In der taz-Weihnachtsnummer gibt es eine Interview-Beilage – in der die „üblichen Verdächtigen“ (taz-intern) einige „übliche Verdächtige“ (taz-extern) über dit und dat ausfragen. An mir ist das alles vorbeigegangen, weil ich mich – als taz-Aushilfshausmeister zwischen Weihnachten und Neujahr – gedanklich darauf vorbereitete, das taz-Archiv unterm Dach des gegenüberliegenden Bürohauses zu räumen – und dort in den 1.Stock zu schaffen, wo eigentlich gar kein Platz mehr ist. Aber bis zum 1.1. muß der Raum – mit 70 Meter Regalen – leergeräumt sein.
Die Hauseigentümer wollen aus dem ganzen Gebäude ein Galerie- und Kunsthaus machen. Eine tolle Idee, die auch schon an 22 anderen Ecken Berlins voll verwirklicht wurde. Anscheinend zieht es noch immer in Massen solche – nunmehr Prekären – nach Berlin, die im Rechnen einen fünf und im Malen eines eins hatten – und die stellen dann hier sofort ihre Hochstaffelei auf und legen los.
Als Brigadier, verantwortlich für vier mongolische und eine tschechische Hilfskraft, lege ich mit diesem Zeitarbeitskollektiv morgen ebenfalls los – mit dem Runtertragen der alten gebundenen taz-Jahrgänge und den Regalen. Demnächst gibt es diese alten Jahrgänge im übrigen auch digital – im digitaz-archiv. Eingescannt sind sie bereits – allerdings noch seitenweise.
Vor dieser verantwortungsvollen Ausgabe war ich einige Wochen lang auf Lese- und Diskussionstournee unterwegs zu den letzten oder ersten linken Orts- bzw. Splittergruppen in und um Berlin. Dabei zeigte sich, dass die Entfernung der taz von jedweglichem Ansatz sozialer Organisation und ihre Hinwendung zu einzelnen Personen, die aus Funk und Fernsehen bekannt sind, auch mich bereits derart beeinflußt hatte, dass ich bass erstaunt war – über deren „Locations“.
So war ich seit langem mal wieder im Kreuzberger Mehringhof, wo mehrere Veranstaltungen über die kommenden kommunistischen Aufgaben stattfanden; in Friedrichshain, wo zwei Gruppen „internationaler Kommunisten“ ihre mehrjährige Vereinsexistenz in ihren eigenen Versammlungsorten – Zielona Gora und Schnarup-Thumby – feierten und zu diesem Zweck ein „Kulturprogramm“ auf die Beine gestellt hatten; im Wrangelkiez, wo im ehemaligen „Kaufhaus Kato“ die Arbeiterkampf-Gruppe „Wildcat“ einen Film über die Arbeitskämpfe von italienischen Genossen ab Ende der Sechzigerjahre zeigte; in Brodowin, wo regelmäßig „Gespräche“ über Gott und die Welt, zumeist unter ökologischem Gesichtspunkt, stattfinden – als ich dort war, ging es um Lehren aus dem Kampf um das weggebaggerte Dorf Horno. Dieser Kampf setzt sich nun fort bei den Lacomaer Seen. Erwähnt sei ferner das vielleicht älteste und engagierteste Kulturzentrum auf dem Land – in Weikersheim, wo ich bereits Anfang des Jahres war. Auch das taz-café gehört in gewisser Weise dazu, wo wir in einigen Wochen u.a. einen Interview-Film über fünf Polinnen zeigen, die während der Warschauer Aufstands 1943 als Meldegängerinnen aktiv geworden waren – und anschließend in ein deutsches Kriegsgefangenenlager im emsländischen Moor kamen, wo sie das erste Gefangenenlager für ausschließlich weibliche Soldaten füllten. Der Film (aus Freiburg) heißt etwas irreführend: „Die Konspirantinnen“. Nicht in diese Reihung gehört wohl Kaminers neueröffneter Club „Rodina“ unter den drei ersten S-Bahnbögen des U- und S-Bahnhofs Jannowitzbrücke, aber da er sich als Disc-Jockey einen fähigen jungen Afghanen geholt hat und auch die türkische DJ-Aktivistin Ipek sowie der neapolitanische „Kanakwood“-Gründer Don Rispetto mit von der Partie sind, ferner jede Menge Balkan-Connections – bin ich mir da nicht sicher….
