Der nachfolgende Text ist ein Vortrag, den ich vor „jungen Kommunisten“ im Friedrichshainer Veranstaltungsladen „Zielona Gora“ und vor „alten Projektemachern“ (Künstlern und Wissenschaftlern) im Stutgarter Schloß Solitude hielt – das Publikum hier wie dort war zufrieden damit, wenn mein Eindruck richtig war. Beim ersten Mal ging es um Theorie und Praxis der „Revolution“, beim zweiten Mal um Theorie und Praxis von „Projekten“.
Es gibt zum einen künstlerische und soziale bzw. linke oder revolutionäre „Projekte“. Und zum anderen Unternehmensprojekte (ein neues Industrieprodukt, aber auch das Start-Up eines Beschäftigungslosen z.B.). Die einen sind eher polis- und die anderen mehr oikos-orientiert, wenn ich so sagen darf.
„Projekte im Alltag“ das können bei den ersteren, den nicht-kommerziellen Projekten, solche sein, die am Alltag bestimmter Leute anknüpfen – und z.B. ihre Wohnprobleme, Ärger mit Ausländerbehörden, ungerechtfertigte Entlassungen etc. aufgreifen („Die Berliner Tafel“, Grenzcamps oder Arbeitsloseninitiativen gehören z.B. dazu).
Bei den kommerziellen können „Projekte im Alltag“ solche sein, die sich den Alltagsproblemen bestimmter Konsumentengruppen annehmen oder dies mindestens versprechen: Hunde ausführen, mit Kindern Hausarbeiten machen, Pflege- und Reinigungsdienste übernehmen usw.. „Die Menschen da abholen, wo sie sind,“ wie die Politiker das nennen. Wenn es sich um Unternehmensprojekte handelt, sagt man jedoch eher: „All Business is Local!“ bzw. „Man muß bei den Alltagswünschen ansetzen“. Wobei es jedoch u.U. eine gewisse „Alltagsvergessenheit“ zu berücksichtigen gilt, die besonders männlichen Zielgruppen eigen ist.
Daneben oder darüberhinaus gibt es aber auch noch einen „Alltag von Projekten“ – der bei vielen sozialen und politischen Initiativen im wesentlichen aus Frankieren, Umschläge beschriften, Faxe senden, Telefonieren etc. besteht.
Bei kleinen Firmen z.B. im Ärger mit Behörden, Finanzämtern, allzu skupellosen Konkurrenten, allzu mürben Mitarbeitern usw.. „Die Mühen der Ebene“ – könnte man das mit Bertolt Brecht auch nennen. Als Beispiel sei die Bemerkung eines Westberliner Projektemachers zitiert. Es handelt sich dabei um den Erfinder einer Glühbirne mit extrem langer Lebensdauer – Dieter Binninger, dem der Osramkonzern die Verwendung seines Warenzeichens verbot. Dazu meinte der Betroffene: „So macht man die kleinen Leute fertig. Wenn Sie so einen Brief von der Osram-Rechtsabteilung morgens kriegen, dann ist erst einmal der Tag gelaufen, das können Sie sich doch vorstellen…“ Im Gegensatz zu Binninger gab aber z.B. die Ostberliner Chemikerin Brigitte Olschewski nicht nach, als der Henkelkonzern ihr kürzlich den Produktnamen für das biologisch abbaubare Waschmittel „Faliten“ verbieten wollte – weil es seinem Markennamen „Fa light“ zu nahe kam. Und sie gewann auch den Prozeß vor dem Münchner Patentgericht. Erwähnt sei außerdem noch ein Satz aus dem Film „Das Leben der Anderen“. Er handelt von einer Observierung, die der Stasi-Kulturverantwortliche als ein wichtiges „Projekt“ bezeichnet: „Denk dran – wir sind nicht mehr an der Hochschule – es geht nicht mehr um Noten gehe, sondern um Erfolg“, schärft er seinem Untergebenen ein, für den das jedoch kein „Projekt“, sondern ein Auftrag ist.
Ein Projekt ist immer etwas Gewolltes – im Gegensatz zur gesellschaftlichen Entwicklung – auch des Einzelnen in ihr. Der Sohn eines Stahlarbeiters, der Stahlarbeiter wird, redet ebensowenig von einem Projekt wie seine Schwester, die Friseusin wird.
Ein Projekt ist Ausdruck der Freiheit, etwas zu wollen und zu planen. Eine 53jährige Freundin von mir, die gerade ihre Sekretärinnenstelle in einem Büro verlor, meinte, sie werde jetzt erstmalig in ihrem Leben anfangen, sich zu überlegen, was sie überhaupt machen will, d.h. in welche Richtung sie Arbeiten möchte. Ihre Arbeitslosenzeit will sie nutzen, um sich mit einem „Projekt“ selbständig zu machen.
Aus der Not eine Tugend machen – das gilt jetzt für Millionen – die von der Entwicklung der Produktivkräfte „freigesetzt“ wurden und werden. Gemeint ist damit die Elektronische oder Dritte Industrielle Revolution, die gedanklich aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, jedoch erst in den Achtzigerjahren offensichtlich Gestalt annahm. Als Beispiel dafür sei hier die Entwicklung der Bürotechnik und ihre Auswirkung auf die Arbeitsplätze bei meinem Steuerberater Ulrich Wolffram erzählt:
Er gehörte zu den ersten, die an der nach dem Krieg neugegründeten Freien Universität studierten. Danach kaufte er eine Praxis von einem Kollegen, der sich zur Ruhe setzte. Er übernahm ein Büro mit 12 Angestellten, sie bekamen 120 DM monatlich, seiner Bürovorsteherin zahlte er 200 DM, für ihn selbst blieben anfänglich um die 100 DM übrig. Zitat:
„Ich arbeitete 16, manchmal sogar 18 Stunden. Und mußte dann sogar noch mehr Leute einstellen. Da gab es ein Platzproblem. Der Vorgänger hatte sehr sparsam gewirtschaftet: Die ganze Firma befand sich zunächst nur in einem Raum – wenn da jemand zur Toilette wollte, mußten alle aufstehen. Ich mietete dann neue Räume. Mein Verwandter, der Steuerberater, der mich zum Studium motiviert hatte, besaß damals schon in seiner Kanzlei eine moderne Einrichtung mit Maschinen. Das vor Augen begann ich, meine Praxis zu reorganisieren und u.a. Geräte anzuschaffen.
Ich bin mit deren Enwicklung von Anfang an mitgewachsen. Als ich anfing, gab es Buchführungsarbeiten in Form des amerikanischen Journals: das wurde also alles mit der Hand geschrieben, es wurde gerechnet, ausgewertet, übertragen, wieder alles geschrieben, usw.. Dann kamen die ersten Buchungsmaschinen. Davor, das waren im Grunde nur erweiterte Schreibmaschinen gewesen. Am Ende hatten diese mechanischen Maschinen aber schon 100 Speicher – die hingen da so ähnlich dran wie die Kilometerzähler am Fahrrad. Sie rechneten die eingegebenen Zahlenkolonnen aus. Die ersten wirklichen Buchungsmaschinen vereinfachten dann die Arbeit insoweit, als sie auch gewisse Rechenfunktionen durchführen konnten: Sie haben also Bewegungen, die buchhalterisch erfaßt werden mußten, ausgewertet, Summen addiert,, multipliziert, und die Mehrwertsteuer errechnet, die ja damals schon entstanden war, vorher gab es die Umsatzsteuer. Diese Maschinen konnten also rechnen und verschiedene Arbeiten machen. Sie waren zu der Zeit auch noch relativ teuer.
Ich hatte hier Olivetti, die waren damals auf dem Gebiet führend, später sind sie dann abgesackt, weil sie mit der Entwicklung nicht mitgegangen sind. Man sollte damit auch Fehlerquellen vermeiden können, weil man Zahlen nicht mehr übertragen mußte. Nachher gab es schon Kontenblätter, die mit einem Magnetstreifen versehen waren, auf dem die Zahlen gespeichert wurden. Wenn sie allerdings auch nur ein bißchen beschädigt waren, dann war alles darauf verloren.
