vonHelmut Höge 15.05.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Auf dem Markt lernt man die Verstellung, die Lüge – deswegen brauchte es das Theater, den Roman und die Wahrscheinlichkeitstheorie, um diesem ganzen Scheiß gewachsen zu sein.

In Osteuropa wurden nach dem Zerfall der Kommunismen viele große Sportstadien sofort zu Marktplätzen umgerüstet. Der „Jarmark Europa“ im und am Warschauer Stadion in Praga entwickelte sich sogar zum größten Arbeitgeber Polens. Gleichzeitig bildeten die von der globalisierten neuen Ökonomie überall freigesetzten Arbeitermassen Men-in-Sportswear-Banden, die einen schwunghaften Handel mit illegalen Waren bis hin zu Menschen betreiben. Auch die nun nicht mehr vom Warschauer Pakt bzw. vom Freien Westen gesponsorten Partisanenbewegungen machten sich weltweit auf diese oder ähnliche Weise wirtschaftlich selbständig. Der Berliner Politikforscher Herfried Münkler spricht von „privatisierten Kriegen“ – als „Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln“. Wohingegen der Jerusalemer Konfliktforscher Martin van Creveld diese Kriege als Fortsetzung des Sports mit anderen Mitteln begreift. Darauf deutet nicht nur die aus den schwarzen US-Ghettos stammende Banden-Mode „Sportswear“ hin, sondern z.B. auch die jüngste Verwandlung des Fanclubs „Roter Stern Belgrad“ in eine Tschetnik-Einheit. In der ehemaligen Sowjetunion besteht das Gros der Body-Guards von kriminellen Banden aus ehemaligen Profisportlern. Umgekehrt brachte es hier der nigerianische Profifußballer Jonathan Akpoborie bis zum Besitzer eines Fährschiffes daheim, das er auf den Namen seiner Mutter taufte und gerade zum Transport von Kindersklaven eingesetzt wurde.

Mit dem Zerfall der ideologischen Großsysteme, so kann man vielleicht sagen, sind Sport, Krieg und Ökonomie neue Verbindungen eingegangen. Ihre Erforschung steht erst noch am Anfang. Als Pionierin auf diesem Gebiet gilt zu Recht die in Oxford lehrende Soziologin Malgorzata Irek. Sie forschte allein drei Jahre lang im „Schmugglerzug Warschau-Berlin-Warschau“, ihre Ergebnisse erschienen 1998 im Verlag Das Arabische Buch. In Berlin bzw. von Berlin aus widmen sich die beiden Urbanisten Wolfgang Kil (Ost) und Uwe Rada (West) diesem Marktwirtschafts-Thema. Ihrer Studie, die im Basisdruck-Verlag erschienen, ist ein Rat des Harvard-Kulturwissenschaftlers Czaplicka vorangestellt: „Hören Sie auf, von Berlin als Ost-West-Drehscheibe zu reden. Akzeptieren Sie vielmehr, dass Ihre Stadt eine Grenzstadt ist, ein Fluchtpunkt für osteuropäische Migranten“. Berlin hat diesbezüglich bereits eine Besonderheit vorzuweisen: Es gründete sich hier eine – sehr erfolgreiche – Schlepperbande, die Osteuropäer aus dem Westen nach Osten schleust – nämlich all jene Arbeitsemigranten, die mit einem 3-Monats-Touristenvisum einreisten, das sie wegen des Notwendigkeit, hier Geld verdienen zu müssen, überzogen. Um bei der Ausreise kein Wiedereinreiseverbot verpaßt zu bekommen, zahlen sie nun der Berliner Schlepperbande bis zu 500 Euro, um schwarz über die Oder/Neiße-Grenze zu gelangen. In umgekehrter Richtung ist es sehr viel teurer – und auch umständlicher. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern für alle Waren: das Risiko, vom Zoll bzw. Grenzschutz erwischt zu werden – wird durch eine höhere Profitrate ausgeglichen. Ein junger Mann namens Kamal aus Bangladesch mußte z.B. 7000 Dollar für seinen Transfer über Moskau nach Berlin zahlen, wo er nun im „Treptower Kinderasyl“ Aufnahme fand. Die Schlepperbande, der er sich 1999 anvertraute, war – so wie die zuletzt gegen die Deutschen kämpfenden kommunistischen Partisanen – landsmannschaftlich organisiert, d.h. hinter jeder Grenze wurde seine Flüchtlingsgruppe von einer anderen Bande übernommen, wobei teilweise sogar die alten Partisanen-Schleichwege wieder benutzt wurden. Nähere Einzelheiten erzählte er einem Journalisten der Berliner Zeitung. In der Frankfurter Rundschau berichtete gerade Lilli Brand, wie der Frauen-Schlepp-Service von Kiew über die Karparten nach Berlin abläuft. Er ist bedeutend bequemer, weil er mit gefälschten bzw. über Bestechung erschlichenen Einreisevisa und per Zug funktioniert, aber in etwa genauso teuer. Und er wird jetzt noch teurer, nachdem man den bestechlichen deutschen Visabeamten in Kiew verhaftet hat.

