vonHelmut Höge 18.04.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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"Pöbel oben, Pöbel unten!" (F.Nietzsche)

Die Anti-Hartz-IV-Aktivisten der Gruppe “Anders Arbeiten” sind außerordentlich aktiv.
Einmal veranstalteten sie eine Diskussion über die “Marginalisierten – Am Rande der
Gesellschaft”. U.a. berichtete dort der Kreuzberger Pfarrer Peter Storck
über seine Erfahrungen mit Obdachlosen, die er für “relativ
überlebensfähig und sehr eigensinnig” hält – und deswegen als
“Avantgarde” begreift. In den Zwanzigerjahren ließ sich Gregor Gog bei seiner
Organisationsarbeit unter “Landstreichern” ebenfalls von solchen
Überlegungen leiten. Und noch in den Achtzigerjahren gab es in Italien
eine Art Netzwerk von jungen Obdachlosen, die sich stolz “streunende
Hunde” (cani scolti) nannten. In bezug auf die Hartz-IV-Betroffenen gab
eine Diskussionsteilnehmerin aus einer Friedrichshainer
Arbeitsloseninitiative jedoch zu bedenken: “Wir stellen uns die
Erwerbslosen immer zu homogen vor. Alle gehen anders mit ihrer
Arbeitslosigkeit um. Man kann sie nicht einfach mobilisieren.” Die
darauffolgende Diskussion kreiste dann leider allzu theoretisch um den
Begriff der “Überflüssigen”, es sei deswegen hier noch einmal historisch
etwas ausgeholt…

In seiner “Geschichte des Abfalls der Niederlande” besang Friedrich
Schiller 1788 den Aufstand der Geusen, “wo die Hülfsmittel
entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in
ungleichem Wettkampf siegten”. Dass dabei von den bilderstürmerischen
Unterschichten auch viele gutes, d.h. teures Porzellan zerschlagen
wurde, verzieh er dem “Pöbel” – der “vile multitude” – jedoch nicht.
Ähnlich schillernd äußerte sich dann auch Marx über das
“Lumpenproletariat” – und seine zwielichtige Rolle in der
Arbeiterbewegung. Dessen Hang zur Käuflichkeit und Verräterei wird von
ihm jedoch nurmehr am Rande vermerkt. Ausführlicher haben sich später
die Bolschewiki mit diesem “Rand” beschäftigt: Das Subproletariat ( die
Kriminellen, Tagelöhner und Obdachlosen) galt ihnen als “klassennahe”,
wohingegen sie die Intelligenz als zwielichtig-schwankende
Zwischenschicht begriffen. Alexander Solschenizyn, der, wie viele andere
Gulag-Häftlinge, unter den Kriminellen litt, die mit den Bewachern fast
eine Art Doppelherrschaft in den Lagern ausübten, hat diese “romantische
Haltung” gegenüber den asozialen Verbrechern scharf kritisiert, sie
jedoch als alte russische Verblendung begriffen, die bereits mit
Puschkin begann.
Auch in England beschäftigte man sich lange Zeit mit
diesem “Mob” (mobile people) – jedoch nicht aus romantischen Gründen,
sondern aus lauter Angst des Bürgertums vor den “gefährlichen Klassen”,
deren Wohngebiete als Brutstätten von Hass, Gewalt, Alkoholsucht und
Seuchen galten. In den USA entstand aus dieser Sozialhygieneforschung
eine Art Aktionssoziologie, berühmt wurde dabei die Chicagoer Schule von
Robert E. Parks, deren Forschungsansätze später von Pierre Bourdieu
aufgegriffen wurden sowie von den “Europäischen Ethnologen” an der
Humboldt-Universität um Rolf Lindner, der darüber zuletzt das Buch
“Walks on the Wild Side” veröffentlichte.
Auch politisch wurden in
Amerika die “Randgruppen” aufgewertet – u.a. von Herbert Marcuse: Die
Arbeiterklasse war nach ihm reformistisch integriert und deswegen
vielleicht nur noch die prekär beschäftigen und diskriminierten Farbigen
zur Rebellion fähig. Die daraus folgende “Randgruppenstrategie” machte
sich die westdeutsche Studentenbewegung zu eigen, d.h. man kümmerte sich
vermehrt um Knackis, desertierte schwarze GIs, Drogenabhängige und vor
allem Trebegänger (entflohene Heimjugendliche), die in den vernetzten
Kommunen und WGs Unterstützung und Unterkunft fanden, wobei sich die
beiden “Scenen” trotz Rückschlägen (u.a. Diebstähle) langsam
vermischten, weil gleichzeitig auch immer mehr mittelschichtige Linke in
den Knast kamen, von Drogen abhängig oder Landstreicher auf Zeit wurden.

Erst begriff man alles Private als politisch, dann wurde auch
neobolschewistisch der Unterschied zwischen kriminell und politisch
verwischt, wobei man Verbrechen zum Zwecke der individuellen
Bereicherung und des sozialen Aufstiegs solchen gegenüberstellte, die
aus guten moralischen und politischen Gründen verübt wurden. Zu
letzteren zählten Raubdrucke, Ladendiebstähle und die Ohrfeige, die
Beate Klarsfeld dem Altnazi Kiesinger verabreichte, ebenso wie die
Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die RAF oder die
Briefbomben des UNA-Bombers Theodore Kaczynski in Amerika. Dennoch
wurde immer wieder zur Vorsicht im Umgang mit subproletarischen
Sympathisanten geraten, denn Polizei und Staatsschutz rekrutierten ihre
V-Leute und Provokateure ebenfalls aus diesem “Rand”, woran neuerdings
noch einmal in dem Buch “Spitzel” von Markus Mohr und Klaus Viehmann
erinnert wird. Sie beschäftigten aber auch schon die russischen
Sozialrevolutionäre ab Mitte des 19. Jahrhunderts.

So hielt die berühmte Ex-Terroristin Vera Sassulitsch z.B. einen Vortrag über den umstrittenen
Mörder und Verschwörer Netschajew, den sie - ähnlich wie heute Andreas
Baader - ob seiner amoralischen Rigorosität als nicht zu ihnen gehörig
begriff. Besonders drängend wurde das "Verräter"-Problem unter den
antifaschistischen Widerstandskämpfern im Zweiten Weltkrieg. So
berichtet z.B. Hans-Peter Klausch in  seinem Buch über die
Bewährungsbataillone "Die 999er" von vielen Fällen, da eine Gruppe,
meistens  Kommunisten, die zum Feind überlaufen wollte, von Kriminellen
verraten wurde, was jedesmal ihre Erschießung zur Folge hatte. Die
Kriminellen wollten damit ihre "Wehrwürdigkeit" und andere bürgerliche
Rechte wiedererlangen. Es gab jedoch auch immer wieder welche, die sich
den Überläufern anschlossen.

Der Klavierstimmer Oskar Huth, der während
des Krieges zwanzig untergetauchte  jüdische Familien in Berlin mit
Lebensmitteln versorgte, berichtet demgegenüber: "Wer wirklich Leute
versteckte, das waren die Proletarier untereinander. Die Ärmsten halfen
den Armen. Und die Leute, die wirklich Möglichkeiten hatten - da war
nichts, gar nichts." Zu den Hilfswilligen zählten auch Subproletarier.
Heute kann man fast sagen, dass diese und andere "Arme" aufgrund ihrer
langen  Erfahrungen mit Bedrängnissen aller Art, aber auch wegen der
anhaltenden Bemühungen von Kirchen, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung
um sie, eher zu viel Religion und Moral haben - sonst wären sie nicht
arm!

Umgekehrt haben die in dieser Hinsicht so lange vernachlässigten
"Reichen", zumal nach Ersetzung des protestantischen Unternehmers durch
durchtriebene Manager und dubiose Politprominenz einen derartigen Grad
von Glamour und Amoralität erreicht, dass sie eigentlich jeder Art  von
Sozialbetreuung bedürfen. Der prominente Anwalt Jonny Eisenberg sprach
einmal, durchaus selbstkritisch, von "Reichtumsverwahrlosung", die viel
schlimmer als die Armutsverwahrlosung sei, weil man ihr mit Geld nicht
beikommen könne.

Solschenizyn erwähnt in seinem "Roten Rad" die zaristischen Offiziere,
die, nachdem man etliche von ihnen erschlagen hatte, schnell lernten,
"auf der Welle der Revolution zu surfen", d.h. sich an die Spitze der
Bewegung ihrer Truppen zu stellen. Erst der "Befehl Nummer 1" des
Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats stoppte diese fatale Entwicklung.
Von den durch die Studentenbewegung anfänglich bedrängten Professoren
gab es ebenfalls nicht wenige, und zwar die ekelhaftesten, die sich
sogleich an die Spitze der Rebellion setzten - und heute natürlich zu
den schärftsten "68er-Kritikern" gehören. Ähnliches gilt für entsetzlich viele Künstler.
Joachim C.Fest konnte deswegen sagen, wobei er einen nach New York emigrierten Maler plagiierte:
"Die Produktivität der Künstler resultiert aus ihrer moralischen Verkommenheit.
Aus ihrer Fähigkeit, sich den verschiedenen Zeitströmungen (blitzschnell) anzupassen."

