vonHelmut Höge 12.03.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Am Wochenende fand im Theater Hau 2 am Halleschen Ufer eine massenbelehrung über Migranten statt, wenn ich die Veranstaltung richtig verstanden habe. Weil ich dort was über “Dschingiskhanismus auf privater Basis” erzählen sollte (kurz zuvor hatte ich den Auftrag, mit dem tuwinisch/mongolischen Schriftsteller Galsan Tschinag über dessen neuen Buch “Dschingis Khan” zu diskutieren), setzte ich mich am Samstag noch mal hin und sortierte für mich die Begriffe Migrant, Flüchtling, Nomade, Jobnomade, Seßhaftigkeit etc.. Hinterher fiel mir ein, dass ich ja selber vier mal geflüchtet bin (nach Schweden, wegen der Bundeswehr, nach Portugal – wegen der “Nelkenrevolution”, nach Italien – wegen einiger Freunde, nach Paris – aus Perspektivlosigkeit), un d dass ich danach versuchte, mich nomadisch aus dem Staub zu machen (als Wanderknecht bzw. landwirtschaftlicher Betriebshelfer, wie das heute heißt). Und eigentlich bin ich auch heute noch (trotz computerisiertem Arbeitsplatz in der taz) bereit….Alles in allem jedenfalls genug gute Gründe, um über die o.e. Begriffe noch mal nachzudenken.
Als Nomaden werden meist umherziehende Viehzüchter bezeichnet. Die nach Kollektivierung und Zusammenfassung in Kolchosen erneut – auf privatwirtschaftlicher Basis – umherziehenden Viehzüchter bezeichnet man als “Neue Nomaden”. In Ulaanbaatar gibt es seit 2000 ein Restaurant namens “Modern Nomads”, darunter versteht man in der Mongolei annähernd das selbe wie ein FAZ-Kolumnist neulich, als er über diese sich globalisierende neue Szene von Intellektuellen, Künstlern, Programmierern und Projektemachern schrieb, von denen in den nächsten Jahren allein die EU-Ländern 20 Millionen brauchen würden.

Die FAZ zählt diese noch kleine Gruppe der Gewinner auf dem sich globalisierenden Arbeitsmarkt zu den Arbeitsmigranten, deren Zahl in die Zigmillionen geht. Und jeden Tag kommt hierzulande eine weitere Belegschaft hinzu, die irgendwo entlassen wurde – in agrarisch geprägten Ländern ganze Dorfgemeinschaften, die sich auf der Suche nach einem neuen Lebensunterhalt in eine Stadt aufgemacht haben. Die Slums in den Megastädten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sind bereits die am schnellsten wachsenden Siedlungen. In aller Regel entstehen sie durch illegale Landbesetzungen, die dann von der Stadt sozusagen angenommen werden. Diese Landflüchtlinge an den Rändern der Großstädte nennt Mike Davis deswegen “Squatter”. Mit fällt dazu eine Bemerkung von Santu ein, einem Photographen aus dem Johannesburger “Township” Soweto: “Die meisten Menschen können nicht squatten. Sie lassen sich schon von einem Stuhl korrumpieren.” Die Nomaden scheinen diesem Problem eher gewachsen zu sein. Bei ihnen muß sich alles Eigentum selbst tragen. Und deswegen gehören z.B. Bücher nicht zu den von ihnen begehrten Gegenständen. Galsan Tschinag erzählte mir dazu, dass es auf Mongolisch nur einen kleinen Band mit Gedichten von ihm gibt, den er vor etwa 15 Jahren auf eigene Kosten und ganz primitiv noch in Ulaanbaatar drucken ließ. Dieses Bändchen pflege er z.B. Leuter zur Hochzeit zu schenken. Allerdings drücke er ihnen das Buch nicht in die Hand, damit sie es lesen, sondern nehme es, um das erste Feuer in ihrer Jurte damit anzuzünden.

Von den Migranten unterscheiden sich die Flüchtlinge – und zwar dadurch, dass sie ihre Länder nicht aus freiem Willen verlassen haben, wie man so sagt. Theoretisch genießen die Arbeits- oder Wirtschaftsmigranten den Schutz ihrer Heimatländer, während den Flüchtlingen internationaler Schutz zukommt. Praktisch vermischen sich aber Flüchtlinge und Migranten ständig, indem beide Gruppen auf Arbeitsuche sind und dabei meist nur auf prekäre bzw. halb- bis ganz legale Beschäftigungen hoffen können. So werden aus Flüchtlingen Arbeitsmigranten und aus diesen – wenn sie polizeilich gesucht werden – wieder Flüchtlinge. Mit den privilegierten Modernen Nomaden der Neuen Ökonomie, auch “Jobnomaden” genannt, haben sie gemeinsam, dass sie den Kapitalströmen und Konjunkturen folgen. Das geht bis in die einzelstaatlichen Entwicklungshilfen und internationalen NGOs, die gestern Schwerindustrie, heute Gender- und Ökoprojekte und morgen Neue Medien fördern.

All diese Arbeitsmigranten eint, dass sie von A nach B gehen und dann nach C usw., während es den alten, ebenso wie den neuen Nomaden – Viehzüchter, Jäger und Sammler – auf den Weg dazwischen ankommt. Zwar kennen auch die Nomaden Orte – Wasserstellen, Treffpunkte, Winterquartiere – aber sie sind den Wegen, die diese bestimmten, untergeordnet.