Bereits während der deutschen Okkupation und der Ausplünderung des Ostraumes waren zigtausende von Menschen gezwungen, vom Produktions- in den Informations- bzw. Dienstleistungssektor überzuwechseln, d.h. die Landwirtschaft, ihr Handwerk oder den Industriearbeitsplatz aufzugeben und Schmuggler – im Jiddischen auch „Macher“ genannt – zu werden. Die selbe Situation haben wir dort auch heute wieder, wobei der „Ameisenhandel“, wie man das jetzt nennt, sich inzwischen bis nach Asien und Afrika hin erstreckt. So filmte z.B. die polnische Dokumentaristin Jolla Grazyna die gefahrvolle Tour einiger Kirgisen, die regelmäßig auf dem Automarkt in Stuttgart einige PKWs kaufen und sie dann in ihre Heimat überführen, wo sie sie weiterverkaufen. Das Schlimmste unterwegs sind die korrupten Polizisten, sagt einer. Auf dem Luftweg blüht der deutsch-mongolische Kleinhandel – dank der Direktflugverbindung Ulan-Bator-Berlin und einer schon wieder auf etwa 5000 Menschen angewachsenen mongolischen „Diaspora“ in Ostdeutschland.

Obwohl die Rußlanddeutschen die BRD als ihre Urheimat ansehen, kann man auch sie hier als eine „Diaspora“ bezeichnen, denn eine ihrer wenigen ökonomischen Möglichkeiten besteht darin, zwischen hier und ihren Herkunftsorten in Kasachstan oder Sibirien etwa einen „Ameisenhandel“ aufzuziehen. Unlängst schickte der SFB ein Filmteam auf eine Reise mit dem Kurswagen von Berlin-Lichtenberg über Saratow nach Sibirien. Der regelmäßig verkehrende Zug wird hauptsächlich von Rußlanddeutschen benutzt, die darüber u.a. die noch nicht Ausgesiedelten mit frischen Eindrücken und Farbphotos aus Deutschland versorgen. Diesen „Ameisenhandel“ mit Informationen durfte das SFB-Team hernach jedoch nicht zeigen, um den bisher völlig legalen Deutschenschmuggel nicht noch zu forcieren. Ähnlich nahm die FAZ neulich einen Beitrag von Wladimir Kaminer in letzter Minute wieder aus dem Blatt, weil er darin einige Überlebenstricks von illegal in Berlin sich aufhaltenden Russen geschildert hatte. Auf dem Warschauer „Jarmark Europa“ erzählte mir einmal ein vietnamesischer Sportswear-Händler, von denen es mehrere tausend dort gibt, daß zu seinen Lieferanten ein Händler aus Hanoi gehört, der die Textilstücke in Heimarbeit von seiner eigenen Familie herstellen läßt. Anschließend fährt er mit dem Zug nach Peking, von dort nimmt er die Transsib nach Moskau und in Warschau schließlich geht er mit seinen zwei großen Taschen ins Stadion nach Praha, wo er sich dann für den Rückweg wieder mit anderen Waren eindeckt, die er unterwegs – von Irkutsk über Ulan-Battor bis Peking und Hanoi – verkauft. An den Grenzen muß er jedesmal Zoll bezahlen, die Zöllner bestechen oder sich, noch besser, unsichtbar machen. „Ich glaube wirklich, daß er das kann,“ meinte der vietnamesische Händler und fügte hinzu: „Sonst könnte ich mir gar nicht vorstellen, daß sich das überhaupt lohnt!“