Zurück zu den Obdachlosen.
Wenn es um diese Bevölkerungsgruppe geht, wende ich mich immer an Karsten Krampitz:
 Karsten Krampitz, geboren 1969 in Rüdersdorf, studiert Geschichte im
13. Semester. 1996 veröffentliche er einen Roman über Obdachlosigkeit:
“Rattenherz”, und 2000 einen über Obdachlosen-Zeitungen: “Affentöter”.
Er war 6 Jahre Redakteur bei den Berliner Obdachlosenzeitungen Mob,
Haz, Moz, Straßenfeger und Straßenzeitung. Seit nunmehr 12 Jahren
arbeitet er in der Treptower Wärmestube “Arche”, die mit ihrer
Zweieinhalbzimmerwohnung zugleich ein Nacht-Café ist. Die “Arche”
sollte unlängst von der PDS-Stadträtin geschlossen werden, das konnte
jedoch noch einmal abgewendet werden.Dennoch wird die Situation
für Obdachlose schwieriger. Dazu Karsten Krampitz:

 Karsten Krampitz, geboren 1969 in Rüdersdorf, studiert Geschichte im
13. Semester. 1996 veröffentliche er einen Roman über Obdachlosigkeit:
“Rattenherz”, und 2000 einen über Obdachlosen-Zeitungen: “Affentöter”.
Er war 6 Jahre Redakteur bei den Berliner Obdachlosenzeitungen Mob,
Haz, Moz, Straßenfeger und Straßenzeitung. Seit nunmehr 12 Jahren
arbeitet er in der Treptower Wärmestube “Arche”, die mit ihrer
Zweieinhalbzimmerwohnung zugleich ein Nacht-Café ist. Die “Arche”
sollte unlängst von der PDS-Stadträtin geschlossen werden, das konnte
jedoch noch einmal abgewendet werden.Dennoch wird die Situation
für Obdachlose schwieriger. Dazu Karsten Krampitz:


Obdachlosigkeit interessiert keine Sau mehr - die Leute haben sich daran gewöhnt.


Dazu haben auch die vielen Obdachlosen-Zeitungen beigetragen - mit ihrem ewigen Gejammer.


Ich meine jetzt nicht die Verkäufer, die haben schon immer geklagt


(”Ich bin 29, lebe seit 4 Jahren auf der Straße und bin gerade auf Entzug…”), sondern die Redakteure,


weil sie ewig die gleichen langweiligen Artikel bringen und weil sie Etikettenschwindel betreiben:


Sie suggerieren den Lesern, dass die Zeitung von und für Obdachlose gemacht wird.


Tatsächlich sind das aber alles Premiumpenner, d.h. extrem schlechte Journalisten,


die da ihre Spielwiese haben, während sich die Herausgeber - also die jeweiligen


Obdachlosen-Vereinsvorstände - damit eine goldene Nase verdienen.


Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld ist das und eigentlich Betrug.


Wirklich entsetzt bin ich aber über eine Obdachlosenzeitung, die über Jahre hinweg Spenden


gesammelt hat für ihr Haus in Berlin, das sogar vom Staat gefördert wurde - mit 3,4 Mio DM -


aber letzten Endes wohnt dort nicht ein Obdachloser, kein Verkäufer - nischt.


Der Vorstandsvorsitzende des Vereins hat sich dort stattdessen eine Wohnung selbst genehmigt.


Das Grundproblem bei diesen ganzen Zeitungen ist die Heuchelei: Kauft uns! Wir sind die Guten!


Sogar Harry Potter unterstützt uns. In Wirklichkeit wird dort aber übelster Manchester-Kapitalismus


praktiziert. Diese armen Verkäufer, das sind genaugenommen Drückerkolonnen. In einem


normalen Unternehmen haben die Mitarbeiter bestimmte Rechte. Sie können nicht einfach gefeuert


werden, es gibt einen Betriebsrat usw.. Bei den so genannten Obdachlosenzeitungen werden


dagegen die primitivsten Regeln innerbetrieblicher Demokratie mißachtet. Sie haben zwar so etwas


wie Verkäufersprecher, in der Regel kann der aber nicht mal für sich selbst sprechen, geschweige


denn für andere. Den obdachlosen Verkäufern ist es sowieso ungewohnt, sich zu organisieren, ihre


Interessen durchzusetzen, die hauen lieber ab. Das sieht man daran, daß sich die Auflagen inzwischen


nahezu halbiert haben. Um die Straßenblätter wäre es auch nicht schade. Nur ist der Begriff “Selbsthilfe”


damit in Berlin auf lange Zeit diskreditiert worden.  Und leider werden auch seriöse Obdachlosenprojekte


davon in Mitleidenschaft gezogen. Die Spendenbereitschaft für Wärmestuben und Notübernachtungen


ist insgesamt merklich zurückgegangen. Schlimmer noch wiegt die Tatsache, dass die Chance auf politische


Veränderungen dabei verspielt wurde. Noch vor vier Jahren waren die Leute sensibilisiert für das Thema.


Als wir 1999 das Hotel Adlon besetzt haben und 2000 das Kempinski, mit Transparenten, auf denen


draufstand “Es sind noch Betten frei!” - gab es einen enormen Zuspruch, auch von der Politik.


Damals entstanden republikweit die “Tafeln”: Wohlhabende und pfiffige Frauen taten sich zusammen,


um von den Partys der Reichen die übriggebliebenen Kaviarbrötchen einzusammeln, um sie an die


Obdachlosen in ihren Sammelstätten zu verteilen. Zu Weihnachten, wenn die Presse die ersten Kältetoten


vermeldete, sind diese “Tafeln”, die oftmals auf ABM-Basis arbeiteten, mit Spenden geradezu überschüttet worden.


Das Problem ist aber nicht der Winter und auch nicht der Hunger. An Obdachlosigkeit sterben


Menschen das ganze Jahr über: Hautkrankheiten, Alkohol, Hitze, die zunehmende Gewalt auf der


Straße - sind genauso schlimm. Auf Platte erreicht man selten das Rentenalter. Dabei passiert es gar nicht


so selten, daß das Sozialamt einem Obdachlosen zu einer Wohnung verhilft. Oft kann man jedoch


die Uhr danach stellen, wann derjenige wieder auf der Straße oder in Notübernachtungen pennt.


Die Obdachlosigkeit ist vor allem ein seelisches Problem. Ihre ganzen sozialen Kontakte haben diese


Menschen auf der Straße und in den Suppenküchen. Anfangs werden die Kumpel und Kumpelinen noch


in die neue Wohnung eingeladen - wo sie sich gemeinsam die Kante geben. Nachdem sie die ganze


Stütze versoffen haben, beginnt die Einsamkeit, die Bude verkommt, der Müll türmt sich.


Und irgendwann ziehen sie wieder los.


Die meisten Obdachlosen sind Männer. Frauen verlieren zwar schneller ihren Job, kommen aber besser


damit klar, auch mit der Einsamkeit. Männer verwahrlosen zudem leichter. Sie suchen verzweifelt Kontakte,


treffen sich mit anderen am Kiosk oder im Bahnhof, pennen mal hier mal dort und irgendwann


sagen sie sich: ‘Ich brauch meine Wohnung - diesen Saustall - doch eigentlich gar nicht’.


Man gibt einem Menschen noch kein Zuhause, wenn man ihm eine Wohnung zuweist. Deswegen brauchen


Obdachlose eher eine Wohngemeinschaft mit Betreuung. Die gibt es zwar, aber meistens nur für Jugendliche.


Wer als Unbehauster in Berlin über 18 ist, hat schlechte Karten.


Natürlich gibt es auch Obdachlose - eine kleine radikale Minderheit, die gerne ‘Platte macht’, d.h. die


obdachlos leben wollen. Und dann gibt es welche, die es aus eigener Kraft schaffen könnten, sich


wieder aufzurappeln. Vielen gelingt das auch. Aber mehr und mehr Leute, die auf der Straße leben,


kommen aus der Psychiatrie, sind schizophren oder paranoisch, und brauchen einfach qualifizierte


Hilfe, die sie aber nirgends mehr finden.


Nicht wenige Obdachlose sind einfach sterbende Menschen. Da ist zu viel kaputtgegangen.


Das ist kein Leben mehr. Erschwert wird es ihnen auch noch durch immer mehr Schikanen.


Sie werden aus den Bahnhöfen und Einkaufscentern entfernt, wenn sie drei mal beim Schwarzfahren


erwischt werden, dann geht das an die Staatsanwaltschaft - und dann trauen sie sich nicht mehr


aufs Sozialamt. Dabei müssen sie immer öfter die BVG benutzen: Die Sozialämter zahlen hier


keinen Tagessatz mehr aus - immerhin 9 Euro. Wenn sie Stütze haben wollen, müssen Obdachlose


in Berlin polizeilich gemeldet sein, in Männerwohnheimen z.B.. Viele haben darauf keinen Bock,


deswegen fahren sie täglich raus nach Brandenburg, um sich dort ihre Sozialhilfe abzuholen.


Da können sie aber dann nirgends pennen, deswegen fahren sie anschließend wieder in die Stadt zurück.


Für die meisten sind die Berliner Sozialämter sowieso ein Horror. Sie sehen sich gar nicht in der Lage,


deren Kriterien zu erfüllen. Sie müßten genaue Angaben über ihre Angehörigen machen, damit diese


sie gegebenenfalls unterstützen. So mancher lebt getrennt von seiner Frau und hat sich bei der


Trennung nicht gerade mit Ruhm bekleckert: sie geschlagen usw.. Folglich will er nicht, dass sich


das Sozialamt an die Ehefrau wendet, auch nicht, daß seine Eltern angeschrieben werden.


Bei uns im Nacht-Café sind regelmäßig etwa 12 Männer und zwei bis drei Frauen. Der einen ist die


Wohnung abgebrannt und sie will keine neue haben, weil sie einfach nicht noch einmal wieder von


vorne anfangen mag. In ein Frauenhaus will sie aber auch nicht. Ich denke, dass sie an dem Punkt


einfach nicht geschäftsfähig ist, denn da führt ja kein Weg dran vorbei. Andere Frauen sind nur


deswegen nicht richtig obdachlos, weil sie immer bei jemandem anderen schlafen. Das ist so eine


Art Mitwohnprostitution. Für Frauen gibt es an sich jedoch mehr und bessere Hilfsangebote als


für Männer. Außerdem sprechen die Gerichte zu Recht im Trennungsfall, wenn ein Kind da ist,


meistens der Frau die Wohnung zu. Und dann sind hier in den letzten Jahren rund 500.000


Männerarbeitsplätze weggefallen, aber 700.000 Frauenarbeitsplätze neu entstanden.


