Wegen meiner Sonderschichten in der taz mußte ich mir heuer zu Sylvester keine großen Gedanken machen – aber ein bißchen Fernsehen habe ich dann doch gekuckt. Von 30 Kanälen sendeten 15 große Rockkonzerte – auf der Bühne hampelten irgendwelche berühmten Musiker herum und vor ihnen kreischten zigtausend anonyme Fans. Mensch, dachte ich, das ist doch alles Schnee von gestern: Bühne-Publikum, Stars-Fans…Was für ein armseliges Vergnügen. Ein Kabarettist brachte es dann auf den Punkt: Ich erzähle hier vorne von meinen Problemen – und Sie zahlen dafür (Applaus!).
Die andere Hälfte der TV-Programme war jedoch noch heilloser: Da wurden erst alle Topevents weltweit abgeklappert/eingeblendet – Sydney, London, New York und dann die Fanmeile 17.Juni gezeigt, d.h. immer wieder wurden irgendwelche Leute dort interviewt/gefragt, ob sie diese Show, diese Nacht der Nächte, das Feuerwerk, diesen ganzen Quatsch drumherum auch so toll fänden – wie alle anderen, wie der jeweilige Intendant bzw. Interviewer… Das irreste war jedoch, dass die Leute sich wirklich so dermaßen amüsierten. Das machte mich zunehmend aggressiver. Man kann doch nicht Jahr um Jahr den gleichen Scheiß mit sich und anderen veranstalten.
Was soll dieser Blödsinn? Aber vielleicht bin ich auch nur unfähig zur Gewohnheit – ich hasse es schon, mehrmals den selben Weg (zur taz, zum Einkaufen, zu irgendwelchen Treffen) zu gehen. Eine Freundin von mir ist dagegen das reinste Gewohnheitstier: Sie liebt alles Wiederkehrende und Regelmäßige -und wird auf neuen „Strecken“ schnell nervös. Einige ihrer Lieblingsfilme hat sie sich schon 15 mal auf Video angekuckt. Mich macht umgekehrt alles Bekannte zappelig. Auch würde ich gerne jedes Wort nur einmal schreiben – oder höchstens zwei mal.
Dabei sollte einem natürlich klar sein, dass der Hass auf alles „Gewohnte“ nur dann produktiv werden kann, wenn eine satte Mehrheit um einen herum sich in eine gegenteilige Fügung schickt – also möglichst für immer bei der Stange bleibt. Nicht die schlechtesten Biologen haben den Drang zur Gewohnheit als eine unserer Fundamentalfähigkeiten zu begreifen versucht: Wir trachten danach, unsere Tätigkeiten und viele andere Lebensäußerungen möglichst „automatisch“ zu erledigen – um den Kopf wieder frei für Neues oder Anderes zu bekommen. Der Ablauf dieser Erledigungen wird dadurch quasi im Gehirn festgeschrieben – und macht damit „Kapazität“ für neue Aufmerksamkeiten frei. Mein Hass auf diese ewige stumpfsinnige Feierei und den unbedingten Drang, sich zu amüsieren wich langsam einer mäßigenden Wehmut. Woher kam die denn nun? Und was war das für ein Gefühl – war! denn dies denkend war ich bereits wieder draußen (aus dem Gefühl).
Manchmal bilde ich mir ein, es ist wirklich nur Chemie, die uns z.B. alles positiv oder andersherum negativ sehen läßt – und diese chemikalischen Vorgänge werden wiederum von unseren Bakterienkulturen in und auf dem Organismus gesteuert/hervorgerufen. Vielleicht sind diese ganzen Gefühle am Ende nichts anderes als das Sommertheater unserer Mikroorganismen – die wir selber sind? Ihr Freiluftkino, wenn es sich um moderne MOs handelt – in Sonderheit Escherichia coli bzw. jener Biofilm, in dem sie die Handlung bestimmen. Aus irgendeinem Grund neige ich dazu, E. coli stets die Hauptrolle zuzuschanzen, bzw. meine E.colis neigen dazu, sich selbst….So gesehen stritt meine Darmflora und das TV-Programm bloß um Aufmerksamkeit an dem Abend – um mich, als bloßes Nährmedium.