Auch bei der Einsparung an Arbeit und Personal brachte meine erste Buchungsmaschine erst mal nichts: Die Angestellte, die daran arbeitete, schaffte am Tag, wenn es hoch kam, 200 Buchungen. Das ist nicht viel, es hätten mindestens 800 sein müssen. Nachdem das so eine Weile gelaufen war, habe ich mich mal neben sie gestellt und gekuckt, was sie da machte: Die hat also eine Buchung eingegeben und dann aus Sicherheitsgründen, das, was die Maschine auf dem Konto gerechnet hat, noch mal im Kopf nachgerechnet. Dadurch hat sie natürlich viel mehr Zeit gebraucht. Ich habe ihr klar gemacht: So geht das nicht, Sie müssen hier jetzt arbeiten – auf Teufel komm raus, die Maschine rechnet selber.
Wir haben vereinbart: Sie bekommt über ein bestimmtes Pensum hinaus für jede Buchung Soundsoviel extra. Dann hat sie auf einmal 600 Buchungen, dann 800, 1200 Buchungen sogar gemacht. Dann kamen die ersten elektronischen Maschinen, es fing an mit schwedischen Rechenmaschinen, die einen Papierstreifen hatten. Die waren ausgezeichnet. Sehr schnell, auch sehr sicher in der Handhabung, aber sehr sehr teuer: die kosteten damals, Anfang der Siebziger Jahre etwa, 6000 DM. Dann kamen die ersten elektronischen Buchungsmaschinen auf den Markt, die hatten auch nur begrenzte Möglichkeiten zunächst, dadurch daß die Programme, die gebraucht wurden, nicht über irgendwelche Datenträger übertragen werden konnten, sondern noch hier mit Schaltung verlötet werden mußten. Die schrieben also genau vor, welche Arbeit und welche Funktionen gemacht werden sollten.
Zu der Zeit brachte Bosch die erste Maschine heraus. Da bin ich mit dabei gewesen – von Anfang bis Ende: Die haben von mir die Erfahrung gesammelt, darüber, wie es überhaupt zu sein hat. Technisch lösen konnten sie es, aber welche Arten von Buchung es geben mußte und wie die ablaufen mußten usw., dieses „Know-How“ haben sie von mir bekommen. Geld bekam ich nicht, dafür freute ich mich auf die fertige Maschine: Solch eine gab es bis dahin noch nicht! Die Entwicklungsgruppe saß drüben in Westdeutschland und ich bin da oft rübergefahren.
Der Durchbruch kam dann mit den Computern, die erstmalig die Möglichkeiten schufen, Programme elektronisch zu verarbeiten, die man ihnen als Befehle eingab. Nach der ersten Generation kam dann schnell die zweite, dritte, vierte usw.. Jede brachte Neuerungen. Parallel dazu entstand als besondere Einrichtung der steuerberatenden Berufe die Datev – Mitte der Siebzigerjahre: Ein Rechenzentrum, das natürlich am Anfang auch mit großen Problemen behaftet war. Die hatten natürlich große Rechner, die sich sonst keiner leisten konnte. Zusätzlich wurden dort auch noch Speicherkapazitäten geschaffen, indem man Daten auf andere Medien zwischenlagerte. Die erste Erfahrung mit dem Abspeichern auf andere Medien war bei mir so: Wir hatten eine Triumph-Adler-Maschine uns bestellt und viel viel Zeit damit verbracht, um vorher alles abzustimmen: welche Programme und was damit gemacht werden sollte, und es hatte dann auch geheißen, daß es angeblich gut gehen würde, aber dann kam der Termin am Jahresende, an dem wir uns umstellen wollten, und kurz vorher sagten sie uns: Es ginge nicht – was wir der Maschine abverlangen wollten, wäre zu kompliziert. Bei Buchführungen muß man viel Sortierarbeiten machen, indem man z.B. Vorgänge, die gleichartig sind, in verschiedenen Bereichen speichert und von dort wieder woanders hin verarbeitet. So etwas kostet Rechner-Zeit. Wenn wir das Programm bekommen hätten, würden wir dafür einen Bestand von 2000 Magnetbändern gebraucht haben. Und ständig hätten wir wegen der geringen Speicherkapazität der Anlage alles auf Magnetbänder kopieren und wieder runterkopieren müssen. Für einen Vorgang, der heute zwei Minuten dauert, benötigte man damals zwei Tage. Also haben wir es dann sein lassen – und sind zu Telorix gegangen. Die hatten auch die Maschinen von Triumph-Adler, das war eigentlich nur eine Organisationsfirma. Die haben Programme entwickelt für vorhandene Hardware und uns gesagt: Wir entwickeln gerade ein Programm, das wird Ihre Probleme eher lösen. Dann haben wir uns sehr schnell mit denen zusammengesetzt und unsere Probleme da besprochen: wie das laufen mußte.
Statt der ursprünglich 2000 Bänder haben wir dann nur noch 200 Bänder gebraucht, was auch noch sehr viel war. Schon allein die Verwaltung dieser Bänder, die Organisation, die war ja fehleranfällig – und ein Fehler zog sich dann immer weiter durch. Das, was da drauf war, das wurde dann ausgedruckt – auf Kundenblätter, mit denen man weiter arbeiten konnte. Für meine Computer-Kenntnisse habe ich nur wenig theoretische Anregung mir von außen geholt, wie ich das auf anderen Gebieten auch getan habe. In all den Jahren habe ich nur zwei berufsständische Tagungen besucht, weil ich mir gesagt habe: Ich kann mir die Lösung dieses oder jenen Problems alleine viel besser beschaffen. Für die erste EDV, die ich hier als Stecksystem habe, die auch noch von der Programmierung her sehr einfach und primitiv war, habe ich mir am Anfang, 1986, noch einen Organisationsberater reingeholt, der mir die Programme entworfen hat, die ich hier brauchte. Dadurch daß ich ständig mit dem zusammengearbeitet habe, bekam ich natürlich auch dessen Kenntnisse mit, so daß ich heute alle Programme, die ich dafür brauche, selber machen kann. Problematischer ist es natürlich bei der EDV, wenn es darum geht, irgendwelche Datenbanken, die heute meist auf CD-Rom sind, zu verarbeiten: Dabei ist man heute auf Gedeih und Verderb auf die Qualität der angebotenen Produkte angewiesen.“ Zitatende.
Fassen wir zusammen: Ulrich Wolfframs Firma hatte nach dem Krieg erst einmal 12 Angestellte. Weil sie erfolgreich war, erhöhte sich die Zahl der Mitarbeiter mit der Zeit auf über 24. Aber dann kam die elektronische Datenverarbeitung und jede neue Innovation reduzierte die Arbeitsplätze in Wolfframs Kanzlei – bis er schließlich nur noch eine Sekretärin beschäftigte, die er dann ebenfalls entließ, um zuletzt ganz alleine – für sich – in seinem Büro in Charlottenburg am Theodor-Heuss-Platz zu sitzen. Die Schilderung dieses wirklich erfüllten Arbeitslebens hat mich deprimiert – und ich glaube Ulrich Wolffram auch.
Ich möchte deswegen noch einmal auf die technologischen Anfänge dieser Entwicklung zurückkommen, die uns alle in Projektemacher verwandelt. Bei den Philosophen an der FU fand dazu unlängst eine Veranstaltung statt.
Die dritte Industrielle Revolution bereitete sich zur selben Zeit wie die Gründung von IWF und Weltbank am Ende des letzten (imperialistischen) „Zweiten Weltkriegs“ vor. Dazu fanden zwischen 1946 und 1953 die so genannten „Macy-Konferenzen“ statt, auf denen sich die „technokratische Wissenschaftselite der USA“, darunter viele Emigranten aus Europa, versammelt hatte – um ausgehend von der Waffenlenk-Systemforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und der Informationswissenschaft sowie inspiriert von Erwin Schrödingers bereits 1943 erschienenem Buch „What is Life?“ die Theorie und Praxis der „Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems“ zu diskutieren. Hierzu gehörten u.a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margret Mead, als Konferenzsekretär fungierte zweitweilig Heinz von Foerster. Im Endeffekt entstand daraus die inzwischen nahezu weltweit durchgesetzte und empirisch fruchtbar gewordene Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Menschen, Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen – anwendbar sind .
