vonHelmut Höge 17.04.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Die Meinungsführer legen Wert darauf, dass man ihre Statistiken für „harte Fakten“, also für die Wirklichkeit selbst, hält (ich rede nicht von der Wahrheit, die in Sätzen wie „Glaube nur der Statistik, die du persönlich gefälscht hast!“ zum Ausdruck kommt). So wurde z.B. ab 1991 ständig betont, dass die Arbeitslosigkeit im Osten nicht mehr als 20% betrage, obwohl sich dort die meisten in ABM oder Umschulung befanden und arbeitslose Ehepartner von Nochbeschäftigten ebenso unberücksichtigt blieben wie Sozialhilfeempfänger und alle beim Arbeitsamt nicht Angetanzten. Die mehrmals abgeänderte Statistik war ein reines Beruhigungsinstrument. Gleiches gilt auch für den „Teuro“: Regelmäßig wird „statistisch bewiesen“, dass seit seiner Einführung nichts teurer geworden ist. In Wirklichkeit haben sich jedoch alle Preise für Konsumenten wie Dich und Mich nahezu verdoppelt – bei sinkendem Einkommen. Ein weiterer Schwachsinn ist die Behauptung: Wir werden immer älter. Statistisch gesehen ist das richtig, faktisch wurden die Menschen jedoch früher viel älter – nur dass damals u.a. die Kindersterblichkeit das „Durchschnittsalter“ von Männern und Frauen erheblich senkte.

Heute macht übrigens den Frauen besonders die Statistik bei der Früherkennung vermeintlicher Behinderungen ihrer Ungeborenen zu schaffen: Wenn der Arzt ihnen z.B. sagt, „die Chance, daß ihr Kind einen Gehirnschaden hat, liegt bei 68%, sie müssen selbst entscheiden, ob sie das Risiko tragen wollen“. Diese „68%“ sind der schiere Unsinn und können zudem bloß eine leichte, von der Norm abweichende Entwicklungsverzögerung bedeuten.

Gleich mehrere Lügen der Statistik widerlegte neulich die im havelländischen Jahnberge lebende schwäbische Kämpferin Ulrike Rilke. Die Bürokauffrau hatte in Stuttgart bei einer 20-Stundenwoche 1400 Euro verdient, im Osten fand sie keinen Job, verheiratete sich aber mit einem Wachschützer, der in seinem Vollzeitjob 800 Euro im Monat verdiente – bis auch er arbeitslos wurde. Frau Rilke fand dann eine Anstellung als Putzfrau/Zimmermädchen in einem Hotel, wo sie nun 2,50 Euro pro Zimmer bekommt. Ihr wurde gesagt, dafür sei aber im Osten alles billiger. Das prüfte sie genau:

„Es stimmt nicht, die Mietnebenkosten sind hier sogar höher“. Sie schrieb daraufhin einen Brief an den Bundeskanzler. Der ließ frech zurückschreiben: „Im Osten werden 93,6% der Westgehälter verdient“. Da war sie erst mal baff! Die Politiker leben in einer fiktiven Welt der Statistik, aufgrund derer sie „Entscheidungen treffen“ – im Gegensatz zu den weitgehend machtlosen Menschen, die in einer völlig empirischen Welt leben, wo sie jedoch aufgrund ihrer Vereinzelung der eigenen Erfahrung nicht mehr trauen – und sich für blöd verkaufen lassen! Jeder weiß inzwischen, dass der Osten geradezu verödet und dort jetzt noch weit weniger Leute als in den Neunzigerjahren Arbeit haben. Was aber schreibt der Chefredakteur der „Geldidee“ und Miteigner der Netzeitung Ralf-Dieter Brunowsky? „In den neuen Bundesländern sollte man sich daran erinnern, daß die hohe Erwerbsquote in der ehemaligen DDR von über 90% der Zwangsarbeit (!) zu verdanken war. Arbeitslosigkeit war verboten…Die durchschnittliche Erwerbsquote in der EU zu jener Zeit betrug 66 %. Heute haben wir in vielen Städten Ostdeutschlands Arbeitslosenquoten von 23%. Ungefähr die Differenz zwischen EU-Durchschnitt und der damaligen Zwangsarbeit. Weil alle beschäftigt waren, erhalten auch alle volle Rentenbzüge, die heute im Durchschnitt höher sind als in Westdeutschland“. Da hat es dieser reaktionäre Faselkopf den Zonis aber richtig gegeben!