Für die Männer sieht es also immer schlechter aus - besonders ab einem bestimmten Alter und bei


bestimmten Berufen. Es gibt inzwischen eine regelrechte Partnerlosigkeit aus Armut. Die Männer


sind einsam, weil sie arm sind und umgekehrt.


Jetzt werden auch noch viele Notunterkünfte geschlossen, aus Spargründen - unsere will man ja auch


dicht machen. Das letzte Wort ist dabei aber noch nicht gesprochen. Ich bin sogar optimistisch.


Obwohl man eigentlich schon mürbe werden könnte: Es hat sich in all den Jahren nichts geändert.


Die zunehmende Armut und Obdachlosigkeit wird bloß verwaltet, es fehlen Ideen und Konzepte. Und


dann werden noch laufend ohne Sinn und Verstand die Mittel gekürzt. Sogar die medizinische Grundversorgung


wird immer schlechter: Die eine Obdachlosen-Ärztin, Jenny de la Torre, im Ostbahnhof hat entnervt


nach neun Jahren gekündigt, der anderen, Lisa Rasch, im Bahnhof Zoo ist gekündigt worden.


Eine pychologische Betreuung gibt es überhaupt nicht. Und in den wenigen Wärmestuben und Nacht-Cafés,


die es gibt, kann man inzwischen nichts mehr kürzen.


Bei uns in der “Arche” decken wir den Personalbedarf teilweise durch die Jugendgerichtshilfe ab.


Straffällig gewordene Jugendliche leisten bei uns in der Küche ihre gemeinnützigen Stunden ab.


Und das Essen beziehen wir schon seit Jahren aus dem Abschiebeknast Grünau - 30 Mahlzeiten täglich,


kostenlos und tiefgefroren. Dort treten immer wieder Insassen in einen Hungerstreik,


so daß sie da anscheinend immer genug Portionen übrig haben.



So weit das Interview mit Karsten Krampitz.

Vor einiger Zeit meldete er sich bei mir wieder - diesmal aus Wewelsfleth:

Rechtzeitig vor Winterbeginn wurde im schleswig-holsteinischen

Dorf Wewelsfleth bei Itzehoe die erste "Trinkerklappe" eingeweiht.

In dem Ort gibt es ein Dichterheim für die Alfred-Döblin-Stipendiaten

der Berliner Akademie der Künste und eine Nachsorgeeinrichtung

zur sozialen Rehabilitation von Alkoholikern und anderen

Drogenabhängigen - den Uhlenhof. Aus diesen beiden schon länger

kooperierenden Institutionen kommen die drei Initiatoren der

"Aktion ,Findeltrinker'": Gerd Gedig, Peter Wawerzinek und Karsten Krampitz.

Sie geben gleichzeitig eine Dorfzeitung namens Uhlenhof heraus.

In dieser heißt es: "Die Trinkerklappe befindet sich leicht erreichbar

am Seiteneingang. Die Abgabe geschieht völlig anonym. Die Frau öffnet

die Klappe und aktiviert damit die Helfer."

Auf einer Pressekonferenz erklärten die Initiatoren die Notwendigkeit

ihres Projekts: "Weil sie von ihren Frauen rausgeschmissen wurden,

erfrieren jedes Jahr Hunderte Trinker. Eine offizielle Statistik über

ihre Aussetzung gibt es nicht. Experten gehen davon aus, dass die

meisten Kältetoten volltrunken waren. Vor allem alte und arbeitslose

Männer werden rigoros entsorgt."

Dies hänge damit zusammen, dass mit dem Auslaufen der

Industrieproduktion immer mehr Männerarbeitsplätze abgebaut

werden - und stattdessen vor allem Frauenarbeitsplätze neu entstehen,

wobei in der neuen "Dienstleistungsgesellschaft" sowieso primär

weibliche Fähigkeiten wie "soziale und emotionale Intelligenz"

nachgefragt, das heißt ausgebeutet werden. Hierbei sind die Männer

jedoch extrem unterqualifiziert.

Das hat zur Folge, dass immer mehr Ehefrauen ihre arbeitslos

gewordenen und schließlich dem Suff verfallenen Männer als

übergroße Belastung empfinden. Bei ihrem Rausschmiss, zumal nachts

und in der kalten Jahreszeit, entwickeln jedoch viele Frauen starke

Schuldgefühle; wenn ihre Männer erfrieren, hat dies unter Umständen

auch strafrechtliche Konsequenzen für die Hinterbliebenen.

Hier soll die Wewelsflether "Aktion ,Findeltrinker'" helfen. Dazu wurde

neben dem Einbau einer Trinkerklappe im Uhlenhof eine Notrufnummer

geschaltet (Tel. 0 48 29 - 92 26), wo Frauen, die sich mit ihrem

trinkenden Partner überworfen haben, Beratung einholen und

gegebenenfalls eine Übernahme des Trinkers vereinbaren können.

"Im Uhlenhof erhalten diese dann umgehend medizinische Hilfe und

in den kritischen ersten acht Wochen liebevolle Pflege", versprechen

die Initiatoren: "In dieser Zeit kann der Trinker noch von seiner Frau/

Tochter/Mutter zurückgeholt werden. Danach beantragt der

Betreuerstab seine Vormundschaft beim Amtsgericht, gleichzeitig

kümmert er sich um die Vermittlung von Pflegegattinnen.

Die Aktion ,Findeltrinker' rettet Leben!"

Neben staatlicher Unterstützung ist sie auf private Spenden angewiesen.

Die Initiatoren geben den potenziellen Nutznießern jedoch zu bedenken:

"Die Inanspruchnahme unserer Trinkerklappe darf nur der letzte Ausweg

sein, der es der Ehefrau oder Lebensgefährtin ermöglicht, straffrei zu bleiben."

Kürzlich trat Karsten Krampitz erneut an die Öffentlichkeit -

mit einer neuen Einrichtung - die taz berichtete kurz und knapp:

Zu einem "Benefizkonzert für Landowsky" hat das evangelische Nachtcafé

für Obdachlose in Berlin-Treptow für nächsten Dienstag in die Volksbühne

eingeladen. Dazu wird die Gruppe "Freygang" erwartet, die mit ihren

systemkritischen Texten zu den markantesten Bands der DDR-

Untergrundszene gehörte. Vorgesehen sei zudem ein Podiumsgespräch

über die Situation von Obdachlosen mit Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner

(Linke/PDS), dem Politologen Peter Grottian und dem evangelischen Pfarrer

Dieter Ziebarth, teilte das Nachtcafé gestern mit. Das Nachtcafé hatte sich

vorigen Herbst "Landowsky" genannt, um an den einstigen CDU-

Spitzenpolitiker und Bankmanager Klaus-Rüdiger Landowsky zu erinnern,

der kürzlich wegen seiner Verstrickung in die Bankenaffäre zu einer

Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Er habe sich besonders durch sein

fehlendes Verständnis für arme und bedürftige Menschen in der Stadt

hervorgetan. So sagte er einst, "dass dort, wo Müll ist, Ratten sind, und

dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist". Das aber müsse

in der Stadt "beseitigt werden".

Außerdem besuchte Karsten Krampitz noch auf meine Bitte hin eine

Ausstellung über Obdachlose in Tokio, Belgrad, Berlin und anderswo

- von Milovan Markovic. Anschließend schrieb er:

Vermutlich hat Peter Scheller nicht die geringste Ahnung von seiner

Berühmtheit. Seit einigen Wochen hängt das Portrait des Obdachlosen

in der Nähe vom Checkpoint Charlie, und zwar in einer Größe von

vierzehn mal vierunddreißig Metern. Nur ist es eben kein Foto oder

Gemälde, sondern ein Textportrait: „NA, DA HABE ICH MIR SO –

DIE LEUTE SCHMEIßEN JA SO VIEL WEG – SO EINE MATRATZE

MIR BESORGT UND DANN SO EINE DECKE UND DANN

HABE ICH GEPENNT DA…“

Passanten, die das erste Mal vorbeigingen, insbesondere Touristen,

sind nach dem Lesen seltsam verstört, sagt Milovan Destil Markovic,

der als Maler und Interviewer für die Installation verantwortlich ist.

„Zuerst denken immer alle, das Banner an der Brandmauer ist Werbung.“

Gerade während der Fußball-WM erwarte man ja doch irgendwelche

Bezüge zum Turnier oder wenigstens schöne Gesichter glücklicher

Konsumenten. – Ihnen, den Ikonen der Werbung, den Hologrammen

des Konsums, hält der in Belgrad geborene Künstler eine eigene Ästhetik

entgegen. Die Schlichtheit des pigmentfarbenen Textfragments lässt einen

dabei nicht unberührt. „ABER DAS ERSTE DAS WAR, WENN ICH MICH

HINGEHAUEN HABE, SCHUHE AUSZIEHEN… EINMAL MUSS MAN

DOCH DIE SCHUHE AUSZIEHEN. DAS HABE ICH IMMER DANN, WENN

ICH MICH HINGEHAUEN HABE. DANN HABE ICH MEINE SCHUHE

AUSGEZOGEN. DIE ANDEREN, DIE HABEN IMMER ALLES ANBEHALTEN,

ACH.“

Dass eigentlich Bedeutende daran aber ist, dass Markovic für seine Arbeit

den öffentlichen Raum in Anspruch nimmt und das in einer Gegend Berlins,

in der soziale Armut als ästhetisches Problem wahrgenommen wird.