Als einer der ersten Gegner dieses bald immer mehr Wissenschaftsbereiche erfassenden Paradigmas trat 1952 der Schriftsteller Kurt Vonnegut mit seinem Buch „The Piano Player“ auf, in dem er die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassenden Anwendung beschrieb, die Herbert Marcuse dann als „Herrschaft eines technologischen Apriori“ bezeichnete. Was der Wiener Philosoph Günters Anders wiederum zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen und Recherchen zur „Antiquiertheit des Menschen“ machte. Diese besteht nach ihm darin, dass spätestens mit dem Koreakrieg (1950-53) die rechnerischen Kalküle alle moralischen Urteile ersetzt haben. Selbst die antifaschistischen Charakteranalysen von Adorno im amerikanischen Exil fanden noch Eingang in die Macy-Konferenzmaschine, indem man schließlich auch den „Antiautoritären Menschen nach Maß“ noch zum Ziel der Kybernetik erklärte.
In dem Aufruhr-Horrorszenario, das Kurt Vonnegut entwarf – indem er die Militärforschung des „Fathers of Cyborg“ Norbert Wiener und des Mathematikers John von Neumann weiter dachte – geht es um die Folgen der „Maschinisierung von Hand- und Kopfarbeit“, d.h. um die vom Produktionsprozeß freigesetzten Menschenmassen, die – mit Zygmunt Baumann gesprochen – „überflüssig“, „Abfall“ geworden sind, und nur noch die Wahl haben zwischen 1-Dollarjobs in Kommunen und Militärdienst im Ausland, wobei sich beides nicht groß unterscheidet. Theoretisch könnten sie sich auch selbständig machen – „Ich-AGs“ gründen.
Zitat: „Reparaturwerkstätten, klar! Ich wollte eine aufmachen, als ich arbeitslos geworden bin. Joe, Sam und Alf auch. Wir haben alle geschickte Hände, also laßt uns alle eine Reparaturwerkstatt aufmachen. Für jedes defekte Gerät in Ilium ein eigener Mechaniker. Gleichzeitig sahnen unsere Frauen als Schneiderinnen ab – für jede Einwohnerin eine eigene Schneiderin.“
Da das nicht geht, bleibt es dabei: Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial mehr schlecht als recht endversorgt, während eine kleine Elite mit hohem I.Q., vor allem „Ingenieure und Manager“, die Gesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist – „Das höllische System“ (so der deutsche Titel des Romans) – weiter perfektioniert. An vorderster Front steht dabei Norbert Wiener. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr „Aussteigern“ unterstützt.
Der Autor erwähnt namentlich John von Neumann. Nach Erscheinen des Romans beschwerte sich Norbert Wiener brieflich beim Autor über seine Rolle darin. Die Biologiehistorikerin Lily E. Kay bemerkt dazu in ihrem 2002 auf Deutsch erschienenen „Buch des Lebens“ – über die Entschlüsselung des genetischen Codes: „Wiener scheint den Kern von Vonneguts Roman völlig übersehen zu haben. Er betrachtete ihn als gewöhnliche Science Fiction und kritisierte bloß die Verwendung seines und der von Neumanns Namen darin.“ Vonnegut antwortete Wiener damals: „Das Buch stellt eine Anklage gegen die Wissenschaft dar, so wie sie heute betrieben wird.“ Tatsächlich neigte jedoch eher Norbert Wiener als der stramm antikommunistische von Neumann dazu, sich von der ausufernden „Militärwissenschaft“ zu distanzieren, wobei er jedoch gleichzeitig weiter vor hohen Militärs über neue Kontrolltechnologien dozierte.
Der Roman geht dann so weiter, dass die von der fortschreitenden Automatisierung auf die Straße Geworfenen sich organisieren, wobei sie sich an den letzten verzweifelten Revivalaktionen der Sioux im 19. Jahrhundert orientieren: an den Ghost-Dancers, die gefranste westliche Secondhand-Klamotten trugen. Im Roman heißen sie „Geisterhemd-Gesellschaften“ – und irgendwann schlagen sie los, d.h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft, wobei es ihnen vor allem um den EPICAC-Zentralcomputer in Los Alamos geht. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt deswegen, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an „ihren“ Maschinen zu arbeiten. Bevor die Rädelsführer hingerichtet werden, sagt einer, von Neumann: „Dies ist nicht das Ende, wissen Sie.“ Und recht hatte er! Ähnlich äußerte sich 2001 z.B. Alexander Kluge in einem Interview: „Bei Heiner Müller gibt es nach dem Sturz der DDR durchaus eine lustvolle Beschäftigung mit den Abgründen des Westens… Siegeszüge sind selten endgültiger Art. Wir haben jetzt den absoluten Sieg des Börsen- und Finanzkapitalismus. Aber nach allen Regeln des Zusammensturzes wird das irgendwann wieder enden.“
Bereits 1984 hatte Thomas Pynchon den Gedanken von Vonnegut noch einmal aufgegriffen: „Is it o.k. to be a Luddit?“ fragte er sich in der „New York Times Book Review“ – und antwortete dann: „Wir leben jetzt, so wird uns gesagt, im Computer-Zeitalter. Wie steht es um das Gespür der Ludditen? Werden Zentraleinheiten dieselbe feindliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie einst die We-Maschinen? Ich bezweifle es sehr…Aber wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren. Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.“
Eine Revolte, ein Volksaufstand gar, ist jedoch kein „Projekt“. Leo Trotzki hat sich immer darüber geärgert, wenn in diesem Zusammenhang von „organisieren“ die Rede war. Seiner Meinung nach konnten nur „faschistische Theoretiker“ wie Curzio Malaparte sich so etwas Massenverachtendes ausdenken, wobei sie jedoch nicht über einen „Staatsstreich“ hinauskämen – also über ein „Projektdenken“. Umgekehrt gilt denn auch: Was nicht organisiert werden kann, ist kein Projekt (mehr). So besteht ein Gutteil von sozialen und linken Projekten darin, den Alltag von Benachteiligten zu organisieren – und sie gegebenenfalls auch noch für das Projekt selbst – eine Partei oder Gewerkschaft z.B. – zu mobilisieren, auf die Weise wird jedoch nur allzu oft eine soziale Bewegung kanalisiert statt entfaltet, d.h. dominiert wie 2004 die Arbeitslosen von „Attac“ z.B. „Wenn eine Ziege da ist, darf man nicht an ihrer Stelle meckern,“ sagt ein altes afrikanisches Sprichwort.
Das ist bekannt, ich möchte hier stattdessen auf zwei so genannte „soziokulturelle Projekte“ zu sprechen kommen, die aus den Kulturförderungen von Bund, Ländern, Kommunen, EU usw. finanziert werden.
Der Alltag solcher Projekte besteht zu einem nicht geringen Teil aus dem Ausfüllen von Förderanträgen und Projektpapieren. Das war schon bei den ersten Projektemachern im 17. Jahrhundert so, wie Georg Stanitzek herausgearbeitet hat. Nach ihm ist jeder Projektemacher mit seinen Plänen darauf aus, die Unwahrscheinlichkeit des Zueinanderfindens von Selbst- und Fremdselektion methodisch zu reduzieren, indem er mit seinem Projekt die Selektionen prospektiv engführt, d.h. in Form des Projektes gleichsam ein Exposé zu ihrer Verknüpfung vorlegt. „Wenn die Selbstselektion sich in Projektform annonciert, so ist sie von vorneherein präzise auf eine Fremdselektion hin adressiert, steuert sich nah an sie heran, macht sich beobachtbar und beurteilbar“. Dieses Suchen der Nähe tatsächlicher Anschlußmöglichkeiten läßt sich – mit Stanitzeks Worten – „durchaus Opportunismus nennen“, d.h. die Künstler und Wissenschaftler folgen mit ihren Projektanträgen den Wahrscheinlichkeiten – Moden und Diskurskonjunkturen, wenn sie erfolgreich sein wollen. „Die Produktivität der Künstler resultiert aus ihrer Fähigkeit, sich den wechselnden geistigen Strömungen anzupassen – aus ihrer moralischen Verkommenheit,“ so sagte es Joachim Fest, der dabei einen nach New York emigrierten Künstler plagiierte.