Überhaupt muß ich mir erst wieder angewöhnen, einen regelrechten Schleichweg zu den sich ständig (wieder)findenden und treffenden Gruppen bzw. linken Diskussionsveranstaltungen für mich fest zu trampeln. Sie finden zu allem Überfluß auch noch an wechselnden Orten statt – mal bei den Philosophen an der FU, mal im Naturkundemuseum, im Mehringhof, im Haus der Demokratie, im Audimax der HUB, der FHTW in Karlshorst oder bei den Mathematikern an der TU, in irgendwelchen leerstehenden Läden oder draußen auf dem Land. Die organisierten Anarchisten mieteten vor einiger Zeit einen großen Laden in der Straßburger Straße an.
Die Anarchisten der Freien Arbeiter-Union (FAU), der deutschen Sektion der altehrwürdigen und weltverzweigten IAA, sind in Ortsgruppen organisiert, die sich wiederum – regional – in vier Himmelrichtungen föderierten. In Berlin gab es infolge der Wiedervereinigung plötzlich eine derart große Ortsgruppe, dass man anfing, stattdessen Branchengruppen zu gründen: erst ein Bildungs- und ein Kultursyndikat und jetzt die GNLL: „Gewerkschaft Naturkost-Landwirtschaft-Lebensmittelindustrie“.
Den Anfang machten einige Gärtner. Die Initiative geht auch auf den Gärtner und Anarchisten Thomas Beckmann aus Gransee zurück, der gerade eine Broschüre über polnische Saisonarbeiter zusammenstellt und auf dem ersten Treffen im FAU-Laden bereits eine „Satzungs- und Arbeitsgrundlage“ für die GNLL-„Ortsgruppe Berlin-Brandenburg“ vorstellte. Demnach ist sie eine „Gewerkschaft nach § 54 BGB“. Über ihre Aufgabe heißt es unter Punkt 2.2.: „Erzielung möglichst günstiger Arbeits- und Lebensbedingungen für die Mitglieder“ – die von der GNLL auch juristischen Beistand bekommen. Das war einem der anwesenden Anarchogenossen bereits passiert: Infolge einer antifaschistischen Aktion sollte er 150 Euro Bußgeld zahlen, diese „Unkosten“ übernahm die FAU.
Unter Punkt 2.3. heißt es: „Schaffung und Organisierung gewerkschaftlicher Kooperativen und Verbraucherorganisationen …“ Die GNLL soll also alle Leute, die zwischen Nahrungsmittel-Produktion, -Veredelung und -Handel bis hin zum Endverbraucher stehen, umfassen, d. h., dass die sich organisieren und untereinander kooperieren. Auf diese Weise entstehen unter Umständen neue „Orts-, Regional- und Betriebsgruppen“ – ad infinitum …
Ja, die Revolution ist eine feine Sache, macht aber viel Arbeit. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass wir nicht mal ein halbes Dutzend waren, die da im FAU-Laden zur GNLL-Gründung zusammengeströmt waren. Neben drei Gärtnern war auch noch ein Mitarbeiter des veganen Bioladens in der Pücklerstraße erschienen. Damit war – neben einigen „unnützen Essern“ wie mir – auch das andere Ende der Nahrungskette vertreten.
Daneben ist der Initiator Thomas Beckmann als Gärtnereibetreiber auch noch in der ostdeutschen Öko-Landbauorganisation Gäa aktiv. Er blieb im Übrigen angesichts der großen vor der GNLL liegenden Zukunftsaufgaben gelassen. Für den Anarchisten ist die (stets ehrenamtliche) Organisations- und Funktionsarbeit ein Teil seiner Lebensäußerungen – so wie das Atmen oder das Ausscheiden der Nahrung.