Dabei können Obdachlose durchaus auch exzellente Werbeträger sein.

Erinnert sei nur an Rudolph Moshammer, der seinerzeit in München gern

die Unbedachten in seine Selbstinszenierung einbezog. An Weihnachten

verteilte er auf „Platte“ Geschenke – nie ohne Journalisten. Und auch in

Berlin lebt schließlich eine ganze Industrie davon…

„Schönen guten Tag, ich verkaufe hier die neue ‚Egal was drinsteht.’“

Dass die Straßenpostillen keine wirklichen Selbsthilfeprojekte sind, außer

für wenige Nichtobdachlose, ist kein Geheimnis. Jeder Arbeitnehmer bei

Siemens hat mehr Rechte als ein Verkäufer bei der „motz“ oder dem

„strassenfeger“. Wenn deren Sprüche nur nicht so langweilen würden.

Eine Drückerkolonne, deren Leute an Haustüren mundbemalte

Behindertenpostkarten verscherbeln, hat mehr Unterhaltungswert.

– Wobei eines festgestellt werden muss: Die Postkarten haben

einen Gebrauchswert.

Jeden Sommer stehen in den Armutsgazetten die gleichen belanglosen

Berichte à la Hitze ist viel schlimmer als Kälte. – Wir brauchen Spenden.

– So ein Sommer aber auch. –Wir brauchen Spenden. – Teufel auch,

diese Hitze. – Wir brauchen Spenden. – Wann wird’s mal wieder richtig

Sommer. – Spenden Sie jetzt, aber dalli.

Kein Wort zur Vertreibung Obdachloser aus der Stadtmitte; über die

Repressalien privater Sicherheitsdienste oder den Skandal, dass in

Berlin Menschen wegen Schwarzfahren ins Gefängnis müssen. Genauso

wenig interessiert die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in so manchen

kirchlichen Einrichtungen.

Etwa bei der Stadtmission, in deren Notübernachtungen Obdachlose aus

Osteuropa nur noch selten Hilfe finden. „Das sind alles Wanderarbeiter“,

heißt es dort. Alle anderen Mühseligen und Beladenen sind bei der

Stadtmission freilich herzlich willkommen. Warum auch nicht? Ohne

die Obdachlosen wäre der evangelikale Flügel der evangelischen Landeskirche

in den Medien lange nicht so präsent. Sogar im Sommer, wenn der

Bürgermeisterkandidat der CDU, Friedbert Pflüger, ein Kreuzberger

Wohnprojekt besucht. Selbstverständlich nur, um sich zu informieren.

Und genau das macht Markovic so sympathisch: seine Zurückhaltung.

An der Großinstallation am Checkpoint Charlie findet sich nicht der kleinste

Hinweis auf ihn, sein Werk oder seine Ausstellung, die noch bis Sonntag

zu besichtigen wäre. „Gutes tun“ oder moralisch handeln und einfach mal

den Mund halten – wo hat man das noch heute?

„Homeless Berlin“ heißt die Ausstellung von Milovan Markovic.

Interessenten melden sich bitte unter 030/2045 3396.

Adresse: Galerie Kai Hilgemann, Zimmerstraße 90/91, 2. Hof, 10117 Berlin.

Obdachlosigkeit interessiert keine Sau mehr - die Leute haben sich daran gewöhnt.
Dazu haben auch die vielen Obdachlosen-Zeitungen beigetragen - mit ihrem ewigen Gejammer.
Ich meine jetzt nicht die Verkäufer, die haben schon immer geklagt
(”Ich bin 29, lebe seit 4 Jahren auf der Straße und bin gerade auf Entzug…”), sondern die Redakteure,
weil sie ewig die gleichen langweiligen Artikel bringen und weil sie Etikettenschwindel betreiben:
Sie suggerieren den Lesern, dass die Zeitung von und für Obdachlose gemacht wird.
Tatsächlich sind das aber alles Premiumpenner, d.h. extrem schlechte Journalisten,
die da ihre Spielwiese haben, während sich die Herausgeber - also die jeweiligen
Obdachlosen-Vereinsvorstände - damit eine goldene Nase verdienen.
Eine unnötige Zirkulation von Papier und Geld ist das und eigentlich Betrug.
Wirklich entsetzt bin ich aber über eine Obdachlosenzeitung, die über Jahre hinweg Spenden
gesammelt hat für ihr Haus in Berlin, das sogar vom Staat gefördert wurde - mit 3,4 Mio DM -
aber letzten Endes wohnt dort nicht ein Obdachloser, kein Verkäufer - nischt.
Der Vorstandsvorsitzende des Vereins hat sich dort stattdessen eine Wohnung selbst genehmigt.
Das Grundproblem bei diesen ganzen Zeitungen ist die Heuchelei: Kauft uns! Wir sind die Guten!
Sogar Harry Potter unterstützt uns. In Wirklichkeit wird dort aber übelster Manchester-Kapitalismus
praktiziert. Diese armen Verkäufer, das sind genaugenommen Drückerkolonnen. In einem
normalen Unternehmen haben die Mitarbeiter bestimmte Rechte. Sie können nicht einfach gefeuert
werden, es gibt einen Betriebsrat usw.. Bei den so genannten Obdachlosenzeitungen werden
dagegen die primitivsten Regeln innerbetrieblicher Demokratie mißachtet. Sie haben zwar so etwas
wie Verkäufersprecher, in der Regel kann der aber nicht mal für sich selbst sprechen, geschweige
denn für andere. Den obdachlosen Verkäufern ist es sowieso ungewohnt, sich zu organisieren, ihre
Interessen durchzusetzen, die hauen lieber ab. Das sieht man daran, daß sich die Auflagen inzwischen
nahezu halbiert haben. Um die Straßenblätter wäre es auch nicht schade. Nur ist der Begriff “Selbsthilfe”
damit in Berlin auf lange Zeit diskreditiert worden.  Und leider werden auch seriöse Obdachlosenprojekte
davon in Mitleidenschaft gezogen. Die Spendenbereitschaft für Wärmestuben und Notübernachtungen
ist insgesamt merklich zurückgegangen. Schlimmer noch wiegt die Tatsache, dass die Chance auf politische
Veränderungen dabei verspielt wurde. Noch vor vier Jahren waren die Leute sensibilisiert für das Thema.
Als wir 1999 das Hotel Adlon besetzt haben und 2000 das Kempinski, mit Transparenten, auf denen
draufstand “Es sind noch Betten frei!” - gab es einen enormen Zuspruch, auch von der Politik.
Damals entstanden republikweit die “Tafeln”: Wohlhabende und pfiffige Frauen taten sich zusammen,
um von den Partys der Reichen die übriggebliebenen Kaviarbrötchen einzusammeln, um sie an die
Obdachlosen in ihren Sammelstätten zu verteilen. Zu Weihnachten, wenn die Presse die ersten Kältetoten
vermeldete, sind diese “Tafeln”, die oftmals auf ABM-Basis arbeiteten, mit Spenden geradezu überschüttet worden.
Das Problem ist aber nicht der Winter und auch nicht der Hunger. An Obdachlosigkeit sterben
Menschen das ganze Jahr über: Hautkrankheiten, Alkohol, Hitze, die zunehmende Gewalt auf der
Straße - sind genauso schlimm. Auf Platte erreicht man selten das Rentenalter. Dabei passiert es gar nicht
so selten, daß das Sozialamt einem Obdachlosen zu einer Wohnung verhilft. Oft kann man jedoch
die Uhr danach stellen, wann derjenige wieder auf der Straße oder in Notübernachtungen pennt.
Die Obdachlosigkeit ist vor allem ein seelisches Problem. Ihre ganzen sozialen Kontakte haben diese
Menschen auf der Straße und in den Suppenküchen. Anfangs werden die Kumpel und Kumpelinen noch
in die neue Wohnung eingeladen - wo sie sich gemeinsam die Kante geben. Nachdem sie die ganze
Stütze versoffen haben, beginnt die Einsamkeit, die Bude verkommt, der Müll türmt sich.
Und irgendwann ziehen sie wieder los.
Die meisten Obdachlosen sind Männer. Frauen verlieren zwar schneller ihren Job, kommen aber besser
damit klar, auch mit der Einsamkeit. Männer verwahrlosen zudem leichter. Sie suchen verzweifelt Kontakte,
treffen sich mit anderen am Kiosk oder im Bahnhof, pennen mal hier mal dort und irgendwann
sagen sie sich: ‘Ich brauch meine Wohnung - diesen Saustall - doch eigentlich gar nicht’.
Man gibt einem Menschen noch kein Zuhause, wenn man ihm eine Wohnung zuweist. Deswegen brauchen
Obdachlose eher eine Wohngemeinschaft mit Betreuung. Die gibt es zwar, aber meistens nur für Jugendliche.
Wer als Unbehauster in Berlin über 18 ist, hat schlechte Karten.
Natürlich gibt es auch Obdachlose - eine kleine radikale Minderheit, die gerne ‘Platte macht’, d.h. die
obdachlos leben wollen. Und dann gibt es welche, die es aus eigener Kraft schaffen könnten, sich
wieder aufzurappeln. Vielen gelingt das auch. Aber mehr und mehr Leute, die auf der Straße leben,
kommen aus der Psychiatrie, sind schizophren oder paranoisch, und brauchen einfach qualifizierte
Hilfe, die sie aber nirgends mehr finden.
Nicht wenige Obdachlose sind einfach sterbende Menschen. Da ist zu viel kaputtgegangen.
Das ist kein Leben mehr. Erschwert wird es ihnen auch noch durch immer mehr Schikanen.
Sie werden aus den Bahnhöfen und Einkaufscentern entfernt, wenn sie drei mal beim Schwarzfahren
erwischt werden, dann geht das an die Staatsanwaltschaft - und dann trauen sie sich nicht mehr
aufs Sozialamt. Dabei müssen sie immer öfter die BVG benutzen: Die Sozialämter zahlen hier
keinen Tagessatz mehr aus - immerhin 9 Euro. Wenn sie Stütze haben wollen, müssen Obdachlose
in Berlin polizeilich gemeldet sein, in Männerwohnheimen z.B.. Viele haben darauf keinen Bock,
deswegen fahren sie täglich raus nach Brandenburg, um sich dort ihre Sozialhilfe abzuholen.
Da können sie aber dann nirgends pennen, deswegen fahren sie anschließend wieder in die Stadt zurück.
Für die meisten sind die Berliner Sozialämter sowieso ein Horror. Sie sehen sich gar nicht in der Lage,
deren Kriterien zu erfüllen. Sie müßten genaue Angaben über ihre Angehörigen machen, damit diese
sie gegebenenfalls unterstützen. So mancher lebt getrennt von seiner Frau und hat sich bei der
Trennung nicht gerade mit Ruhm bekleckert: sie geschlagen usw.. Folglich will er nicht, dass sich
das Sozialamt an die Ehefrau wendet, auch nicht, daß seine Eltern angeschrieben werden.
Bei uns im Nacht-Café sind regelmäßig etwa 12 Männer und zwei bis drei Frauen. Der einen ist die
Wohnung abgebrannt und sie will keine neue haben, weil sie einfach nicht noch einmal wieder von
vorne anfangen mag. In ein Frauenhaus will sie aber auch nicht. Ich denke, dass sie an dem Punkt
einfach nicht geschäftsfähig ist, denn da führt ja kein Weg dran vorbei. Andere Frauen sind nur
deswegen nicht richtig obdachlos, weil sie immer bei jemandem anderen schlafen. Das ist so eine
Art Mitwohnprostitution. Für Frauen gibt es an sich jedoch mehr und bessere Hilfsangebote als
für Männer. Außerdem sprechen die Gerichte zu Recht im Trennungsfall, wenn ein Kind da ist,
meistens der Frau die Wohnung zu. Und dann sind hier in den letzten Jahren rund 500.000
Männerarbeitsplätze weggefallen, aber 700.000 Frauenarbeitsplätze neu entstanden.
Für die Männer sieht es also immer schlechter aus - besonders ab einem bestimmten Alter und bei
bestimmten Berufen. Es gibt inzwischen eine regelrechte Partnerlosigkeit aus Armut. Die Männer
sind einsam, weil sie arm sind und umgekehrt.
Jetzt werden auch noch viele Notunterkünfte geschlossen, aus Spargründen - unsere will man ja auch
dicht machen. Das letzte Wort ist dabei aber noch nicht gesprochen. Ich bin sogar optimistisch.
Obwohl man eigentlich schon mürbe werden könnte: Es hat sich in all den Jahren nichts geändert.
Die zunehmende Armut und Obdachlosigkeit wird bloß verwaltet, es fehlen Ideen und Konzepte. Und
dann werden noch laufend ohne Sinn und Verstand die Mittel gekürzt. Sogar die medizinische Grundversorgung
wird immer schlechter: Die eine Obdachlosen-Ärztin, Jenny de la Torre, im Ostbahnhof hat entnervt
nach neun Jahren gekündigt, der anderen, Lisa Rasch, im Bahnhof Zoo ist gekündigt worden.
Eine pychologische Betreuung gibt es überhaupt nicht. Und in den wenigen Wärmestuben und Nacht-Cafés,
die es gibt, kann man inzwischen nichts mehr kürzen.
Bei uns in der “Arche” decken wir den Personalbedarf teilweise durch die Jugendgerichtshilfe ab.
Straffällig gewordene Jugendliche leisten bei uns in der Küche ihre gemeinnützigen Stunden ab.
Und das Essen beziehen wir schon seit Jahren aus dem Abschiebeknast Grünau - 30 Mahlzeiten täglich,
kostenlos und tiefgefroren. Dort treten immer wieder Insassen in einen Hungerstreik,
so daß sie da anscheinend immer genug Portionen übrig haben.