Nun zu meinem Kunst-Projekt-Beispiel:
Als die Künstler Adam Page und Eva Hertzsch 2005 erfuhren, dass die städtische Wohnungsbaugesellschaft in Dresden WOBA ihren gesamten Immobilienbesitz an die US-Investorengruppe Fortress (Festung) verkaufen wollte, 6000 Wohnungen allein im Stadtteil Prohlis, begannen sie mit einer „Bestandsaufnahme der gegenwärtigen gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen der Prohliser Bevölkerung zu ihrem Wohnumfeld“. Gerade im Moment der Auflösung des Sozialwohnungsbaus wollten sie wissen, „was das Soziale gegenwärtig ausmacht“. Diese Auflösung schlug bundesweit Wellen: Oskar Lafontaine kam sofort nach Dresden und sprach sich dagegen aus, Wohnen zur Ware zu machen, während die dortige PDS bei der WOBA-Privatisierung gespalten war: Einige meinten, man sollte dem zustimmen, andernfalls müßten Kitas und andere soziale Einrichtungen geschlossen werden.
Page und Hertzsch hatten bereits 1997 auf der „documenta“ eine „Arbeit im öffentlichen Raum“ vorgestellt, die sich mit der Privatisierung befaßte und dazu eine Art „Gegenöffentlichkeit“ schuf. Sie stellten fest: Kioske verschwinden, Bahnhöfe werden „gesäubert“, Marktplätze werden zu Privatgrundstücken usw.. Daraufhin ließen sie mit städtischem Geld einen mobilen InformationsKiosk bauen und überlisteten damit Stadtbildpfleger und Feinde der Imbisskultur, die seitdem dieser „Kunst“ immer wieder neue Standorte gestatten müssen – wie z.B. in diesem Jahr mit dem Projekt „FOR SALE“ in Prohlis. Im Kiosk zu sehen wardann u.a. ein Video von der Stadtratssitzung, bei der die Privatisierung der WOBA – für 100 Millionen Euro – beschlossen wurde, und die Dokumentation einer Führung mit 20 als Investoren verkleideten Künstlerkollegen, die sie per Handy durch Prohlis lotsten, um sie über die Kapitalisierung von sozialen Errungenschaften diskutieren zu lassen.
„Wir arbeiten mit den Leuten“, erklären Page und Hertzsch dazu. Ihr noch andauerndes Projekt „FOR SALE“ basiert auf einen offenen Austausch von Informationen und Erfahrungen zwischen eingeladenen Gästen und Bewohnern. Anlässlich der Präsentation von „Fallstudien“ aus anderen Neubauvierteln (u.a. aus Rom und aus Halle/Neustadt) wurden Bewohner eingeladen, um über Themen wie Mieterschutz, Abriss, Arbeitsmaßnahmen und Selbstorganisation in Prohlis zu diskutieren. Dadurch entstanden für die Künstler, für die Gäste des Projekts und für viele Prohliser neue Allianzen, z.B. mit dem Mieterkomitee des vom Abriss bedrohten WOBA-Viertels „Sternstädtchen“, mit „Tanni’s Spätshop“, der allerdings inzwischen von der WOBA mit Hilfe der Polizei und dem Ortsamt vertrieben wurde, mit dem Heimatmuseum Prohlis und mit einer Kindermalgruppe. Die Diskussionen wurden u.a. mit Beiträgen von Stadträten, Vertretern der Stadtverwaltung, Quartiersmanagern und dem Mieterverein im Publikum ergänzt. Drei neue Arbeiten wurden von Künstlern aus Paris, Hamburg und Berlin in Zusammenarbeit mit Bewohnern entwickelt. Der Film „1.Orakel“ (von Prohlis) setzt sich mit der akustischen Wahrnehmung des Viertels auseinander. Für die CD „Ein Song für Prohlis“ sangen Bewohner Lieder über den WOBA-Verkauf. Bei der „Kartoffelshow“ kochten Kinder mit einem Meisterkoch ihre zuvor selbst angebauten Kartoffeln. Anfang September wurde im Heimatmuseum die Bewohner-Ausstellung „Not For Sale“ eröffnet, wobei man Interviews, Bilder,Texte und Fotos – in ein begehbares Stadtteilmodell integrierte. Dazu wurden zwei Projekte von Bewohnergruppen mit 300 Euro unterstützt, die ursprünglich auf Gelder des Förderprogramms „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ (LOS) gehofft hatten: eine Videoaufzeichnung der Selbstdarstellung einer Arbeitssuchenden und die Instandsetzung eines Kleingartens als Ausflugsort für Familien.
„Wir müssen uns mehr Gedanken über die ‚Nachhaltigkeit‘ der Kunst im öffentlichen Raum machen,“ meint Adam Page, „denn die Gelder werden immer knapper und die Projekte werden tiefer gehen müssen, bis dahin, dass sie sich selber tragen.“ Als Beispiel erwähnt er den „Spätshop“ im Erdgeschoß eines Hochhauses von Prohlis. Der Laden – die „Ich-AG“ eines jungen Mannes mit fünf Geschwistern – war von 18 bis 24 Uhr geöffnet: „Er wurde sehr gut angenommen, es traf sich dort bald eine Gruppe von Jugendlichen. Nach sechs Wochen kam prompt die fristlose Kündigung. Der Spätshop sorgte für Unruhe im Viertel. Der Polizeichef rief bei uns an und fragte: ‚Was soll die Zusammenarbeit des Kunstprojekts mit dem Laden bringen?‘ Der Spätshop machte dann um 22 Uhr zu. Die Jugendlichen müssen bis 23 Uhr verschwunden sein, die Polizei kontrollierte das. Inzwischen mußte der Laden sogar ganz schliessen“. Nun verhandeln die Künstler und der junge Mann mit der Polizei über die Möglichkeit eines Spätshops im Info-Kiosk.
Das ebenfalls 2005 begonnene Projekt in Neukölln – „Play n‘ Win 44“ genannt – geht von den Wett- und Spielbüros aus, die dort boomen, obwohl das Glücksspiel nach Meinung von Experten in Rezessionszeiten eigentlich zurückgehen müßte. Hier war es ein Bildungsträger, der „Internationale Bund“, der ihnen einen kaputten Bauwagen zu einem rollenden Wettbüro umbaute. Dieser wurde dann an verschiedenen Orten in Neukölln aufgestellt. Im Innern liefen drei Fernseher, die die Quoten von Livesport-Veranstaltungen übertrugen. Dabei handelte es sich um Judokämpfe, Käfigfußball und Fahrradrennen, die von Schülern der Neuköllner Silbersteingrundschule und einigen Sportvereinen inszeniert wurden – mit bestochenen Schiedsrichtern. Mit den dergestalt manipulierten Quoten bzw. den damit eingenommenen Wettgeldern wurde eine Finanzierung angeschoben, um jene Teile des Tempelhofer Flughafengeländes zu kaufen, die zu Neukölln gehören.
Der Flughafen soll zwar laut Senatsbeschluß 2007 geschlossen werden, u.a. weil die Flugzeuge (vornehmlich Privatjets) alle 15 Minuten direkt über Neukölln donnern – und es immer mehr werden, aber die Lobbyvereinigung „IG City Airport e.V.“, die CDU sowie die Senatsverwaltung für Wirtschaft, der SPD-Bürgermeister Wowereit und der Chef der Bahn-AG Mehdorn wollen seinen Ausbau. Für die Schließung des Flughafens kämpft die „Bürgergruppe Herfurt-/Oderstraße“, sie werden unterstützt von der Senatorin für Stadtentwicklung, die aus dem Gelände einen riesigen „Central Park“ machen will und von den Tempelhofer Grünen, denen ein neuer Zoo vorschwebt (dafür sollen die zwei bisherigen geschlossen werden). Die Flughafenbetriebs-Lobby will dagegen aus dem Abfertigungskomplex, einst das längste Gebäude Europas, nun das „größte Gründerzentrum der Welt“ machen, während Mehdorn für eine „Eliteuniversität“ plädiert, dazu soll die Bahn AG Teile des Gebäudes kaufen, was wiederum der Senatswirtschaftsverwaltung gefällt. Die Künstler Adam Page und Eva Hertzsch fragten sich stattdessen: „wie kann man das von Neukölln aus entwickeln?“ In diesem Bezirk leben 160 verschiedene Kulturen – mittels eines Themenparks „Neukölln World“ möchte man erreichen, dass aus ihnen, aus ihrem Alltag heraus, Ideen dafür entstehen.
