„Der Zigeuner weiß aufzubrechen, er macht aus dem Aufbruch etwas so Leichtes wie Geborenwerden oder Sterben,“ heißt es irgendwo bei einem der seßhaften, aber nomadologisch vorneweg diskutierenden Franzmänner.
Ich besuchte vor einiger Zeit das 2006 eröffnete Romamuseum in Brno:
In ihren für die Europäische Union 2002 zusammengestellten „Kapiteln aus der Geschichte der Roma“ läßt die Autorin Dr. Jana Horvathova am Schluß den Schriftsteller Bohumil Hrabal zu Wort kommen. Es handelt sich dabei um einen Abschnitt aus seinem letzten 1991 geschriebenen Werk „Zigeunerrhapsodie“, das ein Loblied auf die klassische Romamusik enthält. Auch in vielen anderen Werken von Hrabal kommen Zigeuner vor, deren minoritäre Lebensweise ihm so schön die eher kleinbürgerlichen Neigungen der Mehrheit der tschechischen Bevölkerung kontrastierte. Frau Dr. Horvathovas kurze Geschichte der Roma ist nun der erste Katalog eines von ihr gegründeten Roma-Museums in Brno. Ihr Vater, Ing. Holomek, hatte zuvor bereits die inzwischen größte tschechische Roma-Organisation – „Die Gemeinschaft der Roma in Mähren“ – gegründet, deren Vorsitzender er noch immer ist.
Trotz dieser Initiativen verschlechtert sich jedoch die Situation der Sinti und Roma in der Tschechoslowakei seit der „samtenen Revolution“ 1989 immer mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man sie zunächst in den ehemals von Sudentendeutschen bewohnten böhmischen und mährischen Grenzgebieten zwangsangesiedelt. Das betraf Sinti und Roma aus der Slowakei, Rumänien und Ungarn. Zudem wurden Frauen mit vielen Kindern von den Sozialämtern gedrängt, sich sterilisieren zu lassen (auch aus der Zeit nach 1991 sind noch 31 solcher Fälle bekannt geworden; auf Vorschlag der tschechischen Ombudsstelle für Roma will man sie demnächst entschädigen).
Nachdem sich 1993 die Slowakei von Tschechien abgetrennt hatte, sollten alle Zigeuner, die einen slowakischen Paß besaßen, das Land verlassen, die Slowakei verlangte jedoch, dass Tschechien ihnen einen Teil der davon Betroffenen abnehme. Es kam zu einem üblen Hin und Her, noch dadurch verschärft, dass an den Grenzübergängen nach Bayern und Sachsen immer mehr arbeitslos gewordene Romafrauen und sogar junge -mädchen der Prostitution nachgingen – bis heute.
In der grenznahen westböhmischen Industriestadt Usti nad Labem (Aussig) versuchte man 1999 einige Sozialwohnungen, in denen Roma lebten mit einer langen 1 Meter 80 hohen Mauer von den besser gestellten Anwohnern der Maticni-Straße abzugrenzen. Noch jetzt sagen viele Bewohner der Stadt: „Es sollte doch nur eine Lärmschutzwand sein. Die Zigeuner arbeiten nicht und feiern die ganze Nacht, während wir jeden Morgen früh raus müssen.“ Zuerst demonstrierten die tschechischen Roma dagegen, dann kam es auch zu Protesten im Ausland. Tschechiens Außenminister Jan Kavan meinte daraufhin: „Diese Mauer ist eine Wand zwischen uns und der Europäischen Union“. Staatspräsident Vaclav Havel setzte schließlich durch, dass sie wieder abgerissen wurde.