Das ist genau der springende Punkt – den jetzt die postproletarischen Massen im Osten ins Auge fassen müssen: „Was Tun – damit es sich lohnt?“ In Berlin ist inzwischen die halbe Linke bzw. das was davon noch übriggeblieben ist, damit beschäftigt, hierfür mehr oder weniger legale Fluchthilfe Danach zu leisten. Das Spektrum reicht von der Schwarzarbeiter-Beschäftigung beim Landhaus-Ausbau über Scheinehen und günstigen Zigaretten- sowie Drogenerwerb bis zu Au Pair Girls aus Bratislava für die Kinder oder Nicht mehr selbst die Wohnung sauber machen und dafür eine ukrainische Putzfrau einstellen. Man hat damit mehr oder weniger Anschluß an die neue osteuropäische Marktwirtschaft gefunden – und zwar aktiv als Nutznießer. Im Hauptstadt-Feuilleton schreibt dagegen meist immer noch der scheinbar absichtslose Flaneur.

Den in Frankfurt/Oder lehrenden linken Slawisten Karl Schlögel kann man inzwischen geradezu als Sänger der Marktwirtschaft bezeichnen. Schon die Titel seines letzten diesbezüglichen Essays deuten das an: „Die Geburt des Basars aus dem Zerfall“ und „Der Ameisenhandel kennt keine Grenzen“. Als Wissenschaftler unterscheidet er zwischen mehreren Phasen – wobei die „Basarphase“ in einigen Ostblockländern „schon wieder vorbei ist“. – Ebenso wie in einigen russischen Metropolen die Men-in-Sportswear-Bandenmode. Als Dichter sieht er aber vor seinem geistigen Auge das große Ganze: Ein riesiges „Netzwerk der Warenströme, das die östlichen Städte mit der Welt draußen und das die Städte ihrerseits mit der Provinz tief im Landesinneren verbindet“. Die Menschen, die daran beteiligt sind, bezeichnet Schlögel mit dem russischen Wort „Tschelnok“ – als Weberschiffchen: „Es rast hin und her und erzeugt mit dem Faden, den es abspult, jenes Gewebe, aus dem dann der feste Stoff entsteht“. In einer russischen Untersuchung, die Schlögel zitiert, wird dieser „neue Beruf“ als „kleiner Händler – in der Regel mit Hochschulbildung“ definiert, „der die Funktionen des Staatsmonopols zur Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und alltäglichen Bedarfsartikeln auf sich genommen hat“.

Man sieht ihn förmlich vor sich – diesen neuen hochgebildeten jungen Pionier. „Geh nach Sibirien junger Mann, dort wachsen Dir die Gürkchen ins Maul,“ riet bereits Gorkij einem Arbeitslosen. Die Vietnamesen oder Kirgisen, die jetzt in umgekehrter Richtung als Kleinhändler Riesenstrecken durchqueren müssen, erledigen dabei, so sagt Schlögel, ihre „Shoppingtouren per Charterflug“. Und Hunderttausende lernen dabei im Westen, daß man „’normal‘ leben und die Früchte seiner Arbeit genießen kann“. Auf diese Weise werden die Marktbesuche ihnen – wie auch schon dem jungen Gorkij – zu „Schulen des Lebens“, d.h. wenn man ein Leben „im Sog und im Schatten des Basars“ führt, werden „nicht Institutionen ausgewechselt, sondern eine ganze Lebensform“. Diese ist zwar nicht mehr geplant – wie im Kommunismus, sie hat dennoch eine, wenn auch schwer erkennbare „Ratio“: Sie wird nämlich (wieder) gelenkt von einer „unsichtbaren Hand“ (der Marktwirtschaft selbst), die „nicht nur stärker als die Faust jedes noch so mächtigen Diktators ist, sondern auch effizienter“, denn sie setzt sich aus der „kollektiven Intelligenz Tausender von Menschen“ zusammen – aus der Summe ihrer Handelstätigkeiten quasi.