Ein Gedanke von Jean Baudrillard lenkte mich ab: „Es gibt gar kein Medium im buchstäblichen Sinne des Wortes mehr: Von nun an läßt es sich nicht mehr greifen, es hat sich im Realen ausgedehnt und gebrochen…“ Ebenso sei es „mit dem Zeitalter der Repräsentation, dem Raum der Zeichen, ihrer Konflikte, ihres Schweigens“ vorbei: Es bleibe „nur die ‚black box‘ des Codes, das Molekül, von dem die Signale ausgehen, die uns mit Fragen/Antworten durchstrahlen und durchqueren wie Signalstrahlen, die uns mit Hilfe des in unsere eigenen Zellen eingeschriebenen Programms ununterbrochen testen“.
Von den Molekülen zu den Mikroorganismen und zurück ist es nur noch eine Frage der Feineinstellung – der Verkleinerung. Deleuze/Guattari reden vom „Klein-Werden schaffen“, ja vom „Tier-Werden, vom Bakterie-Werden“ – bis hin zum völligen „Unwahrnehmbar-Werden“. Sogar der Reinkarnation entkommen. Man vergißt immer, dass das eine Strafe ist.
Die beiden Franzosen denken positiv. Demgegenüber fiel mir die große Melancholie-Ausstellung vom Frühsommer ein:
Die langen Schlangen vor der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. „Heimweh nach der Vergangenheit und Apathie in der Gegenwart“ – so hat Wolf Lepenies dieses Stimmungstief in seiner Geschichte der Melancholie (1972) genannt. Sie galt einmal als durchaus erkenntnisfördernd: Nur die ergangenen Gedanken haben Wert, meinte dagegen Nietzsche. Solschenizyn ergänzte: Vor allem die erlittenen. Heutzutage rückt man ihr mit Antidepressiva zu Leibe. Mancherorts sogar mit städtebaulichen Maßnahmen – zum Beispiel in den Zürcher Arbeiter- und Rotlicht-„Kreisen 4 und 5“.
Dort leben viele Ausländer – und der Schriftsteller Al Imfeld, der von „wehmütigen Quartieren“ spricht. Mit den Jahren ist bei den Bewohnern die „Spannung zwischen dem Zuhause“ (Zürich 4 und 5) und „der Ferne“ (der Türkei zum Beispiel) gewachsen, während sie selbst gleichsam schrumpften, indem sie weiser, aber auch mutloser wurden. „Diese Wehmutsgefühle bündelten sich in den Schüsseln“, schreibt Al Imfeld – und meint damit die Parabolantennen auf den Balkonen, mit denen man griechische und türkische TV-Sender empfangen kann. Die Apathie in der Gegenwart und das Heimweh nach der Vergangenheit wird damit bis zur Erträglichkeit ausbalanciert, indem ihr Besitzer auf einer Zürcher Wohnzimmercouch sitzend Bilder, aus dem wilden Kurdistan etwa, empfängt.
Aber die Schweizer Stadtregierung sah in dieser quasi biologischen Vermehrung der Satellitenschüsseln eine gefährliche Tendenz beziehungsweise Eigenmächtigkeit und sprach von „architektonischer Verwilderung“ – die sie dann auf dem Verordnungswege auch sogleich eindämmte. Al Imfelds Nachbar holt seitdem seine Schüssel nur noch nachts heraus. Damit sich ihr Aufbau auch lohnt, kuckt er jetzt noch mehr Heimat-TV. Früher war die Melancholie ein zu viel an „schwarzen Säften“ – nun an schwarzen Kanälen. Das gilt auch für die Realheimkehrer: Feridun Zaimoglu, der seine Eltern in Kiel lange Jahre nur als „herbe Melancholiker“ erlebte, berichtet, dass sie inzwischen, da sie als Rentner wieder in der Türkei leben, „große Sehnsucht nach Deutschland“ hätten.