Nicht verhindern konnte er, dass es zu immer mehr Brutalitäten der Polizei gegenüber den Zigeunern kam – und kommt. Im slowakischen Trebisov eskalierte die Situation 2004 in einen regelrechten Hungeraufstand der dort in so genannten Elends-„osadi“ konzentrierten Roma, nachdem die rechtsnationale Regierung ihnen die Sozialhilfe um die Hälfte gekürzt hatte (115 Euro bekommt dort seitdem eine achtköpfige Familie im Monat) – um die Wohlfahrtsempfänger „zur Arbeitssuche zu motivieren,“ wie es offiziell hieß. Im Osten der Slowakei gibt es rund 700 solcher „osadi“, die man ebenfalls gerne einmauern würde, wäre da nicht die EU mit ihren Menschenrechtsparagraphen sowie die sich organisierenden und wehrenden Roma selbst, die, wie ein Sprecher des tschechischen Romasenders „Rota“ meinte, „einen regelrechten Krieg mit der Regierung und dem Staat führen – wie auch umgekehrt“. In dieser Situation kommt dem Museum von Dr. Jana Horvathova eine wichtige Bedeutung zu. Es stützt sich u.a. auf Leihgaben des von Adam Bartosz im polnischen Tarnow gegründeten „Ethnographischen Museums“ und der slowakischen Gemer-Malohontske-Sammlung in Rimavska-Sobota.
In der Tschechoslowakei wurde 1958 und in Polen 1964 ein Gesetz zur Seßhaftmachung aller Nomaden verabschiedet. Gleichzeitig bekamen die Roma Arbeitsplätze in der Industrie zugewiesen. Da es sich dabei zumeist um Hilfsarbeiten handelte, gehörten sie nach Auflösung des Sozialismus zu den ersten, die arbeitslos wurden. In der Zwischenzeit waren jedoch auch ihre früheren Handwerke (wie Scherenschleifen, Schmieden und Kesselflicken) überflüssig geworden. Ähnliches galt für ihren alten Handelsobjekte – Pferde und Teppiche z.B.. Nur die Prostitution und die Musik blühte wieder auf. Bei letzterer unterscheidet man heute zwischen traditioneller – „phurikane“ – und moderner Musik – „rom-pop“ genannt.
Zwar zersetzte sich mit der Wende die Gleichheit unter den Roma – viele verarmten völlig und einige wenige wurden reich, gleichzeitig organisierten sie sich jedoch immer effektiver – nicht nur national, sondern auch international: in der „Romani Union“. Eine solche entstand erstmalig bereits im Zusammenhang des Prager Frühlings 1969. Sie wurde jedoch 1973 verboten. Kurz zuvor fand 1971 in London der 1. Roma-Weltkongreß statt. Nach 1989 gründeten Dr. Emil Scuka und Jan Rusenko die erste politische Romapartei in der Tschechoslowakei: Bürgerinitiative der Roma – ROI – genannt, die im ersten nachkommunistischen Parlament elf Abgeordnete stellte. Außerdem wurden in den darauffolgenden zwei Jahren mehr Romani-Bücher publiziert als in den ganzen 800 Jahren davor – seitdem Roma in der Tschechoslowakei leben. Daneben entstanden eigene Roma-Zeitungen und -Magazine. Aus der ROI ging dann die IRU, die Internationale Romani Union, hervor.
Die Blüte der Romakultur währte jedoch nicht lange, denn gleichzeitig organisierten sich auch immer mehr rechtsradikale Skinheads gegen die Roma: sie töteten etwa 50 von ihnen bis heute, zuletzt starb ein Roma bei der Hungerrevolte in Trebisov – wahrscheinlich durch Polizistenhand. Die zunehmende Gewalt hat bereits viele Roma in die Emigration getrieben: u.a. die Schriftsteller Margita Reiznerova und Frantisek Demeter nach Belgien und Malvina Lolova nach Australien. Derzeit leben etwa 300.000 Roma in Tschechien, das sind 3% der Bevölkerung. Umgekehrt gibt es eine zunehmende Zahl von Roma, die aus der Slowakei, wo rund 400.000 Roma leben, nach Tschechien emigrieren, weil sie dort anscheinend noch mehr diskriminiert werden und die Arbeitslosenquote unter ihnen über 90% beträgt. Allein 2003 stellten über 1000 slowakische Roma einen Asylantrag in Tschechien, wo man offiziell von inzwischen 14.000 „Übersiedlern“ ausgeht.