So weit das Interview mit Karsten Krampitz.
Vor einiger Zeit meldete er sich bei mir wieder – diesmal aus Wewelsfleth:
Rechtzeitig vor Winterbeginn wurde im schleswig-holsteinischen
Dorf Wewelsfleth bei Itzehoe die erste “Trinkerklappe” eingeweiht.
In dem Ort gibt es ein Dichterheim für die Alfred-Döblin-Stipendiaten
der Berliner Akademie der Künste und eine Nachsorgeeinrichtung
zur sozialen Rehabilitation von Alkoholikern und anderen
Drogenabhängigen – den Uhlenhof. Aus diesen beiden schon länger
kooperierenden Institutionen kommen die drei Initiatoren der
Aktion ,Findeltrinker‘”: Gerd Gedig, Peter Wawerzinek und Karsten Krampitz.
Sie geben gleichzeitig eine Dorfzeitung namens Uhlenhof heraus.
In dieser heißt es: “Die Trinkerklappe befindet sich leicht erreichbar
am Seiteneingang. Die Abgabe geschieht völlig anonym. Die Frau öffnet
die Klappe und aktiviert damit die Helfer.”
Auf einer Pressekonferenz erklärten die Initiatoren die Notwendigkeit
ihres Projekts: “Weil sie von ihren Frauen rausgeschmissen wurden,
erfrieren jedes Jahr Hunderte Trinker. Eine offizielle Statistik über
ihre Aussetzung gibt es nicht. Experten gehen davon aus, dass die
meisten Kältetoten volltrunken waren. Vor allem alte und arbeitslose
Männer werden rigoros entsorgt.”
Dies hänge damit zusammen, dass mit dem Auslaufen der
Industrieproduktion immer mehr Männerarbeitsplätze abgebaut
werden – und stattdessen vor allem Frauenarbeitsplätze neu entstehen,
wobei in der neuen “Dienstleistungsgesellschaft” sowieso primär
weibliche Fähigkeiten wie “soziale und emotionale Intelligenz”
nachgefragt, das heißt ausgebeutet werden. Hierbei sind die Männer
jedoch extrem unterqualifiziert.
Das hat zur Folge, dass immer mehr Ehefrauen ihre arbeitslos
gewordenen und schließlich dem Suff verfallenen Männer als
übergroße Belastung empfinden. Bei ihrem Rausschmiss, zumal nachts
und in der kalten Jahreszeit, entwickeln jedoch viele Frauen starke
Schuldgefühle; wenn ihre Männer erfrieren, hat dies unter Umständen
auch strafrechtliche Konsequenzen für die Hinterbliebenen.
Hier soll die Wewelsflether “Aktion ,Findeltrinker'” helfen. Dazu wurde
neben dem Einbau einer Trinkerklappe im Uhlenhof eine Notrufnummer
geschaltet (Tel. 0 48 29 – 92 26), wo Frauen, die sich mit ihrem
trinkenden Partner überworfen haben, Beratung einholen und
gegebenenfalls eine Übernahme des Trinkers vereinbaren können.
“Im Uhlenhof erhalten diese dann umgehend medizinische Hilfe und
in den kritischen ersten acht Wochen liebevolle Pflege”, versprechen
die Initiatoren: “In dieser Zeit kann der Trinker noch von seiner Frau/
Tochter/Mutter zurückgeholt werden. Danach beantragt der
Betreuerstab seine Vormundschaft beim Amtsgericht, gleichzeitig
kümmert er sich um die Vermittlung von Pflegegattinnen.
Die Aktion ,Findeltrinker’ rettet Leben!”
Neben staatlicher Unterstützung ist sie auf private Spenden angewiesen.
Die Initiatoren geben den potenziellen Nutznießern jedoch zu bedenken:
“Die Inanspruchnahme unserer Trinkerklappe darf nur der letzte Ausweg
sein, der es der Ehefrau oder Lebensgefährtin ermöglicht, straffrei zu bleiben.”
Kürzlich trat Karsten Krampitz erneut an die Öffentlichkeit
mit einer neuen Einrichtung – die taz berichtete kurz und knapp:
Zu einem “Benefizkonzert für Landowsky” hat das evangelische Nachtcafé
für Obdachlose in Berlin-Treptow für nächsten Dienstag in die Volksbühne
eingeladen. Dazu wird die Gruppe “Freygang” erwartet, die mit ihren
systemkritischen Texten zu den markantesten Bands der DDR-
Untergrundszene gehörte. Vorgesehen sei zudem ein Podiumsgespräch
über die Situation von Obdachlosen mit Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner
(Linke/PDS), dem Politologen Peter Grottian und dem evangelischen Pfarrer
Dieter Ziebarth, teilte das Nachtcafé gestern mit. Das Nachtcafé hatte sich
vorigen Herbst “Landowsky” genannt, um an den einstigen CDU-
Spitzenpolitiker und Bankmanager Klaus-Rüdiger Landowsky zu erinnern,
der kürzlich wegen seiner Verstrickung in die Bankenaffäre zu einer
Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Er habe sich besonders durch sein
fehlendes Verständnis für arme und bedürftige Menschen in der Stadt
hervorgetan. So sagte er einst, “dass dort, wo Müll ist, Ratten sind, und
dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist”. Das aber müsse
in der Stadt “beseitigt werden”.
Außerdem besuchte Karsten Krampitz noch auf meine Bitte hin eine
Ausstellung über Obdachlose in Tokio, Belgrad, Berlin und anderswo
– von Milovan Markovic. Anschließend schrieb er:
Vermutlich hat Peter Scheller nicht die geringste Ahnung von seiner
Berühmtheit. Seit einigen Wochen hängt das Portrait des Obdachlosen
in der Nähe vom Checkpoint Charlie, und zwar in einer Größe von
vierzehn mal vierunddreißig Metern. Nur ist es eben kein Foto oder
Gemälde, sondern ein Textportrait: „NA, DA HABE ICH MIR SO –
DIE LEUTE SCHMEIßEN JA SO VIEL WEG – SO EINE MATRATZE
MIR BESORGT UND DANN SO EINE DECKE UND DANN
HABE ICH GEPENNT DA…“
Passanten, die das erste Mal vorbeigingen, insbesondere Touristen,
sind nach dem Lesen seltsam verstört, sagt Milovan Destil Markovic,
der als Maler und Interviewer für die Installation verantwortlich ist.
„Zuerst denken immer alle, das Banner an der Brandmauer ist Werbung.“
Gerade während der Fußball-WM erwarte man ja doch irgendwelche
Bezüge zum Turnier oder wenigstens schöne Gesichter glücklicher
Konsumenten. – Ihnen, den Ikonen der Werbung, den Hologrammen
des Konsums, hält der in Belgrad geborene Künstler eine eigene Ästhetik
entgegen. Die Schlichtheit des pigmentfarbenen Textfragments lässt einen
dabei nicht unberührt. „ABER DAS ERSTE DAS WAR, WENN ICH MICH
HINGEHAUEN HABE, SCHUHE AUSZIEHEN… EINMAL MUSS MAN
DOCH DIE SCHUHE AUSZIEHEN. DAS HABE ICH IMMER DANN, WENN
ICH MICH HINGEHAUEN HABE. DANN HABE ICH MEINE SCHUHE
AUSGEZOGEN. DIE ANDEREN, DIE HABEN IMMER ALLES ANBEHALTEN,
ACH.“
Dass eigentlich Bedeutende daran aber ist, dass Markovic für seine Arbeit
den öffentlichen Raum in Anspruch nimmt und das in einer Gegend Berlins,
in der soziale Armut als ästhetisches Problem wahrgenommen wird.
Dabei können Obdachlose durchaus auch exzellente Werbeträger sein.
Erinnert sei nur an Rudolph Moshammer, der seinerzeit in München gern
die Unbedachten in seine Selbstinszenierung einbezog. An Weihnachten
verteilte er auf „Platte“ Geschenke – nie ohne Journalisten. Und auch in
Berlin lebt schließlich eine ganze Industrie davon…
„Schönen guten Tag, ich verkaufe hier die neue ‚Egal was drinsteht.’“
Dass die Straßenpostillen keine wirklichen Selbsthilfeprojekte sind, außer
für wenige Nichtobdachlose, ist kein Geheimnis. Jeder Arbeitnehmer bei
Siemens hat mehr Rechte als ein Verkäufer bei der „motz“ oder dem
„strassenfeger“. Wenn deren Sprüche nur nicht so langweilen würden.
Eine Drückerkolonne, deren Leute an Haustüren mundbemalte
Behindertenpostkarten verscherbeln, hat mehr Unterhaltungswert.
– Wobei eines festgestellt werden muss: Die Postkarten haben
einen Gebrauchswert.
Jeden Sommer stehen in den Armutsgazetten die gleichen belanglosen
Berichte à la Hitze ist viel schlimmer als Kälte. – Wir brauchen Spenden.
– So ein Sommer aber auch. –Wir brauchen Spenden. – Teufel auch,
diese Hitze. – Wir brauchen Spenden. – Wann wird’s mal wieder richtig
Sommer. – Spenden Sie jetzt, aber dalli.
Kein Wort zur Vertreibung Obdachloser aus der Stadtmitte; über die
Repressalien privater Sicherheitsdienste oder den Skandal, dass in
Berlin Menschen wegen Schwarzfahren ins Gefängnis müssen. Genauso
wenig interessiert die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in so manchen
kirchlichen Einrichtungen.
Etwa bei der Stadtmission, in deren Notübernachtungen Obdachlose aus
Osteuropa nur noch selten Hilfe finden. „Das sind alles Wanderarbeiter“,
heißt es dort. Alle anderen Mühseligen und Beladenen sind bei der
Stadtmission freilich herzlich willkommen. Warum auch nicht? Ohne
die Obdachlosen wäre der evangelikale Flügel der evangelischen Landeskirche
in den Medien lange nicht so präsent. Sogar im Sommer, wenn der
Bürgermeisterkandidat der CDU, Friedbert Pflüger, ein Kreuzberger
Wohnprojekt besucht. Selbstverständlich nur, um sich zu informieren.
Und genau das macht Markovic so sympathisch: seine Zurückhaltung.
An der Großinstallation am Checkpoint Charlie findet sich nicht der kleinste
Hinweis auf ihn, sein Werk oder seine Ausstellung, die noch bis Sonntag
zu besichtigen wäre. „Gutes tun“ oder moralisch handeln und einfach mal
den Mund halten – wo hat man das noch heute?
Homeless Berlin“ heißt die Ausstellung von Milovan Markovic.
Interessenten melden sich bitte unter 030/2045 3396.
Adresse: Galerie Kai Hilgemann, Zimmerstraße 90/91, 2. Hof, 10117 Berlin.