Das Projekt zielt also auf eine „Public-Private-Partnership“ (PPP) – in seiner ursprünglichen Bedeutung, die es einst in Amerika bekam. Dazu eine kleine Abschweifung:
Es gibt inzwischen in vielen Ländern PPP-Projekte, und dabei wird gerne davon abgesehen, ob es sich um welche von unten oder um solche von oben initiierte handelt. Dies ähnelt der Malapartschen Ununterscheidbarkeit von Volksaufstand und Staatsstreich.
In Cleveland/Ohio wurden schon während der Reaganomics die Stadtplanungsämter personell derart ausgedünnt, dass die Stadtbezirksverwaltung die Bürger bat, ihre Quartiers-Planung selber zu machen – und sie dann mit dem letzten noch verbliebenen Stadtplanungsbüro bloß noch abzustimmen. Dabei stellte sich heraus, dass von unten ganz anders geplant wird – nämlich unter maximaler Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen. Das meint: dort lokalisierte Handwerkbetriebe, Firmen, Läden usw. Dieses „Cleveland-Modell“ wurde in der Folgezeit als „Public-Private-Partnership“ (PPP) bekannt. Ähnlich wie das 1997 in Wisconsin im Zusammenhang einer Reduzierung der Sozialhilfe entwickelte „Trial Job“-Modell hierzulande von der rotgrünen Regierung übernommen wurde, in dem dann von „Ich-AG“s die Rede war, wurde auch das PPP von den deutschen Staatsverwaltungen sofort aufgegriffen – dabei jedoch völlig auf den Kopf gestellt: Sie machten daraus eine „enge Kooperation“ zwischen Großkonzernen und der Regierung bzw. den Kommunen.
Als Top-Vermittler gilt dabei u.a. die RSBK in Frankfurt/Main sein, Bei dem RSBK-Projekt handelt es sich um die private Staatsconsulting „Rudolf Scharping Strategie Beratung Kommunikation“. Der ehemalige SPD-Vorsitzende bietet darin zusammen mit ehemaligen Oberbürgermeistern und ehemaligen Staatsministern „Werkstattgespräche“ für „kommunale Entscheider“ an. Dabei geht es um „die Vorzüge von PPP“, d.h. ihnen sollen im „Dialog“ diejenigen nahe gebracht werden, die „als Käufer kommunalen Eigentums in Frage kommen“. Dadurch nimmt man ihnen die Skrupel bei der Privatisierung – zwecks Entschuldung ihrer Kommunen. Alle wesentlichen Parteien sind in der RSBK vertreten. Für die „Entscheider“ gibt Rudolf Scharping darüberhinaus auch noch ein monatliches Info namens „PPP-Kompakt“ heraus…“Kein Wunder, dass in diesen Netzwerken das Verscherbeln der mühsam aufgebauten öffentlichen Einrichtungen wie geschmiert funktioniert,“ resümiert der Journalist Albrecht Müller.
Nun sind die Bürger jedoch auch nicht auf den Kopf gefallen, wenn man so sagen darf. Ihre neueste Idee – Konter-PPP – kommt aus London, wo sich neben den staatlich finanzierten Quartiers-Managern (QM) „Kiezräte“ von unten bildeten – nachdem die EU im April 1006 beschlossen hatte, ihre Problemkiez-Fördergelder nicht mehr an den Staat, der sie an die QM weiterleitete, sondern an Bürger-Initiativen zu zahlen – eben an die Kiezräte, die daraufhin natürlich an manchen Stellen flugs ebenfalls von oben „initiiert“ wurden.
Daneben oder darüberhinaus ist derzeit eine andere wundersame Vergesellschaftung – in Form von immer mehr Genossenschaftsgründungen – zu beobachten. Im Wedding haben sich kleine Unternehmen zu einer „Stadtteilgenossenschaft“ zusammengeschlossen, im „Stadtteilverbund Hellersdorf-Süd“ die sozialen Projekte und Vereine. Die nahe Mitte domizilierte Genossenschaft „Königsstadt“ erwirtschaftete bereits Überschüsse – und hat deswegen ihren Mitgliedern die 12.Monatsmiete entlassen usw.. Es gibt darüberhinaus nicht wenige Kunstprojekte, die ein Public-Private-Partnership anstreben. Neu sind jedoch Verbraucher-PPPs.: Da Gaskunden ihre Anbieter fürderhin selber wählen können, haben sich in Bremen und Bad Iburg bereits die ersten Verbraucher zusammengefunden – und „Genossenschaften“ gegründet. In Bad Iburg übernimmt die „Teutoburger Energie Netzwerk Genossenschaft“ (TEN) das örtliche Gasnetz. Auch das ist eine Konter-PPP. Sie müssen dafür einige Million Euro zahlen, sagt der Ex-Betreiber RWE, der einst durch den PPP-Verrat des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer groß wurde.
Während viele künstlerische und politische Projekte mit bestimmten sozialen Bewegungen entstehen und auch vergehen, ist der größte deutsche Alternativbetrieb, die tageszeitung, ein Beispiel für ein Projekt, dass sich im Alltag wandelte. Vor 1989 gab es hier – wie auch beim Pariser Vorbild Libération – zunächst eine Entscheidung oder Scheidung zwischen einer „großen“ und einer „kleinen Lösung“. Die große bestand darin, sich an einen Kapitalgeber zu verkaufen, die kleine, eine Genossenschaft zu gründen, also kleine Kapitalien von unten zu acquirieren. Die Libération entschied sich, der französischen Tradition folgend, für ersteres – und soll nun ausgerechnet an den Springer-Verlag weiterverkauft werden. Die taz – zumindestens ihr nicht-redaktioneller Teil, der alternativökonomisch dachte – für letzteres. Daraufhin wurde hier jedoch das Projekt nach und nach umorganisiert: Am Anfang gab es im wesentlichen nur ein Entscheidungsgremium – die Vollversammlung, und die Ressorts waren noch nicht den bürgerlichen Zeitungen nachgeäfft, sondern den politischen Erfordernissen geschuldet. So gab es z.B., als die RAF-Prozesse sich mehrten, eine Justizredaktion, ferner eine Frauenredaktion und eine Redakteurin nur für die Betreuung von Gefangenen und ihren Knastabos. Dafür jedoch noch keine Wirtschaftsredaktion, weil, so wurde argumentiert, jeder Artikel ökonomisch, d.h. marxistisch fundiert sein müsse. Außerdem waren die Ressorts noch nicht streng voneinander geschieden, ebensowenig die Hand- und Kopfarbeit, d.h. es gab ein Hin und Her. All das wurde sowohl intern als auch extern als „chaotisch“ empfunden und man versuchte, da Ordnung rein zu bringen. Die Arbeit des Sortierens und Abgrenzens hört aber nicht auf. So beschwerte sich der Theaterredakteur der Kulturredaktion z.B. einmal über eine Theaterrezension der Kulturredakteurin in der Berlinredaktion: „Was nehmt ihr euch da raus?“ Die konterte: „Du kannst doch alle Theateraufführungen in Deutschland und sogar in der ganzen Welt besprechen, wir sind für die ‚Berlin-Kultur‘ zuständig.“ „Aber ich kann da nicht überall hinfahren, ich habe ein kleines Kind!“ antwortete sie. Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien gibt es ständig solche „Überschneidungen“ und Versuche von Redakteuren, Verantwortlichkeiten fest zu legen – bis dahin (in der taz), dass die Auslandskorrespondenten „Gebietsschutz“ beanspruchen. Eine völlig bescheuerte Idee: So ist z.B. die Korrespondentin in Bangkok für ganz Asien zuständig. Ich würde als Kreuzberg-Korrespondent nicht einmal für Kreuzberg 61 Gebietsschutz beanspruchen, weil ich schon mit Kreuzberg 36vollkommen überfordert wäre.