Man merkt diesem Westberliner Marktbeobachter bzw. Basarbesucher an, daß er sein Geld nicht im Kleinhandel oder gar mit Prostitution verdienen muß, ja nicht einmal als Konsument dort auftritt. Denn eine ständige und stabile Konzentration auf das, was sich lohnt, also auf die mögliche Gewinnspanne beim An- und Verkauf einer Ware, die einem an sich völlig gleichgültig ist, verblödet einen Menschen nicht nur, sondern macht ihn – besonders all jene osteuropäischen Kleinhändler „mit Hochschulbildung“, die gezwungen sind, sich für den Rest ihres Lebens als Schmuggler durchzuschlagen – schier verrückt, d.h. mindestens depressiv. Vom Westen aus ist es unverschämt, diese massenhafte Deklassierung einfach als Zugewinn abzubuchen, während es dort eher als Weltverlust empfunden wird, in der neuen Ordnung alle Dinge in Zahlen umrechen zu müssen.

Sehr eindrucksvoll schildert dies ein Film von Zoran Solomun und Vladimir Blazevski: „Der chinesische Markt“ in Budapest. Es geht darin um vier Intellektuelle aus Jugoslawien, Rumänien, Mazedonien und Ungarn, die mit dem Zerfall des Kommunismus ihre Existenz verloren haben und nun als Handlungsreisende noch einmal von vorne anfangen. Eine erzählt: „Alles brach um mich herum zusammen – es war ein Alptraum!“ Ein anderer rasiert sich jedesmal, bevor er sich wieder nach Budapest aufmacht, damit er nicht „wie ein Schmuggler“ aussieht. Auf dem Markt arbeiten 5000 chinesische Händler, aber auch z.B. ein ehemaliger Professor aus Kabul: Er verkauft dort chinesische Waren auf Kommission. Die Kleinhändler klagen: „Man muß jede Woche neu verhandeln“. Ihre großen schwarz-weißen Taschen, mit denen sie ihre Waren transportieren, nennen sie „Kühe“, weil sie so viele Menschen ernährt: die Großhändler, das Marktpersonal, Zöllner, Busfahrer…und am Ende dieser Kette auch noch sie selbst, d.h. „wenn noch etwas übrigbleibt“. Um das Risiko zu verringern, kaufen sie jedesmal alles Mögliche in Budapest ein: Lippenstifte, Mützen, Turnschuhe, Jacken, Uhren, Deosprays, Spielzeug etc.. Und so, wie die mit dem Zug nach Berlin reisenden polnischen Kleinhändler sich in Gruppen organisieren, wobei der Älteste den Schmuggeltarif mit den Zöllnern aushandeln muß, scharren sich die mit dem Bus regelmäßig Budapest ansteuernden Händler um ihr Buspersonal. Diese listen auf der Rückfahrt – bis zur ersten Grenze – alle mitgeführten Waren auf und verhandeln dann mit dem Zoll. Wenn es gut geht, gibt es anschließend keine Beanstandungen bei der Einzelkontrolle der „Kühe“, die jeder Kleinhändler den Zöllnern draußen noch einmal vorführen muß. Und danach wird im ganzen Bus gefeiert und gesungen. Aus gutem Grund.

Während die Großhändler in Budapest zumeist von den chinesischen Fabriken abgesandt wurden, sind die Standbesitzer auf den regionalen Märkten – in Sarajewo und in Tetovo (Mazedonien) z.B. , denen die vom Filmteam begleiteten Kleinhändler ihre Ware liefern, ebenfalls „früher“ oft Lehrer, Akademiker, Journalisten und sogar Betriebsdirektoren gewesen oder sie kamen nicht mehr mit ihrer Rente hin. In Bosnien heißt einer ihrer Märkte „Arizona“, so genannt nach einem „Check-Point“, den die Uno-Schutztruppen dort als erstes eingerichtet hatten. In Polen ist Arizona dagegen der Name einer Billigweinmarke, mit der all jene sich besaufen, die ihre letzten Habseligkeiten auf dem Basar verkauft haben – mithin an der Marktwirtschaft gescheitert sind. Auch darüber gibt es einen – gleichnamigen – Film: von Ewa Borzecka. Er entsetzte halb Polen, als er im Fernsehen lief. Aber auch ihre anderen Filme – über Warschauer Obdachlose, die in der Kanalisation hausen wie früher die Partisanen, über alleinerziehende Mütter, die sich vom Beischlafdiebstahl ernähren sowie über eine Witwe, die 13 Kinder zu versorgen hat – beschimpfte die polnische Kritik als „Pornographie“.  Der Film über den chinesischen Markt in Budapest wurde von dem deutsch-französischen Sender Arte ausgestrahlt, im Rahmen eines Themenabends über „Die Gesetze des Marktes“. Der Regisseur Zoran Solomun ist kein amtlich bestellter Sänger der Marktwirtschaft, sondern ein ehemaliger Belgrader Fernsehredakteur, der sich hier im Exil als selbständiger Filmemacher durchschlägt. – Und der deswegen mit seinen fünf grenzüberschreitend tätig werdenden Einzelhändler-Helden derart mitfühlt, daß man ihm höchstens eine gewisse Großhändler-Feindlichkeit zum Vorwurf machen könnte. Also, daß er die Budapester Chinesen fies gefilmt hat. Einer seiner Kleinhändler hat stets seinen Parteiausweis dabei: „als Amulett, das Glück bringt“. Er war früher Partisan, glaubt noch immer an den Kommunismus, und ist am Ende seines Lebens wieder zu einer Art Partisan des Alltags geworden. Dazu verhalf ihm am Anfang ein Existenzgründerdarlehen über 1500 DM von der Deutschen Bank-Filiale in Sarajewo. Bei jeder Verkaufstour kann er nun „200 Euro für sich rausholen“.