Wie recht hatte doch Michel Foucault, als er meinte: „Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln!“ In der Medienpolitik genügt es bereits, wenn man z.B. den BILD-Lesern täglich genüßlich irgendwelche Verbrechen von arabisch aussehenden Ausländern vorsetzt – sie rechnen es sich dann schon selber paranoisch hoch. Wobei der Journalismus, allen voran der des Spiegel, diesen Hang noch unterstützt, indem er aus jedem Phänomen flugs einen Trend macht – mit Worten wie „immer mehr“ und „eine zunehmende Zahl von“. Inzwischen gibt es kaum noch Ereignisse ohne diesen Zusatz, der ihnen Relevanz anhängt. Daneben gibt es jedoch auch ein paar verunsicherte Meinungsmacher, die nach Kompromissen suchen – und dann z.B. in bezug auf den Euro immerhin von einer „gefühlten Inflation“ reden, von einem „Gefühlsantisemitismus“ gar oder auch von einem „gefühlten Prozentsatz“ (an Ausländern z.B.). Das heißt, letztendlich ist es die Statistik, „die in zunehmendem Maße gefühlt wird“.

Denn mit wachsender Zentralisierung in Politik, Wirtschaft und Verwaltung werden immer mehr Lebensbereiche nur noch durchschnittlich erfaßt und als solche angegangen. Die Arbeitsämter und -agenturen operieren z.B. gerne mit „Vermittlungsquoten“ – aber kaum sind die veröffentlicht, haben die Leute auch schon wieder ihre ganzen komischen Jobs verloren. Nicht mal die Besucherzahlen der öffentlichen Bäder stimmen: alles geschönte Zahlen bzw. aus dem Ärmel geschüttelte. Höchstens in der Versicherungsbranche versucht man noch das „statistische Risiko“ zugunsten der Wirklichkeit zu minimieren. So gilt dort z.B. das mögliche wirtschaftliche Miteinbeziehen der Prämie als eine nachträgliche Risikoerhöhung -zu Ungunsten der Versicherung: man nennt das dort ein „moral-hazard-problem“ (wenn ein Wirt etwa seine schlecht gehende Kneipe anzündet, um sich über die Prämie zu sanieren). Für die mathematische Lösung dieses Versicherungsproblems erhielt der Wirtschaftsforscher Vickrey William unlängst sogar den Nobelpreis!

Noch nicht befriedigend „gelöst“ ist dagegen das „statistische Gefühl“, mit dem sich alljährlich die jungen Leute einer Epedemie gleich und weltweit die selben Gadgets antun, umhängen oder reinwürgen – Brillies in Bauchnabel, Schlüsselbänder um den Hals, Flipflaplatschen, Wasserflaschen, Caipirinhas usw. Bisher besteht die „Lösung“ nur darin, den nächsten Sommer – der mit großer Wahrscheinlichkeit ganz neue Persönlichkeitsutensilien mit sich bringt – abzuwarten und dieser gewittergleichen statistischen Gewalt dadurch quasi auszuweichen.

P.S.: In der taz gibt es jetzt ein neues „Board“, das „Kommunikation!“ heißt – und aus lauter Statistiken besteht: Verkaufszahlen, Abozahlen etc..

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/04/17/homo-statisticus/

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kommentare

  • Die Zeitung der Industriegewerkschaft BAU (Bauen, Agrar, Umwelt) – „Der Grundstein/Der Säemann“ berichtete in ihrer April-Ausgabe:

    „Wir kämpfen gegen die Tricks der Arbeitgeber und helfen, damit die Gebäudereinigerinnen zu ihrem Recht kommen,“ begründet IG BAU-Bundesvorstandsmitglied Frank Wynands eine besondere Aktion der Gewerkschaft.“

    Es handelt sich dabei um eine zentrale Hotline gegen Lohndumping in der Gebäudereinigung – Sie hat die gebührenfreie Rufnummer 0800 – 442 28 02. Dort können ab sofort alle Reinigungskräfte anrufen, wenn irgendwo der tarifliche Mindestlohn (7,87 Euro pro Stunde in Westdeutschland und 6,36 Euro in Ostdeutschland unterschritten wird oder andere Probleme bei der Bezahlung auftreten.(Mo bis Fr von 7 bis 20Uhr und Sa von 9 bis 18 Uhr)

    Schon in der ersten Anruf-Woche wurden zehn „schwerwiegende Verstöße gegen den allgemeinverbindlichen Lohntarifvertrag“ gemeldet.