Die Sowjetschriftstellerin Marietta Schaginjan hat dazu bereits in ihrem Buch über den Ersten Fünfjahresplan „Das Wasserkraftwerk“ das Nötige gesagt – gegenüber einem linken deutschen Professor: „Man kann das neue Prinzip nicht mit alten Augen, nicht mit den alten Methoden der Wertung erkennen. Es scheint nur so, als würden wir alle einander stören, als hätten wir unsere Funktionen nicht gegenseitig abgegrenzt. Aber wie soll man anders die neue Gesellschaft errichten? Wie das Maß finden? Sie können es ja nicht am Schreibtisch erfinden, nicht auf einen Zettel schreiben: Du, Chef darfst von da bis dort, du, Arbeiter, von da bis dort. Das ist doch völlig unmöglich, denn wir alle, Mitglieder einer einzigen Gesellschaft, haben noch sehr wenig Erfahrung, haben diese Erfahrung noch nicht erworben, sie noch nicht gesammelt. Dadurch, daß wir auf die gegenseitigen Arbeitsgebiete übergreifen, dadurch helfen wir ja, das Maß zu finden, das wahre Gleichgewicht herzustellen.“
Und dabei geht es nicht um (neue) „Herren“, sondern um „Faktoren: „Daß sich jeder Faktor auf Kosten des anderen erweitert, eben das ist der Kampf um das Maß, der Kampf um das System, um die neue Gesellschaft.“
Sehr gut kann man das im Falle der taz an der Entstehung und Entwicklung neuer Redaktionen nachvollziehen: Eine Mitarbeiterin erklärte sich am Anfang für die Fotos verantwortlich, dann rang sie den Redaktionen nach und nach die Pflicht ab, alle Fotos erst einmal über ihren Schreibtisch gehen zu lassen – und dann entstand daraus eine ganze Abteilung. Nun klagt sie jedoch, dass es ihr zu viel wird: „Während die anderen Redaktionen zum Essen gehen, müssen sie weiterarbeiten. Ähnlich war es bei der Leserbriefredaktion und auch bei einigen anderen. Überhaupt kann man von einer wundersamen Stellenvermehrung im Alltag reden – bei gleichzeitiger Seitenreduzierung.
Durch die hierarchisierte Struktur und Funktionsaufteilung zerfiel langsam das, was man einen gemeinsamen Projektwillen nennen könnte. Dies wurde und wird als Befreiung erlebt, denn das Projekt zerfällt in einzelne Willen von Mitarbeitern. Im Maße die ursprünglichen Projektansprüche vergessen werden, sind jedoch die alten Mainstream-Maßgaben wieder bindend – bis in das kleinste Vokabular, d.h. alle Wörter, die in einem normalen Betrieb verwendet werden, gelten nun auch hier. Das Alternativprojekt ist damit nach innen wie nach außen von einem normalen Unternehmensprojekt kaum noch zu unterscheiden – außer dass die taz keinen Profit erwirtschaften muß. Auch die „Alltagsvergessenheit“, vornehmlich der männlichen Kollegen, wurde inzwischen auf die herkömmliche Art angegangen, d.h. es gibt outgesourcte Putzkolonnen, eine Firma, die die Handtücher wechselt, externe Callcenter für die Abobetreuung, einen Controller für die Ressortbudgets usw.. Man sagt: „Der Alltag hat unser Projekt eingeholt“.
So etwas läßt sich auch von den sozialistischen Staaten sagen, die sich jedoch im Gegensatz zur taz, die man als „DDR im Kleinen“ bezeichnet hat, 1989/90 auflösten. Zu Beginn, d.h. nach Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, war der Projektbegriff in der Sowjetunion epidemisch – und es entstand eine reiche Projektliteratur, d.h. Werke, die den Aufbau und den Alltag von Industrie- und sonstigen Projekten begleiteten. Man könnte sogar sagen, die ganze Sowjetunion wurde nach und nach mit einem dichten Netz von Projekten überzogen. So meinte z.B. der Chefingenieur des o.e. armenischen Wasserkraftwerks: „Wenn ich hinter einem vorliegenden Projekt nicht ein Gefolge von zwei, drei, vier, zehn, einer ganzen Kette von Projekten erblicke, dann steht die Sache schlecht und ist nichts.“ Umgekehrt könnte man natürlich auch das Scheitern im scheinbaren Erfolg bei der taz mit dem Ausbleiben „einer Kette von Projekten“ erklären, so wie Trotzki bereits das Scheitern des „bolschewistischen Projekts“ nach der Niederschlagung der Revolution in Deutschland ahnte. Je mehr dies deutlich wurde, desto üppiger entwickelte sich die Projektliteratur.
Den Aufbau-Roman „Das Wasserkraftwerk“ der Stalinpreisträgerin Marietta Schaginian habe ich bereits erwähnt. Genannt sei ferner Anton Semjonowitsch Makarenkos Buch über den Aufbau einer „Kolonie“ für verwaiste Kinder und Jugendliche: „Der Weg ins Leben“, das sich wesentlich von seinem darauffolgenden Roman „Flaggen auf den Türmen“ unterscheidet, in dem es um die Realisierung seines zweiten Projekts – einem Industrieobjekt für Jugendliche – geht, und das bis in die Sprache hinein bereits ganz von „Planerfüllung“ durchdrungen ist. Dann das Buch „Die Baugrube“ vom sowjetischsten aller sowjetischen Schriftsteller Andrej Platonow, der darin wie auch in seinen anderen Werken schon sehr genau zwischen einem Emanzipations-Projekt und einer -Bewegung unterschied. „Scheißkerl!“ schrieb Stalin an den Rand eines seiner Manuskripte, die fast alle unveröffentlicht blieben. Außerdem Wassili Ashajews Bestseller über eine sibirische Großbaustelle: „Fern von Moskau“, zu dem Alexander Solschenizyn in seinem Buch „Der Erste Kreis der Hölle“ anmerkte, dass es ein verlogenes Werk sei, denn ohne dass es erwähnt wird, ginge es darin um ein Zwangsarbeitslager in Sibirien – „vielleicht sogar von einem Sicherheitsoffizier geschrieben“. Schließlich noch Fjodor Gladkows Bestseller „Zement“, aus dem Heiner Müller 1972 ein Theaterstück machte. Gladkow hatte sein Werk bei jeder Neuauflage überarbeitet – und dabei aus den Alltags-Dialogen sukzessive Sonntags-Reden, d.h. eine trockene Funktionärssprache, gemacht. Walter Benjamin, der das Buch in den Zwanzigerjahren las, hatte den Autor gerade deswegen gelobt, weil er ihm als der Erfinder des bolschewistischen Argot galt. Für seine Bühnenfassung gab Müller daraufhin zusammen mit Fritz Mierau die erste Übersetzung von 1927 noch einmal – quasi heimlich – heraus. Schließlich sei noch der Aufbauroman „Das Sägewerk“ von Anna Karawajewa aus dem Jahr 1927 erwähnt.
Soeben erschien auf Deutsch ein polnischer Roman von Daniel Odija, der ebenfalls „Das Sägewerk“ heißt. Es geht darin um die heutigen Bewohner eines Kolchosdorfes – mit einer Kolchosensiedlung, aber seit der Wende ohne Kolchose, dafür jedoch mit einem neuen Sägewerk, das ein Projektemacher (Businessman) aufbaut und womit er einige neue Arbeitsplätze schafft. Er wird mächtig und kann sogar Politikern die Stirn bieten, aber nach einer Reihe von Fehlschlägen geht es bergab. Am Ende zündet er sein Werk an, damit es nicht seinen Gläubigern in die Hände fällt. Odijas neuer Roman könnte fast das Drehbuch zu einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1997 von Ewa Borzecka sein: „Arizona“, in dem sich bereits einige identische Szenen finden.