All dies ist dem Roma-Museum in Brno zu entnehmen, das in der Bratislavska-Straße domiziliert ist, inmitten eines zumeist von Roma bewohnten Stadtviertels – mit der entsprechenden „Ghetto“-Infrastruktur, die vor allem aus Pfandhäusern, Bordellen, Spielhallen, Nachtbars, einem Stützpunkt der Heilsarmee, mehr oder weniger verfallende Sozialwohnungen und einer städtischen Berufsberatung besteht. 2004 hatte Amnesty International kritisiert, dass der tschechische Staat keine Ausbildungsförderung für junge Roma in seinem Etat vorsehe (Romakinder besuchen in der Mehrzahl Sonderschulen).
Nach einem Besuch des Romamuseum in Brno fragte ich Frau Dr. Horvathova, ob ihre Einrichtung mit dem Roma-Museum in Jerusalem kooperiere und was sie von den Roma-Museen in Holland, in der Ukraine und in Wien halte, die demnächst eröffnet werden sollen. Sie teilte mir daraufhin mit, über die Entstehung von Roma-Museen überall auf der Welt informiert zu sein und dass sie diese Entwicklung begrüsse. „Die Reichweite der Arbeit unseres Museums in Brno ist noch nicht so groß, wie wir es uns wünschen, nichtsdestotrotz kann es als Aufklärung wirken, und zwar langfristig. Aber natürlich müssen die Leute zuerst eine Arbeit haben, eine gesicherte Existenz, und erst dann werden sie sich für die Kultur interessieren, das gilt auch für die Roma.“
Frau Dr. Horvathova hatte ihr Museumskonzept bereits im Herbst 2004 auf einem Symposium der EU über „Roma und Sinti im Europäisierungsprozeß“ vorgestellt. Diese Veranstaltung mit zig Künstlern und Referenten, die in Berlin stattfand, war die erste nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder. Zwar war es begrüßen, dass dabei sogleich das „Zigeunerproblem“ im Osten in den Mittelpunkt gerückt wurde, dennoch war das, was dabei dann herauskam mehr als dürftig – beschämend!
Ende der Siebzigerjahre hatte es schon einmal – in Westeuropa – eine Art Zigeuner-Solidaritäts-Offensive gegeben – von unten. Damals, im „Deutschen Herbst“, entdeckte die Linke diese „fahrenden Leute“ im Zuge ihrer eigenen langsam auslaufenden Bewegung, die sie sich auch nur noch als ganz reales „Nomadisieren“, angetrieben nicht zuletzt vom entsprechenden Sesshaftenhass, vorstellen konnte. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari hat diese Ausflucht dann sogar zu einer ganzen Post-68er-„Nomadologie“ inspiriert.
Das ist jetzt anders: Zum einen handelt es sich – zumindest bei den Roma in Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei usw. – um eine proletarisierte – zur Sesshaftigkeit gezwungene „Minderheit“, die mit der „Demokratisierung“ dieser Länder fast zur Gänze arbeitslos wurde. Und zum anderen beschäftigt man sich jetzt von oben mit „Menschenrechten“ und allerlei parlamentarischen Initiativen zur Verbesserung der Lage der Zigeuner, wobei man ihnen primär nur statistisch zu Leibe rückt – mit anderen Worten: gar nicht!