Nietzsche schreibt: Einen Anarchisten ehrt man nicht mit einem Orden, sondern mit einer Hausdurchsuchung. Man sehe sich einen dergestalt Überfallenen nur einmal an: Sein Gesichtsausdruck ähnelt dem eines Verliebten, dem ein Versprechen zuteil wurde. In der März/April-Ausgabe der FAU-Zeitung Direkte Aktion wird berichtet, dass die 15.000 Mitglieder starke schwedische Anarchoorganisation SAC gerade mehrmals von Neonazis überfallen wurde. Diese hatten es dabei vor allem auf das zum Museum umgebaute Geburtshaus von J. E. Hägglund abgesehen – dem später in den USA als Joe Hill berühmt gewordenen Sänger der amerikanischen Arbeiterbewegung.
Über die „anarchistischen Absender“ der italienischen Briefbombenanschläge gegen EU-Politiker schreibt die DA: „Es gibt eine positive Idee des Anarchismus, die im Wesentlichen darin besteht, unter den Voraussetzungen größtmöglicher Freiheit eine Assoziation von Individuen zu schaffen, die jede hierarchische oder autoritäre Struktur hinter sich lässt. Daneben gibt es eine negative Idee, die in der Zerstörung von Staat und Kapital die unmittelbare Voraussetzung dafür sieht, ein freies und selbstbestimmtes Leben führen zu können. In der Wahl der Mittel, dieses geschichtliche Ziel noch beizeiten zu erreichen, sind sich Anarchisten bis heute uneins.“ Im FAU-Laden finden regelmäßig Diskussionsveranstaltungen, aber auch Lesungen statt, außerdem haben sie eine eigene webpage „www.fau.org“.
Aus ihrer Ladenwohnung und dem Internet weg aufs Land zog es dagegen unsere Dealerin. Dieses Entfernen von ihrem Kundenkreis scheint sich bis her jedoch noch nicht pekuniär bei ihr bemerkbar gemacht zu haben – im Gegenteil: jetzt hat sie noch mehr „Besucher“.
Zehn Gramm Haschisch sollen seit 2005 in Berlin legal sein, aber so viel kann ich mir auf einmal gar nicht leisten – bei unserer Dealerin, die nun vor der Stadt in einer alten Mühle wohnt. Hier trifft sich fast täglich der interessanteste Stammtisch. Viele kommen mit der S-Bahn, ganz Eilige auch schon mal mit einem Miet- oder Leihwagen. In ihrer Wohnküche hängt der altdeutsche Spruch „Müllerin, brumm nicht!“, in ihrem Fernseher laufen meistens Quizshows.
Die Müllerin, wie sie auch genannt wird, bietet stets französischen Weißwein an und weiß viel vom vielen Fernsehen. Ansonsten dreht immer irgendein Kunde gerade einen Joint. Die meisten haben es nicht eilig. Einige hören nur zu oder warten auf die Erledigung ihrer Bestellung, andere quasseln ununterbrochen. Derzeit ist es vor allen anderen ein junger Tscheche mit einer umfassenden Bildung, dem zu fast jedem Stichwort eine wissenschaftliche Erklärung einfällt, die oft auf eine umfassende hinausläuft – eine Art „Grand Unified Theory“. Ihm ist nur ein junger polnischer Gelegenheitsarbeiter gewachsen. Auch ein Club-Geschäftsführer redet viel – jedoch nur über sich.