Der Film handelt ebenfalls von einer Gruppe langzeitarbeitsloser Bauern aus einem Staatsbetrieb, der aufgelöst wurde (bis 1989 wurde 20% der Gesamtfläche Polens von solchen „Kolchosen“ bewirtschaftet), das Gutsgebäude kaufte ein Städter. In den Mittelpunkt ihrer Dokumentation stellte die junge Regisseurin den einzigen Lebensmittelhändler des Dorfes. Er fährt einen Mercedes und verkauft den Armen zwar in der Not kein Brot mehr, versorgt sie jedoch ohne Ende mit dem Billigwein „Arizona“. Dafür darf er die Sozialhilfe seiner Stammkunden bei der Behörde direkt kassieren. Borzeckas Dokumentationen des Elends – neben „Arizona“ ist das noch ein Film über Warschauer Obdachlose, die in der Kanalisation hausen sowie einer über ledige Mütter, die sich durch Beischlafdiebstähle ernähren – bezeichnete die polnische Kritik als „Pornographie“. Es gibt sogar einen „Gegenfilm“ dazu: die Komödie: „Geld ist nicht alles“. Im Suff entführen darin arbeitslose Bauern einen Yuppie aus Warschau, der zufällig mit seinem dicken Auto durch ihr Dorf kommt. Statt ein Lösegeld einzubringen, hilft er ihnen jedoch, die Kolchose für die Marktwirtschaft fit zu machen.
Odijas Roman „Das Sägewerk“ kreist ebenso wie sein Dorf um den Sägewerksbesitzer Mysliwski, der seinem mißratenen Sohn zuletzt auch noch seinen Mercedes überläßt – und sich ganz dem Alkohol widmet bzw. ergibt. Einen Nachwenderoman über einen ähnlich scheiternden Dorf-Projektemacher gibt es neuerdings auch von einem deutschen Autor – von Matthias Göritz: „Der kurze Traum des Jakob Voss.“ Hier ist es ein ehemaliger Bürgermeister, der – gleichermaßen inspiriert von frühsozialistischen wie spätkapitalistischen Ideen – einen riesigen Entenmastbetrieb aufbaut, mit dem er pleite geht. Im großen Ganzen hatte der holländische Sozialforscher Geert Mak dies alles bereits Anfang der Neunzigerjahre in seiner Studie über den „Untergang des Dorfes in Europa“ thematisiert – am Beispiel des friesischen Ortes Jorwerd: Heute wird auch auf dem Land „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“, resümierte er. Feriendörfer, Yachthäfen, Straußenzuchten, Rennstrecken, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village – und verschwand damit.
Eine solche individuelle Projektemacherei hat also kein Zukunft, im Gegensatz etwa zu dem sowjetischen Sägewerksprojekt der Karawajewa. Ihr Roman wurde damals auf Deutsch vom Verlag des sozialdemokratischen „Vorwärts“ veröffentlicht und behandelt im Gegensatz zu Odijas „Sägewerk“ den Aufbau eines modernen neuen Dorfes – mit Elektrizität, industriellen Arbeitsplätzen, Kollektivlandwirtschaft, Wohlstand und Frauenemanzipation. Hier wie dort kommt es dabei zu Toten und Verwundeten und einigen Alkoholismen, aber unter den Kommunisten geht es voran: ein Dorfsowjet wird gewählt und das Proletariat aus der Stadt bringt eine neue Kultur mit aufs Land…Auch hier geschieht eine Brandstiftung im Sägewerk – unter Alkoholeinfluß, aber der Täter realisiert sozusagen im letzten Moment noch, dass er damit Volkseigentum vernichten würde – und alarmiert die „Feuerwehr“. „Wann werdet ihr endlich begreifen, daß ihr jetzt selber die Herren seid?“ hieß es zuvor. Ein etwas später auf Deutsch erschienener und noch agitatorischer angelegter Kolchosenroman aus der Sowjetunion – von Sergej Tretjakow – hieß schon im Titel „Feld-Herren“.
Sowohl in dem Roman der Karawajewa als auch in dem von Odija regnet es viel. Manchmal sitzen die Menschen auch bloß so da, als ob es ihnen auf den Kopf regnen würde. Und hier wie dort geht es um den Aufstieg und Untergang eines gewitzten Kulaken. Was jedoch 1929 eine Befreiung war und Fortschritt bedeutete, auch im Zusammenhang der Schaffung neuer weniger entwürdigenderer Arbeitsplätze sowie auch eines Genossenschaftsladens – statt des wie auch schon wieder bei Ewa Borsecka skrupellosen Einzelhändlers, ist 2003 der Verlust eines Unternehmers: einer letzten Wirtschaftseinheit mit Arbeitsplätzen. Zurück blieben „die Leute“ – als habe man sie „allein ihrem Schicksal überlassen. Nie hatte man ihnen beigebracht, mit sich selber etwas anzufangen. Immer hatte ihnen jemand gesagt, was sie tun sollten. Jetzt sagte ihnen keiner mehr etwas. Sie mußten es sich selber sagen.“ Heißt es bei Odija. Aber das ist rein rhetorisch – denn so weit geht der Autor nicht in seinem neupolnischen Dorfroman.
Vielleicht ist das die Crux der Projektemacherei schlechthin, dass sie per definitionem nicht die Massen ergreifen, mitreißen kann, wie man so sagte. Mit anderen Worten: Die Begeisterung läßt sich nicht wie Salzheringe einpökeln! Deswegen haben vielleicht alle Projektaufbau-Romane – im Gegensatz zu solchen über das Scheitern von Projekten – etwas Verlogenes. Der in der Haft gestorbene Dichter Ossip Mandelstam schrieb – zu Zeiten der großen sowjetischen Aufbau-Romane: „Es ist so weit gekommen… Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden. Die ersteren sind schmutziges Zeug, die letzteren – abgestohlene Luft.“ Und in den Samisdat-„Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ behauptete Boris Jampolski 1975: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karawajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“
Im Westen findet dies sein Gegenstück in den Autobiographien von Unternehmern und Projektemachern. Man nennt dieses Genre hier auch „Success-Stories“. Sie handeln durchweg von Idioten – im klassischen Sinne, also von solchen, die sich erfolgreich um ihren oikos kümmerten – und keinen Gedanken an die polis verschwendeten. Die Weltmeister darin dürften all jene Amerikaner sein, die es mit Lug und Trug vom Hausierer-Sohn zum Multimillionär (wie John D. Rockefeller), vom Webersohn zum „Stahlbaron“ (wie Andrew Carnegie), vom Coca-Cola-Verkäufer zum „Großinvestor“ (wie Warren Buffett) oder vom Programmierer zum „E-Monopolisten“ (wie Bill Gates) brachten.
Und die dann als „Superreiche bzw. „reichste Männer der Welt“ ihre „Verantwortung“, ihre „soziale Ader“ oder ihre „Vision“ entdeckten bzw. derart vom „schlechten Gewissen“ geplagt wurden, dass sie mitsamt ihrem oikos sich am Ende – kurz vor Toresschluss – doch noch der (langlebigeren) polis, der ganz Welt gar, zuwandten. In Form eines gemeinnützigen Projekts – einer Kultur-, Wissenschafts-, Friedens- oder Gesundheitsstiftung z.B.. Wobei letztere nicht selten eine Medizin (er)finden sollen – gegen eine Krankheit, an der zuvor der Big Spender noch gestorben war. Hiermit verklammert sich quasi postmortem die Hoffnung auf ein Fortleben des Selbst mit dem Fortschritt der Gesellschaft. Und das private, an sich geraffte Kapital, das dabei jede Menge Soziales „schöpferisch zerstörte“, soll nun testamentarisch – im Handstreich sozusagen – wieder gesellschaftlich sinnvoll wirken. Wenn das erste Leben ein ebenso gemeines wie unsicheres Alltagsprojekt war, dann ist das zweite gewissermaßen ein hieb- und bibelfestes Sonntagsprojekt.
Abschließend möchte ich in diesem Zusammenhang noch kurz auf die sogenannten Internet-Projekte eingehen, die mein Steuerberater Ulrich Wolffram noch nicht kannte, als er in Pension ging:
Bei der Zerschlagung bzw. Privatisierung der bisherigen Wirtschaftseinheiten und der wachsenden Priorität des Individuums vor allem Gesellschaftlichen – bietet sich als neue Möglichkeit, um zueinander zu finden, das Internet quasi von selbst an, das einige diesbezügliche Projekte – „Indymedia“ und „Labournet“ z.B. – inzwischen als neue Alternative zu den alten Gewerkschaften und sonstigen politischen Organisationsformen begrüßen. Internetideologen, wie der Bremer Organisationssoziologe Rainer Zoll, behaupten sogar: Die alte proletarische internationale Solidarität sei immer ein „Schwachpunkt“ gewesen, heute gäbe es jedoch einige hervorragende Beispiele von „gewissermaßen individueller, oft auch kollektiver internationaler Solidarität, u.a. von jungen Menschen, „die sich in Entwicklungsländern engagieren“. Per Internet vernetzte NGO-Projekte statt Befreiungskämpfe – so könnte man seine Gedanken zusammenfassen.