In allen Ländern der Europäischen Union bis hoch nach Finnland betreiben nun blonde, junge Wissenschaftlerinnen Roma-und-Sinti-Forschung – zum Besten ihrer kleinen Privat-Karrieren. Daneben verschaffen sich auch noch hunderte von EU-Politikern mit dem „Zigeunerproblem“ Gehör. Unterhalb dieser entsetzlichen Repräsentativ-Existenzen dürfen dann – in den Pausen der dementsprechenden Veranstaltungen – auch die „Betroffenen“ selbst zu Wort kommen: mit Gesang und Tanz, in Originalkostümen und für Bargeld. Eine Ausnahme war wie gesagt Dr. Jana Horvathova – mit einem lichtbildgestützten Vortrag in der Humboldt-Universität. Die Dias schienen jedoch niemanden zu interessieren, am wenigsten die gelangweilten studentischen Hilfskräfte der EU-Veranstaltung, die lieber mit ihren Handys oder Laptops spielten, als zum Beispiel das Licht im Saal auszumachen, damit man überhaupt etwas erkennen konnte. Auch dass man danach die schlecht und auf Englisch vorgetragenen Referate der blonden Roma-Forscherinnen so gut wie gar nicht verstehen konnte, störte keinen: Wichtig war wahrscheinlich nur ihre Veröffentlichung in einer Wissenschaftszeitung, die ausschließlich von ihren Doktorvätern gelesen wird.
Einzig der Vortrag des ungarischen Roma-Ombudsmanns Dr. Jeno Kaltenbach fiel etwas aus diesem völlig lächerlichen akademischen Rahmen, obwohl auch er mit Zahlen nur so um sich warf – und, selbst als er gebeten wurde, ein konkretes Beispiel für seine interventionistische Arbeit zu nennen, nur wieder ein allgemeines Procedere nachzeichnete. Vielleicht kann man es so sagen: Seit 1989 – der Rückkehr von der Klasse zur Rasse (Ethnie) – werden überall im Geltungsbereich dieser sich erweiternden EU die Rechte der Sinti und Roma festgeschrieben, verbessert, erweitert – aber im Alltag nimmt ihre Diskriminierung zu – und damit ihre Verelendung. Das „Berliner Festival europäischer Sinti und Roma“ hat das noch einmal aufs schönste bestätigt. Diesen traurigen Blödsinn überhaupt „Festival“ zu nennen, ist schon eine Unverschämtheit! Die ganzen Millionen Euro, die dafür sowie auch zur allgemeinen Verbesserung der Lage der Zigeuner ausgegeben werden, kommen wieder bloß irgendwelchen für sich selbst kämpfenden Jungwissenschaftlern und noch „kämpferischeren“ EU-Politikern, -Kommissaren sowie -Roma-Experten zugute.
Kurz zuvor hatte der in Soweto (Johannesburg) lebende Fotograf Santu Mofokeng auf eigene Rechnung die „Hundeesser von Svinia“, die ärmsten unter den verarmten slowakischen Roma, besucht. Er wurde, weil von dunkler Hautfarbe, sofort von ihnen als „Brother“ aufgenommen – und war erschüttert von ihrer Siedlung: Dagegen wären die südafrikanischen Schwarzenghettos die reinsten Luxussiedlungen, meinte er.
Einige Wochen nach dem pompösen EU-„Festival“ fand im kirchlichen „Hendrik-Kraemer-Haus“ in Berlin-Kreuzberg eine kleine Tagung über „Roma im Neuen Europa – Zwischen Diskriminierung und Selbstvertretung“ statt. Hier wurde dann vor allem von eingeladenen Betroffenen ihre Situation in den neuen EU-Ländern diskutiert. Dabei entstand der Eindruck, dass die Roma und Sinti vielleicht schon bald von einer bedrängten und unterprivilegierten Minderheit zur Avantgarde der EU-Bürger aufrücken könnten – weil sie die nun von allen Seiten geforderten postmodernen Tugenden des homo oeconomicus schon seit langem verkörpern. Als da sind: 1. ihre „Mobilität“, der man sich mühsam mit Wagenburgen, Trailorsiedlungen, Montage- und Vertreterjobs sowie den immer prekärer werdenden Beschäftigungsverhältnissen annähert, die immer häufiger Wohnortswechsel erzwingen. 2. ihre „Entertainment“-Fähigkeiten – als Tänzer, Teufelsgeiger, Sänger etc. -, die sich im Medienzeitalter immer mehr junge Leute wünschen – und antrainieren. 3. ihre „Flexibilität“: heute Hilfsarbeiter, morgen Erntehelfer, übermorgen Politiker oder Ramschhändler – bis hin zu einem permanenten „Projektdenken“, von dem „unsere“ ganzen entsetzten Handwerker und Friseusinnen vorerst nur träumen können (in ihren verzweifelten „Ich-AGs“ und immer neuen Umschulungen). 