Und Orte sind für die Nomaden vor allem Menschen – auf der Suche nach ihnen begibt man sich deswegen direkt dorthin – zu ihnen, d.h. ohne A, B oder C anzusteuern, da sie in Bewegung sind, man weiß selten genau, wo sie sich befinden. Die meisten Staaten der Welt versuchen nicht zuletzt deswegen, sie zur Seßhaftigkeit zu zwingen. Nach Revolutionen und Staatsstreichen kommt es jedoch meist zur Tolerierung der nomadischen Lebensweise. Diese – so hoffen die neuen Machthaber – werde sich mit der Modernisierung des Landes von selbst wieder auflösen. Indem man z.B. Straßen baut, an denen sich links und rechts die Nomaden ansiedeln. Beginnend mit denen, die aufgrund sinkender Fleisch-, Leder- oder Wollpreise bei gleichzeitig knapper werdendem Weideland zu verarmt sind, um sich weiterhin eine Herde leisten zu können. Und das Weideland wird weniger, weil immer mehr Flächen privatisiert und industriell genutzt werden.

In Europa geschah und geschieht Analoges mit dem sogenannten “Bauernlegen”. In Deutschland und Österreich, wo heute noch alle 90 Minuten ein Bauer seine Landwirtschaft aufgibt, spricht man von “Wachsen oder Weichen”. Daneben versucht man hier aus den nicht mehr gebrauchten Arbeitsmigranten, die einst als Gastarbeiter und politische Flüchtlinge kamen, Selbständige zu machen: “Mutige Migranten” nannte die FAZ kürzlich diese Ich-AG-Gründer, die sich nicht selten zu Modernen Nomaden entwickeln, indem sie z.B. ein “Projekt” nach dem anderen zwischen hier und ihrem ehemaligen Heimatland initiieren.

Für solche grenzüberschreitenden Projekte gibt es neuerdings besonders viele Fördermittel. Dazu gehört im übrigen auch die Mobile Akademie von Hannah Hurtzig – mit ihrem wandernden “Schwarzmarkt des Wissens”, hervorgegangen einst aus der “Rollenden Roadshow” der Volksbühne. Genaugenommen hat jede Kunst den Anspruch: grenzüberschreitend zu sein bzw. zu wirken. Immer öfter thematisiert sie dabei auch den Migranten selbst. Neben solchen oder ähnlichen Migrantenprojekten gibt es auch noch die sogenannten Migranten-Wellen, ferner Migranten-Anlaufstellen, und die “Migranten-Gewalt”, der die Polizei mit immer neuen “operativen Gruppen” entgegentritt. Wohingegen es die Migranten-Kunst zwar der Sache, aber nicht dem Wort nach gibt, noch nicht – höchstens die Migranten-Literatur. Sie stammte nicht selten von Kosmopoliten bzw. von Internationalisten. Heute spricht man wieder öfter von “Weltbürgern” – meistens jedoch nur in Nachrufen des Feuilletons, wo es sich auf vielgereiste Großbürger mit Meriten bezieht: die Elite der Jobnomaden sozusagen, die eigentlich gar keine ist, weil sie über genug Mittel verfügt, um auch beim Unterwegssein nicht auf den Seßhaftenluxus verzichten zu müssen.
In der bedeutend kleineren Welt der alten und neuen Nomaden versuchte noch jeder von jedem alles zu wissen – und hockte deswegen ständig zusammen. Das artete nicht selten in endloses Palaver aus – jedenfalls unter den Männern. Der Afrikareisende Amerikaner Denis Johnson schreibt: “Die Männer gingen schlafen, wenn die Frauen aufstanden, und anfingen zu arbeiten”. Dies hat sich jedoch beim Übergang vom alten zum neuen Nomadentum insofern umgedreht, als dass heute die Frauen nicht selten das Kommando in den (wieder) nomadisch lebenden Gemeinschaften übernommen haben: “Die Frauen haben die Ideen und wir Männer setzen sie um,” so sagte es ein mongolischer Viehzüchter in der Wüste Gobi.

Auch in den internationalen Vereinigungen der großenteils nomadisch lebenden sogenannten indigenen Völker sind die Frauen tonangebend. Zudem versuchen alte wie neue Nomaden sich – nicht zuletzt über diese globalen Zusammenschlüsse – gegen weitere oder erneute Seßhaftmachung zu wehren. Entweder indem sie auf Landrückgabe, mindestens Entschädigung klagen oder aber, indem sie für die Einrichtung von Reservaten – für sich und andere Nomadengruppen kämpfen. Weitere Möglichkeiten werden derzeit diskutiert. Mir fällt dazu nur eine kleine (ökologische) Weisheit von Alexander Solschenizyn ein: “Es kommt nicht darauf an, immer mehr zu verdienen, sondern immer weniger zum Leben zu brauchen.”
Es könnte nämlich sein, dass heute die Seßhaftmachung der letzten Nomadenvölker nicht mehr möglich ist, weil sich gleichzeitig der Nomadismus von den Industrieländern her global ausbreitet und immer mehr Seßhafte zwingt, sich mit dieser Lebensweise vertraut zu machen. Aber dies zu sagen bedeutet: Dem stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse das vielstimmige Palaver entgegenzusetzen. In der Mongolei scheint sich Derartiges gerade durchzusetzen: Fast täglich demonstrieren die Leute auf dem größten Platz von Ulaanbaatar für einen vernünftigen und allseits akzeptablen Umgang mit den natürlichen Reichtümern des Landes und gegen Korruption, ausländische Einflußnahme etc..
In diesem Zusammenhang verdient eine Bemerkung oder Ausrede Erwähnung, die einmal ein Architekt aus Mocambique zwei Filmemachern aus Johannesburg entgegenhielt, nachdem sie ihn kritisiert hatten, weil er über drei Stunden zu spät zu einer Verabredung mit ihnen gekommen war: “Oh, I didn’t know, you are still in this time-thinking.”

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