Das Berliner online-magazin „infopartisan“ kam dagegen kürzlich nach über zehnjährigem Bestehen zu dem entgegengesetzten Resultat: Dass man die Leute gerade nicht über so ein Internetforum organisieren kann – damit werde das Pferd gewissermaßen von hinten aufgezäumt: „Sie müssen sich erst zu konkreten Aktionen bzw. Aktivitäten zusammenfinden, erst dann wird – in einem zweiten Schritt, dieses Medium vielleicht brauchbar für sie“.
Über das schändliche Public-Private-Partnership (PPP) gibt es jetzt auch eine Studie von Werner Rügemer. Sie wurde kürzlich in der Jungen Welt von Jörn Boewe rezensiert:
Privatisierungen öffentlicher Güter sind in den vergangenen zwei, drei Jahren ein bißchen in Verruf gekommen. Die »Public Private Partnership« (PPP) aber wird von den politischen Eliten hierzulande weiter als Heilsweg aus der Staatsverschuldung propagiert, im schwarzen Bayern nicht viel anders als im »rot-roten« Berlin. Das PPP-Prinzip ist einfach. Der Staat überträgt eine Aufgabe, die er bislang in Eigenregie und auf eigene Rechnung ausführte, an einen privaten Investor. Dies kann der Bau und Betrieb einer Schule oder eines Gefängnisses sein, ein öffentliches Nahverkehrsnetz oder ein System zur Parkraumbewirtschaftung. Der Investor erhält dafür vom Staat eine gewisse Summe, üblicherweise zahlbar in Raten, verteilt über den vertraglich festgesetzten »Lebenszyklus« des Projekts, aber selten mehr als 30 Jahre, was bei öffentlichen Gebäuden ein Witz ist, weil die länger halten sollten. PPP-Befürworter versprechen »Effizienzvorteile« von bis zu 25 Prozent. Nachprüfen kann man das kaum. Kalkulationen und Verträge werden geheimgehalten. Selbst vor den Abgeordneten, die ihnen zustimmen sollen.
Werner Rügemer hat nun die erste systematische PPP-Analyse in deutscher Sprache vorgelegt. Akribisch hat er Zahlen und Fakten über Projekte in Großbritannien und der BRD zusammengetragen, was eine substantielle Kritik an den Glaubenssätzen der »PPP-Sekte« (Rügemer) ermöglicht.
Als die PPP-Welle um die Jahrtausendwende ins Rollen kommt, erweisen sich herkömmliche Geschäfte für »Großaktionäre, Unternehmer, Topmanager, Pensionsfonds, Versicherungen«, die »im Geld schwimmen und neue Anlageziele suchen«, wie Rügemer aus der Wirtschaftswoche zitiert, »als zunehmend riskant. Die öffentliche Infrastruktur erweist sich als neue Alternative.« Private Interessengruppen wie die Bertelsmann-Stiftung bereiten strategische Konzepte vor. Regierende Mitte-Links-Parteien – unter Tony Blair und Gerhard Schröder – sind auf der Suche nach einem »nachhaltigen« Modernisierungsprojekt, das es ihnen erlaubt, am ganz großen Rad mitzudrehen.
Nach Blairs Wahlsieg 1997 (»Die traditionelle Finanzierung von Labour durch die Gewerkschaften fiel weg, Blair warb Spenden praktisch nur noch bei Privatunternehmen ein«) sollte die Londoner U-Bahn saniert werden. Die Regierung vergab den Betrieb der »tube« – gegen den erfolglosen Widerstand der Stadtverwaltung unter Bürgermeister Ken Livingston – für 30 Jahre an zwei private Konsortien. »Es wurde vereinbart, daß die beiden Firmengruppen die 275 Stationen, das Streckennetz, die Tunnel, Depots, Signal- und Gleisanlagen erneuern und bis 2032 in Schuß halten.« Dafür sollten die »Investoren« von der Stadt einen Betrag von »etwa« 44 Milliarden Euro erhalten, zahlbar in monatlichen Raten, über einen Vertragszeitraum von 30 Jahren. Gegenüber einer Eigensanierung durch die Stadt sollte dies laut Blair eine Ersparnis von 17 Prozent bedeuten. Mittlerweile fährt in London die teuerste U-Bahn der Welt einfache Fahrt: sechs Euro). Metronet, das größere der beiden Betreiberkonsortien, hat 2007 Insolvenz angemeldet. Sämtliche Schulden trägt der Staat. Wie teuer das Ganze am Ende wird, weiß niemand.
In der BRD wurde PPP unter Schröder/Fischer zur veritablen Option. Im September 2002 stieg der Bund in das »Toll Collect«-Geschäft ein. Ein Konsortium aus Telekom, DaimlerChrysler und dem französischen Konzern Cofiroute sollte bis Ende August 2003 ein System zur Kassierung von entfernungsabhängigen Mautgebühren für LKW installieren und zwölf Jahre lang betreiben – gegen ein monatliches Entgelt aus den Mauteinnahmen. Der Vertrag umfaßt 17000 Seiten und »ist für die Öffentlichkeit, aber auch für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bis heute eine Black Box«. Details, die bekannt wurden, weil das Konsortium den Fertigstellungstermin um 16 Monate verfehlte, sind aufschlußreich: Dem Bund entgingen Einnahmen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro, als Kompensation entrichtete Toll Collect 240 Millionen Euro Schadensersatz.
Rügemer nimmt auch einige kleinere Projekte unter die Lupe. Im Landkreis Offenbach betreibt ein privates Konsortium 90 Schulen. Vor PPP gab der Landkreis etwa 30 Millionen Euro pro Jahr für die Schulen aus, mittlerweile ist es das Doppelte, »mit steigender Tendenz«. Bei einem in PPP-Manier reformierten Bildungszentrum in Frankfurt/Main wunderten sich Lehrer und Schüler nicht schlecht, als der Betreiber plötzlich Parkgebühren verlangte: »ein Euro pro angefangenene Stunde«.
Schnöde Wirtschaftskriminalität ist nichts als »privat vorgezogene Deregulierung unter Umgehung des Strafgesetzbuches«, wie Rügemers Mitkämpfer im Verein »Business Crime Control«, Hans See, einmal schrieb. Bei PPP handelt es sich um professionell eingefädelte Deals zur Ausplünderung öffentlicher Kassen unter juristisch unanfechtbarem Ausschluß des Bürgerlichen Gesetzbuches. Ein Trick der internationalen Wirtschaftskanzleien ist dabei die »Forfatierung mit Einredeverzicht«: Der private »Partner«, der das Projekt vorfinanziert hat, verkauft seine Forderungen gegenüber der öffentlichen Hand an ein privates Finanzinstitut. Der Staat hat nun keinen »Anspruchsgegner« mehr, gegenüber dem er seine Rechte als Mieter geltend machen könnte, verzichtet also »z. B. auf Mietminderung bei Schlechtleistung«. Berater, die die Verträge ersonnen haben, haften nur für »vorsätzliche« Falschberatung. »Sie wissen: Der Staat wird zahlen, und wenn er dafür die steuer- und gebührenzahlenden Bürger, vor allem die abhängig beschäftigten Lohn- und Gehaltsempfänger noch stärker schröpfen oder zu noch niedrigerer Entlohnung zwingen muß als bisher.«
Kräfte, die dem entgegenwirken, sieht Rügemer weniger bei der auf Mitgestalten ausgerichteten Linkspartei. Er widmet sein Buch »den streikenden Lokführern 2007: Sie kämpften diszipliniert und umsichtig für ihre Rechte und unsere Sicherheit, sie ließen den Privatisierungsgang der Bahn stocken, sie rüttelten am Schlaf der Nation, der Arme und Reiche häßlich vereint«.
Werner Rügemer: »Heuschrecken« im öffentlichen Raum – Public Private Partnership. Anatomie eines globalen Finanzinstruments. Transcript Verlag, Bielefeld 2008, 169 Seiten, 16,80 Euro