Wiewohl die südeuropäischen Ausländer in Berlin nicht derart ghettoisiert sind wie in Zürich, gibt es auch hier Wohnblocks und Bezirke mit hoher Schüsseldichte: „wehmütige Quartiere“ en masse. Die Zeitungsfotografen nehmen diesbezüglich meist den Schöneberger „Sozialpalast“ aufs Korn, wo sich drumherum ebenfalls „Ausländer-, Rotlicht- und Drogen-Milieu“ (der Spiegel) vermischen. Die Schüsseln sind dafür ein Indikator! Was in Zürich Sozialforscher auswerteten, „499 Parabolantennen allein an den städtischen Wohnbauten“, gilt hier als polizeiliches Indiz.
In Westberlin hat man schon immer eher staatssicherheitspolitisch als stadtästhetisch gedacht. So berichtet der seit 1969 in Kreuzberg lebende Hakan Ufakcan: „Damals durften die türkischen Mädchen abends noch nicht raus, höchstens mit ihrer Familie. Und wir als türkische Jungs durften nie in Diskotheken: ,Nur für Deutsche!‘ hieß es immer. Dasselbe bekam man zu hören, wenn man eine Wohnung mieten oder in bestimmte Berufe rein wollte, handwerkliche zum Beispiel. Uns haben nur Industriebetriebe ausgebildet.“
Nun sind es anscheinend die Araber, die derart diskriminiert werden (zum Teil auch von Türken). Zunehmend werden sie von den Türstehern der Berliner Clubs abgewiesen. Begründet wird dies oft mit der „Nationalität“ der erwischten Taschendiebe, mit ihrem aggressiven Anmachen, Neigung zu Schlägereien und sowieso – wo sind wir denn?!
Anderswo wurden bereits regelrechte Treibjagden auf Araber veranstaltet: unter anderem in Guben, wo ein Algerier zu Tode kam. Seit dem 11. September sind sie die erste ethnische Gruppe in Deutschland, die in toto überwacht wird. Die Polizei ist inzwischen geradezu programmiert auf sie, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sie sich statt von den „Tatort“-Kommissaren mehr und mehr von billigen US-Cop-Serien leiten lässt.
Für die in Berlin lebenden Türken ist damit die Melancholie nicht aus der Welt. Unter türkischen Ärzten kennt man das Gefühl des Dezentriertseins: ein Verlust der Mitte, genau in Nabelhöhe. Was die deutschen Ärzte mit Schmerztabletten behandeln, ist die in Heidelberg praktizierende türkische Ärztin Emy Cohn mit einem kleinen Rundholz angegangen. Dabei wird der Nabel massierend wieder mittig. Emy Cohn schrieb darüber ihre Doktorarbeit… Ja, die große Melancholieausstellung hat „das Thema“ grad mal angerissen.
Ich las an dem Abend dann auch noch den am Nachmittag ausgedruckten 170 Seiten-Report des Menschenrechtszentrum „Memorial“ und des Netzwerks „Migration und Recht“, herausgegeben von Svetlana Gannuschkina, über „Die Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation“. Ihnen geht es nun wirklich beschissen – objektiv sozusagen.
Ach ja und noch was.
Ich bin gestern „von Gott verlassen worden“.
Gott weine ich allerdings keine Träne nach.
Angesichts der Übermacht Gottes in diesem Land
und der Feindseligkeit manch anderer Kraft,
sowie auch angesichts eines Video von mir
der mir jegliche künstlerische oder gar
politische Karriere versperrt, wäre die einzige
Rettung für mich in der Perspektive einen Einlenken
in Bezug auf Österreich.
DIES WIRD NICHT GESCHEHEN.
Und das sollte ihnen wirklich zu denken geben
in Bezug auf Gedanken und tatsächlichen Absichten.