  • Der JW-Chefredakteur Arnold Schölzel, der wie ich seinerzeit von Ritterhude aus in die weite Welt flüchtete – indem er von der Bundeswehr desertierte (ich nach Schweden, er in die DDR, wo er dann Philosophie studierte), schreibt heute in einem JW-Kommentar über die neueste ARBEITSLOSENSTATISTIK:

    Fast Jahr für Jahr wird die Statistik der Bundesagentur für Arbeit brutaler gefälscht. Nach Meinung der Gewerkschaften gibt es derzeit etwa sieben Millionen, nach Meinung einiger Experten bis zu zehn Millionen Arbeitsuchende in diesem Land. Die Offiziellen selbst räumen ein: 1,4 Millionen Menschen werden nicht gezählt, weil sie in »arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen« stecken, viele über 58jährige und alle Ein-Euro-Jobber fallen aus der monatlichen Propagandashow von Nürnberg. Aber unabhängig von der amtlichen Fälschung: Die Daten vom Mittwoch mit »ein Grund, stolz zu sein« (Müntefering) zu begrüßen oder als »sehr erfreulich« (Merkel) zu bezeichnen, ist dreist.

    Vier Millionen offiziell gezählte Arbeitslose sind demnach in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2007 ein Anlaß zur Freude. Das festzustellen heißt, ein Urteil über das gesellschaftliche System, seine Politik, seine Wirtschaftsverhältnisse und die geistige Verfassung des Führungspersonals, fällen. Außerdem: An der Langzeitarbeitslosigkeit, an der Erwerbslosigkeit der Niedrig-Qualifizierten hat sich nichts, aber auch nicht das geringste geändert.

    Aber eine Unverschämtheit allein reicht denen nie. Die Bundesregierung und die ihr zum Munde redenden »Wirtschaftsweisen«, so meldeten die Agenturen, führten den »Erfolg« auf das Wirken der »Reformen«, insbesondere auf Hartz IV zurück. Dem Blödsinn folgt nicht einmal die hiesige Wirtschaftspresse. Sie spricht von einem Investitionsstau, der jetzt aufgelöst wird, von anhaltendem Exportboom und von nach wie vor geringer Kaufkraft hierzulande. Die realen, nämlich schlechten Verkausfsdaten des Einzelhandels belegen das ebenso wie auf seine Weise das permanente Geblödel auf allen Sendern und allen anderen Werbeträgern von wachsender »Konsumneigung« und Anschaffungsoptimismus, der die Bundesbürger angeblich an die Regale treibt.

    Dem ist nicht so, und ein Grund dafür sind eben die genannten »Reformen«, sprich die Einführung von Zwangsarbeit, das wiederholte systematische Ausplündern von Alten, Patienten und Jugendlichen, die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft durch flächendeckende Einführung eines Niedriglohnsektors in der Bundesrepublik, der neben »Enttabuisierung des Militärischen« (Schröder) größten Leistung von SPD und Grünen. Selbst der Bürgerpresse geht die öde, dreifaltige Frechheit – Freude über vier Millionen Arbeitslose; das ist unser Erfolg; Arbeitslöhne, mit denen keine Miete bezahlt werden kann – zu weit. Sie sagte am Mittwoch: »Das sogenannte Prekariat stellt die Mehrheit« (Westfalenpost), »traurige Melodie der neuen Ausbeutung« (Frankfurter Rundschau), »Flächenbrand« (Leipziger Volkszeitung). Es läßt sich auch sagen: Je höher der Druck im sozialen Kessel, desto feuriger spielt die Tanzkapelle im Bundeskanzleramt.

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