4. ihr „Sicherheitsdenken“, das sich u.a. im Goldankauf äußert – und somit bereits eine Low-Tech-Variante von „Home-Banking“ darstellt. 5. ihr „Betteln“ – von dem der Richter am Bundesverwaltungsgericht Uwe Berlit behauptet, dass es mit dem neuen „Hartz IV“-Gesetz nun allgemein wird, denn damit „ist zukünftig nahezu alles eine Ermessenentscheidung der neuen ‚Fallmanager‘ der Arbeitsagenturen, von deren Wohlwollen die Gewährung minimalster Rechte abhängt, da sie nicht mehr als rechtsverbindliche Ansprüche existieren, somit auch vor Gerichten nicht einklagbar sind“: Die tendenziell also jetzt alle als parasitär eingeschätzten Bedürftigen dürfen und können bei den Ämtern nur noch um ein Almosen bitten. 6. die „Prostitution“, die ebenfalls in der auf Appeal und Appearance erpichten Medien- und Informationsgesellschaft allgemein wird – und sogar geschlechterübergreifend, was sie bei den Roma und Sinti noch nicht war. Georg Seeßlen vermutet, dass die uns allen drohende neue „pornographische Sexualität“ die auch den Krieg und die Folter „genußvoll“ mit einschließt, auf folgende Ethik hinausläuft: „Dein Körper gehört dir, nicht wie ein geistiges oder historisches Eigentum, sondern wie ein Auto oder ein Bankkonto. Er gehört dir wie Waren im Kreislauf, du kannst ihn verkaufen, vermieten, drauf sitzenbleiben, ihm Mehrwert abtrotzen oder ihn verspekulieren. Je neosexueller du bist, desto weniger kannst du Heimat in ihm haben, aber desto mehr Profit kannst du ihm entnehmen.“ . Ferner 7. der ausgeprägte „Familien- und Sippensinn“ der Roma und Sinti – dem man sich in Form einer von oben bereits durch die rotgrüne Regierung verordneten Refamilialisierung bzw. Subsidiarisierung der ganzen Gesellschaft, dazu noch mit möglichst vielen Kindern, annähern will. Schließlich 8. ihre vielgerühmte „Widerstandsfähigkeit“, d.h. sich nicht unterkriegen zu lassen, von der die immer mehr atomisierten Scheinseßhaften nur lernen können. Und damit zusammenhängend ihr „Living Internet“, d.h. ihr länderübergreifendes Netzwerk von Beziehungen, Assoziationen und Solidargemeinschaften, das schon bald dem der langsam sich zersetzenden Gewerkschaften überlegen sein dürfte. Darüberhinaus ist ihr Konzept der „Identität“ als Rollenspiel zukunftsweisend: Gemeint ist damit, dass Roma und Sinti kein Einheits-„Gen“ haben, keine „Rasse“ oder „Ethnie“ sind, sondern immer wieder andere, Seßhafte und Ausgestoßene, in ihre Kultur, Sprache und Lebensweise integrieren (die Jenischen z.B.), wie sie andersherum auch immer wieder als Einzelne aus der Gemeinschaft bzw. Großfamilie ausbrechen und sich in die sie umzingelnde Großgesellschaft integrieren – wobei sie dann als „Zigeuner“ verschwinden. Dies übrigens ein Grund, warum Romaväter sich gelegentlich gegen die Ausbildung ihrer Kinder sträuben: Weil diese dabei als Familienmiternährer früher oder später auszufallen drohen. Gleichzeitig führen die Sinti und Roma aber als Kollektiv wie oben erwähnt „einen Krieg mit der Regierung und dem Staat“. Zu diesem schier ewigen Kampf gehören auch „nichtformelle Einkünfte“ – also Schwarzarbeit, Diebstahl („Überfälle sind unsere Landwirtschaft“) und generell die Wahrnehmung von günstigen Gelegenheiten – alles Tätigkeiten bzw. intellektuelle Errungeschaften, die nun auch für den scheinseßhaften Teil der Bevölkerung interessant geworden sind, sonst würde der Staat nicht immer wieder zu einer großen Schwarzarbeiterhatz blasen und ständig die Grenzkontrollen ausbauen und vertiefen. (Noch 2003 erhielt die Slowakei bei ihrem EU-Beitritt die „strikte Anweisung“ aus Brüssel, „dafür Sorge zu tragen, dass das slowakische Romaproblem nicht zu dem werde, was es immer war, nämlich zu einer europäischen Angelegenheit. Der freie Verkehr von Waren und Personen, der einer der wichtigsten Gründe war, dass sich die EU überhaupt formierte, sollte denen erschwert werden, die diesen Verkehr in Europa seit Jahrhunderten praktizierten,“ schreibt der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß.)