Die Müllerin ist schon lange auf Stütze, aber sie selbst unterstützt noch ihren Ehemann Birja, der vor acht Jahren zurück in den Sudan ging: „Entweder wäre er hier verrückt oder gewalttätig geworden“, meint die Müllerin verständnisvoll. Gelegentlich erkundigen wir uns nach Birja, mit dem sie regelmäßig telefoniert, denn genau genommen sind wir es ja, die ihn finanzieren – und das machen wir auch gerne! Mehrere ihrer Kunden sind Hochschul- bzw. Fachhochschullehrer, einer arbeitet bei der Kirche – und das schon seit Jahrzehnten. Trotzdem kann er sich noch immer über bestimmte Verschrobenheiten in seiner Kanzlei, ja in der ganzen Ecclesia, wundern – und sie vor allem gut wiedergeben.
Das kann man von Gerd, der fixt und säuft und eigentlich für jede Droge zu haben ist, nicht sagen, dennoch sind seine Beiträge von Gewicht. Wie auch die eher zynisch knapp gehaltenen Bemerkungen von Jutta, die in einem Bordell arbeitet, worauf man sie jedoch nicht ansprechen darf. Ein begnadeter Erzähler ist dagegen Max: Der langzeitarbeitslose Historiker kam einst aus Lebernot vom Bier aufs Kiffen – und hat sich auf die Erforschung der westdeutschen K-Gruppen in den Siebzigern spezialisiert. Deren Differenzen kennt er bis in die letzte Arschfalte.
Interessant ist auch der bärtige englische Birdwatcher, ein Künstler, würde ich sagen, er beobachtet gerne Vögel – und das in der Stadt. Hier gäbe es, behauptet er, inzwischen mehr Arten als in der freien Natur, weil die Tiere langsam die Vorteile bemerken: Küchenabfälle, künstliches Licht, sichere Schlaf- und Nistplätze an und auf den Hochhäusern. Man könne sehr gut beobachten, wie verschiedene Populationen ein und derselben Art sich durch Lernen und Vererbung erworbener Eigenschaften in unterschiedlichen Soziotopen langsam auseinander entwickeln. Die Drosseln in Lichterfelde etwa würden sich kaum noch mit den Drosseln im Wedding verständigen können, von denen in Hellersdorf ganz zu schweigen.
Daraufhin kommt zum Beispiel Jutta prompt auf Darwin und Lamarck bzw. auf das „Survival of the Fittest“ (die ganze Natur ein einziger Fitnesspark) versus die „Gegenseitige Hilfe in der Natur- und Menschenwelt“ zu sprechen Und jemand anders bemüht die „morphischen Resonanzfelder“ des Hyperlamarckisten Rupert Sheldrake bzw. den Unterschied zwischen dem Totemtier des New Age in den Achtzigern (Delphin) und dem der New Economy (Wolf). Bei den „Augen“ kommt man aber nicht weiter – mit den Bedingungen ihrer Möglichkeit.
Desungeachtet gestaltet sich so jeder Besuch bei meiner Dealerin als ein Bildungsurlaub auf dem platten Land, von dem man jedoch gar nichts mitbekommt, weil die Müllerin, seit sie da draußen wohnt, erst nach Einbruch der Dunkelheit Besucher empfängt. Straßenlampen gibt es dort nicht und sowieso sind ihre Vorhänge vor den Fenstern immer zugezogen. Mit Paranoia hat das nichts zu tun. Im Gegenteil malen wir uns jedes Mal, wenn wir zu mehreren auf dem Rückweg in der S-Bahn sitzen, erschreckt aus, wie es wird, wenn man das Haschisch vollends legalisiert: Das wäre das Ende der Müllerin – und ihres aus Zufall und Notwendigkeit entstandenen Kundenkreises – ein furchtbarer Gedanke.
Resummierend würde ich sagen, da hat sich bei den
Augen eine absichtlich gemein-böse Attitüde mit
Wunschdenken und auch noch gute Absichten
zusammengetan und es ist etwas explosiv falsch herausgekommen! Kann man glaube ich auch nicht
mehr so einfach trennen. WERTE BEFRAGEN!!!!
Es sind 4 Din-A4 Seiten hier aufgestellt.