s als Marke symbolisch für Cornflakes; ebenso Tempo).
Statt von einer oder mehreren Verschwörungen spricht Derrida von „autoimmunisierenden“ Effekten oder Entwicklungen.
Diesen aus der Biologie stammenden Begriff „Autoimmunität“ erklärt er damit, „daß ein lebender Organismus gegen seinen eigenen Selbstschutz dadurch sich schützt, daß er seine eigenen immunitären Abwehrkräfte zerstört“. In der Organtransplantation, wenn man z.B. einem Pavian ein Schweineherz einpflanzt, wird die Autoimmunität beim Organempfänger künstlich mit verabreichten „Immundepressoren“ herbeigeführt, damit der Affe das fremde Herz nicht wieder abstößt. Das funktioniert jedoch nur einige Wochen, dann wirkt sich diese Autoimmunität für den gesamten Organismus tödlich aus. Dennoch will man umgekehrt in vier Jahren bereits Schweineherzen in Menschen verpflanzen, wobei man jedoch statt letzteren Immundepressoren zu verabreichen die ersteren „genetisch manipulieren“ will.
Laut Derrida verlangen die „autoimmunitären Überdeterminationen“ des „main events“ 9.11. einer Analyse „ungeheure Anstrengungen“ ab. Man sieht ihnen jedoch an, „trotz ihrer biologischen, genetischen oder zoologischen Herkunft, daß sie auf etwas jenseits des schlicht und einfach Lebendigen abzielen. Und sei es nur, weil sie den Tod ins Leben tragen.“ Derrida ist auf Seiten des Lebens (war muß man inzwischen sagen – das Interview mit ihm wurde glaube ich 2003 geführt, er starb 2004).
Mit dem WTC-Attentat wurden die USA seit beinahe 200 Jahren, seit 1812, zum ersten Mal auf eigenem Boden „getroffen und verletzt“. Der „Event“ – das „Ereignis ist zuerst das, was ich zuerst nicht verstehe.“ Um es zu verstehen, braucht man also Zeit – und die wird scheinbar immer knapper. Der Ausdruck „Terrorismus“ wurde von den amerikanischen Institutionen nicht definiert, nur der Ausdruck „terroristische Aktivität“. Dazu gehören nun:
1. Entführung oder Sabotage
2. Die Bedrohung mit Tötung
3. Ein gewaltsamer Angriff auf eine international geschützte Person
4. Ein Mord
5. Der Gebrauch von a) biologischen, chemischen und nuklearen Mitteln, Waffen oder Geräten
und b) der Gebrauch von jedwedem Sprengstoff (außer zum Zweck des bloßen persönlichen Gewinns – dann ist es keine terroristische Aktivität, sondern einfach Raub)
6. Eine Konspiration in der Absicht, etwas des Genannten zu tun.
Über die Zwillingstürme des World Trade Centers schrieb der Architekturkritiker Joseph B. Juhas bereits 1994 – also sieben Jahre vor dem 11. September – Derrida zitiert ihn, wobei er sich scharf von Stockhausen distanziert, dessen Interpretation des „main events“ 11.9. als ein „Kunstwerk“ von ihm als „geschmacklos“ bezeichnet wird.
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„Das WTC war unser Elfenbeintor zur White City…Obwohl das WTC wenigstens aus der Distanz immer noch glänzt, ist es derzeit bedenklich beschmutzt durch seine unglückliche Rolle als Zielscheibe für den Nahost-Terrorismus…Natürlich wird jede ‚Stabilität‘, die auf der Unterdrückung pffener Systeme basiert, zu einem Element in einem Drama, das mit einem Kataklysmus enden muß. In einem allegorischen Sinne stellt die weite, zwillingshaft doppelte, geisterhafte Präsenz des WTC ein Grab dar, aus dem die Geister am Tag des Kataklysmus nicht als wiederauferstandene Tote emporkommen werden. Eher prophezeit es als Grabstein das Emporkommen von Golems und Zombies.“
Derrida fügte diese Stelle später dem Interview hinzu, um im Zusammenhang der Trauer über die Opfer“ daran zu erinnern, „daß der Widerhall solcher Morde nie rein natürlich und spontan ist. Er hängt ab von einer komplexen (historischen, politischen, medialen usw.) Maschinerie.“ Und dann sind die Ermordeten auch nicht alle gleich – in Europa und in den USA lösen „Massentötungen“ – wenn sie sich zB. in Hiroshima, Kambodscha, Ruanda oder Palästina abspielen „nie dieselbe Bestürzung“ aus.