In Summa: Bald sind wir nun alle durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse im Neonomadismus angekommen – Roma und Sinti genauso wie Nichtzigeuner, und um sich darin zu behaupten, müssen letztere von den ersteren lernen. „Glaube daran, dass das Produktive nicht seßhaft, sondern nomadisch ist,“ so sagte es Michel Foucault.
„Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum…,“ meinte Vilém Flusser. Dieses Interesse haben zuerst die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer „Nomadologie“ ausformuliert, die dann der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zuspitzte: „Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen,“ schrieb er, denn die Arbeitsmigranten nehmen immer mehr zu. Für diese „Überflüssigen“ (Zygmunt Baumann) gibt es keine „freien“ Länder mehr – zum Auswandern, und in ihren Heimatländern nur immer prekärer werdende Jobs. „Die Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen“ sind deswegen laut Neal Ascherson zu Subjekten der Geschichte geworden, d.h. „die Fackel der Befreiung“ ist von den seßhaften Kulturen an „unbehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist – so der Exilpalästinenser Edward Said. Die Plätze, Märkte, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte werden durch sie zu neuen „Agoren“ (Versammlungsplätze in der griechischen Polis), ansonsten sind sie jedoch „unfaßbar“ (Aperoi), wie Herodot die (skythischen) Nomaden nannte. In der besonders von Abwicklung betroffenen Industriestadt Berlin gibt es auch besonders viele Aperoi – und auf sie orientierte Künstlerinitiativen: Neben den Wagenburgen der Rollheimer u.a. das „Institut für Nomadologie“ der Weißenseer Kunststudenten. 2005 gab es am Haus der Kulturen der Welt ein „Nomad Plaza“ von koreanischen Schamanenkünstlern, in der Humboldt-Universität den ersten Roma-und-Sinti-Kongreß der EU sowie mehrere „No Border“-Aktionen – unter Beteiligung des „Bundesverbands Schleppen & Schleusen“. Nirgendwo sonst gibt es so viel „Fluchthilfe-Know-How“ wie in Berlin, meinte der Jesuit Christian auf dem „1. Fluchthelfer- Kongreß“ in Kreuzberg. Vom berühmtesten Fluchthelfer, Oskar Huth, veröffentlichte der Merve-Verlag einen „Überlebenslauf“ und das „Schlepperbanden-Museum“ am CheckPoint Charly ist die bestbesuchteste Dauerausstellung der Stadt. Hier erfand die Dramaturgin Hannah Hurtzig auch 2003 die „Mobile Akademie“, in der kürzlich ein Tanzkongreß 2006 eröffnet wurde. Und Ende Mai erschien anläßlich des 800jährigen Jubiläums des größen Nomaden-Heerführers Dschingis Khan die erste mongolische Zeitung auf Deutsch: „Super-Nomad“ – initiiert von Dondog Batjargal, der in Ulaanbaatar die Jugendzeitung „Super“ herausgibt, an der diese deutsche Nomadenzeitung angebunden ist. Die zweite Ausgabe erscheint in dieser Woche!