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kommentare

  • “D.E.N.S. – Die eigentlich nicht sind” – ein Dokfilm

    Für die meisten von uns ist, zumindest bis zur deutsch-deutschen Vereinigung, Obdachlosigkeit kaum denkbar gewesen, jedenfalls nicht als angstvoller Eigenantrieb zu einkommensteigernden Aktivitäten. Wie leichtfertig wurden früher Wohnungen, Häuser gar, aufgegeben und – vorübergehend – aus der Reisetasche gelebt. Für Christian, einen jesuitischen Werkzeugmacher, der mit ehemals obdachlosen Männern zusammen in einer Wohngemeinschaft lebt und sich jüngst am Hungerstreik einer Gruppe von aus dem Kreuzberger “Engelbecken” vertriebener Wohnwagen-Leute beteiligte, ist diese “Randgruppe” das vielleicht einzige noch verbliebene revolutionäre Subjekt – in seiner Theologie der Befreiung. Der normale Bürger möchte die Obdachlosen am liebsten überhaupt nicht wahrnehmen, und selbst den Kreuzberger Linken fiel die Solidarität mit den “Rollheimern” schwer, die von “Deportation” sprachen, als ca. 900 Polizisten und eine Müllfirma ihr Hab und Gut, auf das sie zuvor mit großen Buchstaben “Eigentum” schreiben mußten, an den Stadtrand transportierten. “D.E.N.S. – Die eigentlich nicht sind” ist deswegen ein sehr guter Titel für diesen Dokumentarfilm von Carsten Lippstock, in dem es im wesentlichen um sechs Penner geht. Und wären da nicht zwischendrin immer mal wieder kurze Interviews mit Obdachlosigkeits-Experten und -Projektmitarbeitern, würde man nach kurzer Zeit den Dokumentarfilm- Charakter völlig vergessen, so diskret und zugleich dicht rückte das Kamerateam den Hauptdarstellern auf den Pelz.

    Gerd Jensch, Erwin, ein weiterer “Kollege” und der Freund von Else kommen durch den Suff langsam herunter und warten eigentlich nur noch auf nicht mehr anstrebbare “bessere Zeiten” und “Platten”. Nicht so Else Spritulle (was für ein Name!), die ihren Eigensinn noch durchaus verfolgen kann: “Ich habe keine Lust, dafür arbeiten zu gehen, daß ich im Hotel wohnen darf.” (Beides hatte ihr das Sozialamt vermittelt, aber im Hotel durfte sie ihren Freund nicht mit aufs Zimmer nehmen, und also ging sie mit ihm zusammen erneut “auf Platte”.)

    Wieder anders der obdachlose Georg Heyer, dessen kleinbürgerlicher Eigensinn sogar noch derart intakt ist, daß es ihm gelingt, so sauber und nüchtern wie ein Büroangestellter herumzulaufen. Als Begründung für sein “Versagen” gibt er die zu “starke Belastung” in seinem früheren Beruf, Krankenpfleger, an. Kirchliche Aufenthaltsräume besucht er, um dort mal kurz “die Seele baumeln zu lassen”. Folglich ist er es auch, der nach einiger Zeit Anschluß an einen staatlich geförderten Obdachlosentreff findet, aus dem dann u.a. ein Zeitungsprojekt hervorgeht. In einem von der Stadt zur Verfügung gestellten Haus beansprucht er sofort den schönsten Raum für sich.

    Sein Gegenpol ist Erwin, der sich, in einem abgewrackten Auto hockend, schon fast aufgegeben hat, sich dann aber dank Georg und dessen pflegerischen Kenntnissen in ein Krankenhaus einweisen läßt, wo man ihm einen halben Fuß amputiert.

    Statt Ansätze zu einer Gegenwelt (immerhin ist rund ein Viertel der gesamten Menschheit mehr oder weniger obdachlos) bleibt als Fazit des Films, und auch wohl der meisten mitteleuropäischen Obdachlosenprojekte, dieser Restwille zur kleinbürgerlichen Existenz das scheinbar einzige, wo Helferszene und Selbsthilfegruppen ihre Reintegrationshebel ansetzen (können). Das ist zuwenig! Aber so etwas darf man gar nicht sagen – mit eigener Wohnung, Waschmaschine, Laptop und liquider Lebensabschnittsbegleiterin. Ich gebe es deswegen hier quasi nur zu bedenken.