Im übrigen löst jedes Ereignis, auch ein glückliches, ein Trauma aus, insofern es den Lauf der Dinge unterbricht, und dieses Trauma muß durch „Trauerarbeit“ in Form von Wiederholungen – immer wieder auf die Bühne, wenn man so sagen darf. In diesem Fall kommt jedoch laut Derrida die Erschwernis hinzu, daß das Ereignis „eine offene Wunde im Angesicht der ‚Zukunft‘ bleibt, nicht nur im Angesicht der Vergangenheit…Letzten Endes ist „die Existenz der Welt des Mondialen“ selbst bedroht.“ Das Ereignis liegt also noch vor uns. Jetzt versteht man vielleicht, warum der Sender Radio Bremen noch am Tag des Attentats einen Ü-Wagen an das kleine, zudem leerstehende „World Trade Center“ am Hauptbahnhof der ökonomisch gebeutelten Stadt Bremen schickte, von wo aus dieser dann halbstündlich berichtete: „Hier ist noch alles ruhig!“
Derrida unterscheidet drei Arten autoimmunitären Terrors, aber „in Wirklichkeit unterscheiden sich diese drei Ressourcen des Terrors nicht, sondern akkumulieren und überdeterminieren sich. Letztlich ist es dieselbe Wirklichkeit, in der wahrnehmbaren ‚Wirklichkeit‘ und vor allem im Unbewußten – und die ist nicht die unwirklichste aller Wirklichkeiten.“
Der Pariser Philosoph hielt sich zum Zeitpunkt des Ereignisses in Shanghai auf. Er stürzte ins Hotel zum Fernseher – und von den ersten Bildern an, die von CNN, „war es leicht vorauszusehen, daß in den Augen der Welt daraus etwas werden würde, was man ein ‚major event‘ nennt.“
Noch ein Derrida-Zitat: „…Und die Vereinigten Staaten waren, um es mit einer Litotes zu sagen, nicht immer auf der Seite der Opfer.“
Über die Litotes bzw. ihre „Effekte“ heißt es bei Wikipedia:
„- Milderung („Ich ärgere mich darüber nicht wenig“)
– Nachträgliche Unterstreichung („Es gab kein Zurück mehr, nicht übel!“)
– Ironische Abwertung („Was nicht heißen soll, er habe vollkommen unrecht“)
– Doppelte Verneinung zur Ausdrucksverstärkung („nicht ohne Witz“ für „recht witzig“, „nicht übel“ für „sehr gut“)
Ein lateinisches Beispiel ist „non ignorare“: non=nicht, ignorare=nicht kennen, non ignorare=genau kennen.“
Die im Irak von einer bewaffneten Gruppe gefangengenommene und dann freigelassene italienische Journalistin Giuliana Sgrena hat kürzlich ein Buch über ihre Geiselhaft bzw. Geiselschaft veröffentlicht – auf Deutsch im Ullsteinverlag. Dieses wurde gerade von Sabine Kebir im „Freitag“ rezensiert. U.a. heißt es darin – über die längst von den „Westmächten“ beschlossene Teilung des Iraks, die die CIA u.a. mit Bombenattentaten wie einst in Bologna durchsetzt: „Der Krieg der großen Blöcke der Kurden und Schiiten gegen die Sunniten und umgekehrt, ist kein bedauerlicher ‚Kollateralschaden‘, sondern fest einkalkuliert. Darauf deutet auch die Reichweite der Telefonnetze hin, die das Land derzeit versorgen. ‚Der Norden wurde einer türkisch-irakischen, der Süden einer kuwaitisch-irakischen, das Zentrum einer ägyptisch-irakischen Telefongesellschaft zugeteilt. Und diese drei Netze sind untereinander nicht verbunden: Von Bagdad aus kann man mit einem Iraqna-Handy (was ‚Unser Irak-Handy‘ heißt) nach Italien telefonieren, nicht aber nach ‚Basra oder Suleimania.‘ Eine ähnliche Aufteilung der Telefonnetze war – So Sgrena – eines der ersten Anzeichen für die beabsichtigte Teilung Jugoslawiens.“ Die Amerikaner wollten übrigens nicht, dass die Geisel den Irak lebend verließ, kurz vor dem Flughafen wurde das Auto des italienischen Geheimdienstes von ihnen unter Beschuß genommen, wobei ihr „Beschützer“ Nicolai Calipari starb.
Dem möchte ich einen Gedanken von Wladimir Kaminer gegenüberstellen, der oft und gerne im russischen Internet rumsucht, das so ganz anders – tausend mal intelligenter und nützlicher (jenseits von Warenanpreisung) ist als das US-Europäische Netz. Neulich meinte Kaminer: „Ohne das Internet würde es Russland wahrscheinlich gar nicht mehr geben. Es hat das Land gerettet.“ Es stand dort aber auch mehr auf dem Spiel als sagen wir die Annoncierung von 150 Millionen Projektemachern. Außerdem ermöglicht, reintegriert es, wenigstens z.T., die mit dem Zerfall der Sowjetunion außer Landes geratenen Sowjetbürger – in Armenien, Kasachstan, Riga, Kiew, Minsk usw..