Umgekehrt gibt es seit 2003 in Ulaanbaatar ein Restaurant namens „Modern Nomads“ – für die Mongolei studierenden Westeuropäer. Im selben Jahr stellte ein Berliner Architekt am „Tacheles“ ein Super-Containerensemble auf – als Wohnmodell für nomadische Gutverdiener. Für die Schlechtverdiener ist jetzt dagegen die Zeit, sich ihre alten Lastwagen, Zirkuswagen und LKW-Anhänger zu „Mobile Homes“ auszubauen. Sie gehen auf die mongolisch-tatarischen Planwagen zurück, aus denen später die erstmalig mit Pistolen ausgerüsteten Hussiten bäuerliche Kampfwagen machten. Die partisanischen Kosaken rüsteten ihre „Tatschankas“ im Aufstandsfall mit leichten Kanonen und Maschinengewehren aus. Nach dem Angriff wandelten diese „Unfaßbaren“ sie wieder in harmlose Bauernwagen um. Die Siedlertrecks in Amerika und Südafrika taten es ihnen später nach. Heute haben sich in den diversen Rebellenarmeen die „Pick-Up-Trucks“ durchgesetzt, wie der HUB-Kriegsforscher Herfried Münkler beobachtete. Kein Wunder, dass sich beim Berliner Mop (den Mobile People) gerade die NVA-Laster großer Beliebtheit erfreuen.
Aus diesem Kreis interviewte ich einmal zwei Frauen:
„Das Wort ‚Wohnwagen‘ scheint sagen zu wollen, daß die Dialektik des unglücklichen Bewußtseins dabei ist, überholt zu werden, und daß wir dabei sind, glücklich zu werden.,“ schrieb Vilem Flusser einmal. Trotz massenhaft leerstehender Häuser und Wohnungen entwickelte sich in Westberlin in den Siebzigerjahren unter den jungen Leuten ein starker Hang zu Wohnwagen, die sie sich ausbauten, um Leben und Mobilität miteinander zu verbinden. Gleichzeitig wurden jedoch auch die leerstehenden Immobilien immer attraktiver, zumal wenn deren Besetzung auf eine senatsgeförderte Objektsanierung hinauslief. So rückten die Bauwagen der Handwerker in den Kiez ein, von wo aus sie bei Demonstrationen regelmäßig zu brennenden Barrikaden umfunktioniert wurden. Damit war das „Massenmedium Bauwagen“ geboren, was den von der Öko-Gentryfication Betroffenen erst recht die „Rollheimer“-Siedlungen attraktiv machte. Auf den innerstädtischen Brachflächen entstand eine „Wagenburg“ nach der anderen. Nach der Wende wurden die meisten geräumt bzw. an den Stadtrand verfrachtet, gleichzeitig gab es jedoch ein großes Angebot an NVA-Lastwagen und DDR-Bauwagen. Eine Rollheimer-Siedlung, neben dem Georg-von-Rauch-Haus am Mariannenplatz, gibt es bis heute. Dort wohnen u.a. Mandy und Lia. Erstere erzählte mir einmal: „Lia, meine Freundin nebenan, ist viel unterwegs, ohne ihren Wohnwagen, aber meist zieht sie von Wagenburg zu Wagenburg, auch im Ausland. Sie ist noch als Studentin versichert, verdient ihr Geld aber im Puff in der Adalbertstrasse. Ich geh da auch manchmal hin zum Anschaffen, wenn ich nichts mehr zu beißen habe. Das mach ich auch in anderen Orten so: Da wohn ich meist in einer Wohnwagensiedlung und kuck mich dann nach einem Bordell in der Nähe um.