    An einer Stelle läuft ein junger Dichter kurz von rechts nach links und deklamiert: “Verbrannt, an der Pforte zu den süßesten Nächten!” Daran sieht man mal wieder: “Lyrik ist nichts weiter als ein nasser Lumpen im Spülbecken!” (Charles Bukowski) Dennoch: Der Film “D.E.N.S.” ist mit sehr viel mehr Empathie als diese kleine Nörgelei hier an ihm zustandegekommen, und das sieht man auch sofort. Helmut Höge

    “D.E.N.S. – Die eigentlich nicht sind”. Regie: Carsten Lippstock, Kamera: Lars Barthel. BRD 1993, 85 Min.

    taz Nr. 4300 vom 28.4.1994 Kultur

  • Ein Obdachlosenroman:

    Männer werden aufgrund fehlender “Doppelbelastung” und “Triple Opression” eher obdachlos. Deswegen stellen die Frauen nur 15 Prozent dieser wachsenden Bevölkerungsgruppe. Neugieriger auf Überlebenskunst, stellen Frauen dagegen 80 Prozent der nicht obdachlosen Käufer der drei Berliner Penner-Periodika (platte, haz und mob). Die postmodern-urbane Variante des uralten Dorf-Reflexes auf alle sich nähernden Nichtseßhaften: Die Frauen schmieren Butterbrote, und die Männer holen die Bullen bzw. spielen Hilfssheriff. Auch paßt zusammen, daß einerseits die meisten Männer obdachlos werden, weil ihre Frauen sie aus der Wohnung schmeißen bzw. die Gerichte eher Frauen das Dach überm Kopf zusprechen. Und andererseits die verbreitetste Zeitung in der “Obdachlosen-Scene” die Praline ist.

    Die sicher berühmteste obdachlose Frau ist “Tüten-Paula” vom Ku’damm. Obwohl sie mit niemandem redet, schon gar nicht mit Hauptstadt-Journalisten, rangiert sie gleich hinter Harald Juhnke, sie ist quasi die Brigitte Mira unter den Pennerinnen. Die Kinderbuchautorin und Ku’dammschriftstellerin schlesischer Herkunft, Leonie Ossowski, hat über sie unter dem Namen “Tüten-Lady Dora Botag” eine Kudamm-Geschichte geschrieben: “Die Maklerin”. Textprobe: “Sie begriff schnell, daß es immer die Frauen waren, die die Häuser kauften, während mit den Männern die Finanzierung auszuhandeln war.”

    Fast alles Nichtjüdische kommt darin vor: die Nazis, das Baltikum, die Vertreibung aus dem Warthegau, die Ermordung von Polen, Neonazis, linke Ku’damm-Demonstrationen, Ku’damm-Immobilienmaklereien, die Pauke von Wolfgang Neuss, die Senatsverwaltung für das Bau- und Wohnungswesen, der Pantomime vorm Café Kranzler, der 9. November 89 auf dem Ku’damm, bezahlte Ku’damm-Schlägertrupps, die guten Türken der zweiten Generation im Verein mit weißen Tauben, die verkorkste Erziehung der Neureichen, die Maßlosigkeit der Kinder bei der Nachentnazifizierung ihrer Eltern, ein “Big Mac” bei McDonald’s, Reisen im IC, die Strafe für rücksichtslosen Erfolg, Jil-Sander-Kostüme und darauffolgend das Glück in der Demut – schlußendlich. An Erotik bietet die in Wilmersdorfer Witwen-Versammlungen leseobergeschulte Niederschlesierin den Guten-Onkel-Fick nach Hamsterfahrt, den allzu späten, aber rabiaten Zeugungsbeischlaf (gleich zweimal), den erpresserischen Karrierefick mit Belehrung im Kempinski (auch für den Nichtberliner: “der Bauboom hatte in Berlin gerade erst begonnen”), und zuletzt noch: den dominanten Spontanfick mit dem Jeans-und-Turnschuh-Künstler im Anschluß an die Paris-Bar. – Das ist aber noch nicht alles: Leonie Ossowski kennt natürlich die Gegend um den Ku’damm rum in- und auswendig, viele Male hat sie auf Spaziergängen “Tüten-Paula” beobachtet und sich dabei so ihre Gedanken um den Inhalt ihrer vielen blauen Plastiktüten gemacht. Vielleicht haben sogar der “Kontaktbereichsbeamte” sowie der Geschäftsführer der Bewag- Beratungsstelle an der Ecke Grolmanstraße/Ku’damm einiges Wertvolle beigesteuert. Die Springer-Presse, die so oft über Tüten-Paula gar nichts zu berichten wußte, wird als “zweifelhaft” charakterisiert, die Weisheit ihrer Journalisten – “Skins machen sich nicht über Obdachlose her. Haben Sie vielleicht Feinde?” – von der Autorin jedoch mit Löffeln gefressen.

    Fazit: Dies ist eher ein Schmöker für Heimatvertriebene als für Obdachlose. Und wie man eine Karriere als Maklerin macht, erfährt nicht einmal die geneigteste Leserin mit Berlin-Kenntnissen.

    taz Berlin lokal Nr. 4589 vom 6.4.1995

  • Männer-Schwänke:

    Im Alten Schlachthof an der Landsberger Allee, der irgendwann zu einem Wohn- und Gewerbequartier mit Öko- und Künstlertouch developed wird, findet derzeit eine fein inszenierte Ausstellung über die dort einst entwickelte Kunst des Tiertötens, -verarbeitens und -vermarktens statt. Und zwar in der Alten Darmschleimerei. Neulich stellten etwa zwölf Mitarbeiter der Zeitschrift für Wirtschaft und Kultur Sklaven dort in Form einer Reihum-Lesung die Funde ihrer Franz-Jung-Recherche vor.

    Es stimmte alles an dieser Veranstaltung: Die Textauswahl war konzentriert auf die Desertion, Inhaftierung und anschließende Psychiatrisierung des Kriegsfreiwilligen, Dichters und Rätekommunisten Franz Jung um das Jahr 1915, wobei auch Jungs spätere literarische Verarbeitungen dieser Ereignisse vorgelesen wurden. Dadurch gelang ein erkenntnisreiches Oszillieren zwischen einer größenwahnsinnigen Homme- de-lettres-Existenz als Täter, der sich bei den Garderegimentern bewirbt, um sich an der Ostfront innerlich zu reinigen, und einem elaborierten Opfer-Minderwertigkeitskomplex, den Jung aufbaute, um seine Fahnenflucht als psychische Schädigung durchzukriegen.

    Polizeiverhörprotokolle von Aussagen seiner Frau Margot, ihres Arztes Dr. Serner oder seines Psychoanalytikers, Otto Groß, Klinikarzt-Gutachten, die mit onaniebedingtem Schwachsinn oder Schädelmessungen argumentierten, selbstverfaßte Lebensläufe für die “Akte”, Bemerkungen von Nachtschwestern, Briefe an Boheme-Freunde. Zwischen den beiden Polen “Täter sein wollen” und “Opfer werden”, welch letzterem der “Belletristik- und Handelsredakteur” Franz Jung um seiner Selbsterhaltung willen auch noch zuarbeiten mußte, taten sich Graduierungen um Graduierungen auf.

    Gleichzeitig erfuhren wir in der Darmschleimerei-Lesung, wie er immer noch unter den Nachwirkungen einer an der polnischen Front eingefangenen Ruhr litt und sich vollschiß, seine Beinkleider beschmutzte, stank, Durchfallrückfälle bekam, erneut “die Kontrolle über seine Entleerung verlor”. Dabei war Jung nicht desertiert, er wollte eigentlich nur einige Tage wieder Kräfte sammeln.

    Außerdem mußte er “die Sache mit dem Kind in Ordnung bringen”, mit dem es heillose Trennungs-Sorgerechts-Eifersuchts-Probleme gab, schon bevor er sich freiwillig, dabei verschiedene Gebrechen verheimlichend, an die Front empfohlen hatte. Das dortige Stahlbad brachte ihm keine Klarheit, vergrößerte eher seine “hochgradige Verwirrung”. Dann, während der psychiatrischen Befragungen, schlägt gerade seine Bereitschaft zur Aufarbeitung gegen ihn aus – ein Arzt notierte: “Das Vermissen jeglicher Scham, z.B. bei der Schilderung seines Eheunglücks, läßt ihn unzweifelhaft als schweren Psychopathen erscheinen.” Trotz dieses vernichtenden Urteils kommt Jung wenig später frei: Der Schutzverband der Schriftsteller rührte derart die Werbekampagne, daß ein Bewacher ihm schließlich fünfzig Pfennig für die Straßenbahn gibt und ihn wegschickt. Franz im Glück.

    Ich kenne solche Oszillationen selbst, gerade habe ich einen Widerspruch fürs Finanzamt verfaßt – und dabei auch zwischen Größenwahn, Querulanz, Unterwerfung und Opfer auszubalancieren versucht. Widerlich! Recht besehen, jedoch der Wirklichkeit entsprechend: einerseits Leute großkotzig zum Essen einladen und andererseits kurz davor stehen, obdachlos zu werden. Helmut Höge

    taz Berlin lokal Nr. 4677 vom 24.7.1995 Berlin

  • Nachhaltige Obdachlosigkeit:

    Was ist bloß mit der Obdachlosenzeitung motz los? Dieses ganze Ge-Relaunche mit immer weißeren Seiten und dem geradezu üppigen Farb-Layout mag ja noch angehen für alte, spätbürgerliche Blätter wie die Zeit, die nichts mehr zu sagen haben, aber doch nicht für ein neues, sozial engagiertes Selbsthilfeprojekt! Dazu wimmelt es in der motz von ganzseitigen Eigenanzeigen, die so aussehen, als hätte man nicht genug Texte. Kurzum: Diese Obdachlosenzeitung ist grottenschlecht geworden.

    Als die Philosophin Sonja Kemnitz in Berlin nach der Wende mit der motz anfing und auch mich als Schreiber dazuholte, war die Redaktionstruppe noch ganz hilflos: Was sollte das Ganze? Mir war das so unklar, dass ich bald das Handtuch warf. Obwohl ich selbst schon mindestens zehnmal obdachlos war und bei Freunden übernachtete, während meine Sachen irgendwo in einem Keller eingelagert waren. Gewiss, ich war nicht sonderlich drogenabhängig – und dieses “Abrutschen” geschah ohne Angst, höchstens mit ein bisschen Trotz bis Stolz. “Auf der Straße” machte sich sogar Erleichterung breit, Unternehmungslust gar. Statt eines Verzeichnisses aller Suppenküchen hatte ich mein Adressbuch – eine Art alternative Sozialversicherung. Also klapperte ich erst mal meine Freunde und Genossen ab – und versuchte dabei auf neue Gedanken zu kommen. Zuletzt war das ein Reiseunternehmen namens “Penner-Tours”, das saisonal-antizyklisch mit einem Bus und einigen Geldgebern die europäischen Penner-Hotspots abklappern sollte, um “wertvolle Erfahrungen zu sammeln”. Die Idee kam nie über den Selbstversuch hinaus. Irgendwann fand ich Arbeit und auch wieder ein Obdach. Ein ähnlich gepolter Kollege von mir, der beim Zeit-Magazin arbeitete, ertrank derweil in einem kleinen Fluss, beim Versuch, seinen Hund zu retten.

    Im vergangenen Herbst erschien auf Deutsch der Erfahrungsbericht des New Yorker Penners Lee Stringer, ehemals Redakteur der Obdachlosenzeitung Street News. Ein wunderbares Buch – obwohl typisch amerikanisch: Der schwarze Autor war schwer Crack-abhängig, und jeden Penny, den er beim Verkauf der Zeitung in der U-Bahn einnahm, setzte er in Dope um. Dementsprechend ist sein Bericht “Grand Central Winter” Dokument einer Selbstheilung: Man kann es also von ganz unten wieder nach oben schaffen!

    Im Zusammenhang seiner Cleaning-Therapie schreibt er: “Ich suche nicht mehr das Glimmen der Pfeife, sondern das Licht der Spiritualität.” Zuerst habe ich darüber nicht groß nachgedacht: Die Amis brauchen immer “Spiritualität”, um sich individuell wieder zu stabilisieren – d. h. vor dem Absacken zu schützen. Ich weiß gar nicht, was das ist, Spiritualität, weil wir in Europa, und speziell die Linken hier, ganz anders ticken. Aber dann fand ich in einem Reader über den jüdischen Widerstand im deutsch besetzten Osteuropa einen merkwürdigen Satz im Nachwort: “Möglichkeit und Erfolgsaussichten jeder nicht spirituellen Widerstandsform waren entscheidend abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld, in dem sich die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung vollzog.”

    Wenn ich das richtig verstanden habe, dann war der “nicht spirituelle Widerstand” ein “physischer” und bewaffneter – und der “spirituelle” demnach ein “nicht physischer Widerstand”. Anscheinend ist die Spiritualität so etwas wie eine kulturell-historisch gewachsene Kraft, die einen ebenso vor dem Untergang bewahren kann wie ein Revolver – wenn es denn gelingt, ihrer habhaft zu werden.

    Hier und jetzt ist es aber wahrscheinlich sehr viel leichter, sich eine Knarre zu besorgen als Spiritualität: trotz oder vielleicht gerade wegen all der kirchlichen Obdachlosenprojekte, die teilweise ob ihrer lieblosen Organisation – z. B. das Franziskanerkloster im Ostberliner Stadtteil Pankow – der Sinnlosigkeit sogar noch Vorschub leisten. Bei den Fixerprojekten gab es mal das von Selbstorganisation und politischer Verantwortung inspirierte “Release” in der Potsdamer Straße, daneben das stramm preußisch ausgerichtete “Synanon”, wo man bei Verfehlungen mit der Zahnbürste den Fußboden schrubben musste. Nur das letztere “Projekt” überlebte (natürlich!) – und ist heute eine Art Großkonzern zur Entsorgung und Ertüchtigung von Süchtigen aller Art.

    Auf einem ähnlich despiritualisierten Idiotentrip ist auch die Obdachlosenzeitung motz. Etwas anders sieht es bei der basis-, (d. h. Verkäufer-)organisierten strassenzeitung aus, deren bärtigen Kolumnisten Wolfgang Sabath ich sehr schätze und deren Redakteur Karsten Krampitz mir schon seit langem sympathisch ist. Neulich interviewte er den “Lindenstraßen”-Penner Harry Rowohlt, und der sagte auf die Frage, ob demnächst eine Entzugstherapie für ihn bei Synanon anstehe: “Ich darf nichts sagen . . . Aber Synanon ist doch Scientology. Penner-Harry würde da nie mitmachen.”

    Ein völlig harmloser Satz. Aber Synanon war darüber derart beleidigt, dass Krampitz ihnen nun einige zigtausend Mark wegen Beleidigung oder so rüberreichen soll. HELMUT HÖGE

    taz Nr. 6150 vom 24.5.2000 Kultur

  • Letzte Meldung von Karsten Krampitz:

    Am Sonnabend, den 5. Mai, anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung Behinderter feiern wir, die Mondkalb-Redaktion, im Piper in der Sredzkistraße 44 (Prenzlauer Berg) ab 20 Uhr Zeitungspremiere. Mondkalb, die neue Behindertenzeitung, erscheint – so Gott will – zweimonatlich in einer Auflage von 10.000 Exemplaren, die in Kneipen, Bezirksämtern, Arztpraxen etc. ausliegen werden.
    Mondkalb wird der Kracher. Wir sind sozusagen die “Vanity Fair” unter den Krüppelpostillen. Nur gute Nachrichten und schöne Menschen.Mittlerweile sind wir auch im Netz zu finden…
    (http://home.pages.at/glueckundgeld/mondkalb/)

  • Stadtschnüffler

    Außer der antifaschistisch motivierten Bowlingcenter-Forschung gibt es auch noch eine gleichsam interessenlose Stadtforschung, die deswegen jedoch nicht weniger engagiert sein muss – z. B. die der Europäischen Ethnologen an der Humboldt-Uni Berlin. So ist etwa “Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage”, die Arbeit von Rolf Lindner über die Pioniere der Chicagoer School of Sociology um Robert E. Parks, geradezu von einer fanhaften Begeisterung getragen.

    Lindner vertritt die Meinung, dass die Ethnografie mit Formen der Besessenheit zu vergleichen sei – in ihrem Interesse am ganz Anderen, sei es ein Zockerclub am Stadtrand oder ein Boxverein in einem Schwarzenviertel. Zunächst wurde diese US-Aktionssoziologie nur von der Kölner Schule um René König diskutiert. Aber über Pierre Bourdieu und den schon fast antisoziologischen Urbanismus stoßen die Chicagoer Forschungen nun auch hier auf Begeisterung. Gerade wurde zum Beispiel die Studie des Boxers und Herausgebers der Zeitschrift Ethnography, Loic Wacquant, “Ein “Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto”, auf Deutsch veröffentlicht.

    Am Lehrstuhl von Lindner entstanden u. a. eine Studie mit Portraits der hiesigen Migrantenszenen (“Durch Europa. In Berlin”) sowie eine Untersuchung des “Mythos Kreuzberg”. Im Vorwort zum Migrantenbuch schreibt Lindner: “Die Zusammensetzung unserer Projektgruppe spiegelt in gewisser Weise unser Thema: Zeitweise stammten die Teilnehmer/innen aus sechs europäischen Ländern. Das zeigt, dass auch die Universität nicht von den Prozessen ausgenommen ist, die sie beschreibt und analysiert.” Umgekehrt fangen u. a. immer mehr ausländische Prostituierte an, beispielsweise über ihre Erfahrungen mit akademischen Freiern zu schreiben. Aus einem HUB-Seminar über den frühen Erforscher des Londoner Mob (der mobile people), Henry Mayhew, entstand sodann im Lindner-Selbstverlag eine Reihe mit übersetzten Klassikertexten. Jetzt ist von Lindner noch “Eine Geschichte der Stadtforschung” veröffentlicht worden: “Walks on the Wild Side”.

    Sich als Wissenschaftler nicht den fremden Wilden in den Kolonien, sondern den eigenen, nebenan, zu widmen, hatte zunächst sozialhygienische Gründe: Die Angst des Bürgertums vor den ansteckenden Krankheiten der Armen. Dazu kam bald noch die Angst vor deren antibürgerlichem Furor. Die daraus resultierenden Forschungsprojekte, die Lindner in seinem Buch vorstellt, stammen sämtlich aus Großbritanien und den USA, bis auf eine Studie über das Arbeiterviertel Berlin-017 (Friedrichshain), die Friedrich Siegmund-Schultze 1925 initiierte. Er hatte zunächst ebenfalls im Londoner Osten geübt, wo er sich folgende Beobachtung über einen Betrunkenen notierte: “Eine johlende Gruppe von boys empfängt ihn und heult hinter ihm her. Er greift nach den girls, die neben ihm herlaufen.”

    Rolf Lindner hat die Akten der bis 1933 existierenden “Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost” von Siegmund-Schultze studiert – und ist dabei auf einige Kneipenrecherchen gestoßen. Inzwischen geraten aber auch schon die vornehmen Lokale ins Visier der Forscher: So schreibt z. B. eine FU-Studentin gerade eine Diplomarbeit über “Gespräche am Nebentisch” – im Borchardts, wo mittags Stern-, FAZ- und Zeit-Herausgeber sowie Hellmuth Karasek nebst Wolfgang Joop sitzen. Und in Kreuzberg geht ein typischer Dialog an einer postautonomen Kneipentheke bereits so: “Machen wir noch eine Bierforschung oder eine Nachhausegehforschung?” “Ich muss jetzt erst mal ‘ne Dönerforschung machen!”

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