Das scheußlichste Erlebnis, das Lia und ich bisher hatten, war die gewaltsame Räumung der Wagenburg am Engelbecken. Aber dabei lernten wir Christian kennen, einen Jesuitenpriester, der in einer Wohngemeinschaft von ehemals Obdachlosen in der Naunynstrasse lebt und als Schweißer bei Siemens arbeitet. Sein Freund, ebenfalls ein Jesuit, arbeitet in einem Taxikollektiv. Die beiden organisierten den Widerstand gegen die Räumung mit. Das war wiederum eine sehr schöne Erfahrung. Obwohl ich später fand, dass die beiden schon fast zu vorbildlich leben und arbeiten. Auf dem darauffolgenden Autonomen-Kongreß im Mathematikinstitut der TU schälten sie zum Beispiel für alle Teilnehmer Kartoffeln, damit die zwischendurch eine warme Mahlzeit bekamen. Die asketische Einstellung der beiden Jesuiten, hat man mir mal erzählt, hat etwas damit zu tun, dass sie ihre ganze, ungeteilte Liebe den Sakramenten widmen sollen. Das finde ich aber auch übertrieben – männlich, ich weiß nicht…“
Nach der Räumung fuhr Mandy mit ihrem Wohnwagen erst einmal ins Allgäu. „Dort fand gerade in der Nähe das ‚Kornhausseminar‘ statt, wo unter anderem der Philosoph Vilèm Flusser einen Vortrag hielt – über die Küche der Zukunft. Am letzten Tag half ich ihm und seiner Frau noch stundenlang, ihren weggelaufenen Hund im Wald wieder zu finden – vergeblich. Abends kam er dann jedoch von selbst wieder zurück. Flusser hatte sich schon fast mit dem Tod seines Hundes abgefunden und tapfer jeden Anflug von „Sentimentalität“, wie er das nannte, niedergekämpft. Als ich wieder nach Berlin zurückfuhr, begleitete mich ein Wagenburgler von der Eastside-Gallery, die inzwischen auch schon lange geräumt ist. Seine Mutter arbeite in der taz, erzählte er mir. „Cool,“ meinte ich, „überhaupt nicht,“ antwortete er. Die hätten dort beispielsweise eine italienisch geführte Kantine und wenn ihn seine Mutter zum Essen mitnehme, würde die Bedienung sich weigern, ihm einen Teller hinzustellen – weil er zu schmuddlig aussehe. Seine Mutter würde sich daraufhin zwar jedesmal beschweren, aber irgendwie sei sie doch der selben Meinung wie die Kellner.“
Mandys Eltern leben in Kaiserslautern, einmal besuchte ihre Mutter sie in der Wagenburg am Mariannenplatz. Sie war erschüttert, wie ihre Tochter dort lebte: „Schlimmer als die Zigeuner!“ Dabei war sie selbst aus ihrer Wohnung geflüchtet, weil sie es mit ihrem Mann, Mandys Vater, nicht mehr ausgehalten hatte. Aber auch Mandy ging es nicht gut: Sie fühlte sich von einigen Freiern regelrecht verfolgt: „Während der ganzen Zeit war mein Wagen eine Hochburg der Paranoia, die sogar Lia erfaßte. Darauf folgte bei mir eine längere Phase der Euphorie – über die ansonsten nichts weiter zu sagen ist. Und dann überfiel mich eine Depression, die leider noch immer anhält und über die ich deswegen nichts erzählen will, um sie nicht noch realer zu machen als sie ohnehin schon ist. Aber jedesmal hat sich der Zustand meines Wohnwagens verändert: Erst stand er schief, so dass einem ständig der Tee aus den Tassen schwappte; dann schloss die Tür nicht mehr richtig, so dass ich mich ständig beobachtet oder belauscht fühlte, und nun tropft es durchs Dach. Ich wette, bei meinem nächsten seelischen Zustand verziehen sich die Bodenbretter oder der Ofen rußt oder was weiß ich. Jedenfalls reagiert so ein Wohnwagen viel sensibler auf seine Bewohner als das beim sozialen Wohnungsbau jemals der Fall sein könnte.“
in der Tat.verbessern? entdeckt zu werden wie der hier