Dieses traurige Schicksal wird von den neuen Neoliberalen meist mit Statistiken vergoldet – über die optimistisch stimmende Entwicklung der Märkte selbst. Ihre frohe Botschaft kann jeder Besucher z.B. der „Polenmärkte“ gleich hinter der Grenze mit eigenen Augen bestätigen: Anfangs gab es nur ein paar Bretter auf Steinen, dann Zelte, Buden und schließlich ganze Boutiquen aus Chrom und Glas mit Neon. Gleichzeitig schritt die nachholende Entwicklung zügig vom Kiosk über den Laden bis zum Supermarkt fort: Man kann sozusagen aufatmen und Business as Usual vermelden – bis weit hinter den Ural bzw. von einer gelungenen Transformationsphase faseln. Vollends abgehoben ist es, davon zu schwärmen, daß der Ameisenhandel keine Grenzen kennt: Gerade die daran Beteiligten, vom Schmuggler bis zum LKW-Fahrer, kennen die Grenzen genau, geradezu intim. Dazu gehört auch das Wissen, daß weniger Angebot und Nachfrage die Preise regeln, sondern eher die Verfolgung. Nicht nur durch konkurrierende Banden. Auf den Märkten an der Grenze zwischen Polen und Rußland beispielsweise kommt es regelmäßig durch Staatseingriffe zum sogenannten Kaliningrader Schweinezyklus: Auf Druck der polnischen Alkoholhändler vertreibt der Zoll mit Razzien die russischen Wodkaschmuggler, die damit aber auch als zahlungskräftige Kunden wegfallen, woraufhin die übrigen polnischen Geschäftsleute protestieren und die Zöllner schließlich nachgeben – bis sich die Lage an der Grenze nach einiger Zeit wieder „normalisiert“. Diese „Wellenbewegung“ erklärte der Bürgermeister des Städtchens Braniewo gerade dem FR-Korrespondenten Klaus Bachmann. Die staatliche Deregulierung der reprivatisierten Versorgungs-Netzwerke hat insgesamt zur Folge, daß es einen permanenten Druck hin zur Legalität gibt (den man in Deutschland erst auf das nicht-versicherungspflichtige Hauspersonal ausübte und demnächst auf die nicht-versicherungsrechtlich anerkannten Prostituierten). Man kann das als Fortschritt feiern, umgekehrt ließe sich aber auch die Flexibilität und Kreativität der Illegalen als „Waffen der Schwachen“ und „alltäglichen Widerstand“ begrüßen, wie das gerade Janet MacGaffey und Rémy Bazenguissa-Ganga in ihrer Untersuchung „Transnational Traders on the Margins of Law“ getan haben, in der sie sich mit den Netzwerken der ebenfalls meist überqualifizierten Händler aus Brazzaville und Kinshasa befassen, die eng mit der kongolesischen Diaspora in Paris kooperieren. Ähnlich beeindruckt von ihren subversiven Fähigkeiten scheint die Filmemacherin Ulrike Ottinger von den Händlerinnen und Prostituierten in Odessa gewesen zu sein, Ende letzten Jahres berichtete ihre Mitarbeiterin Katharina Sykora bereits über die Dreharbeiten, wobei man den Eindruck gewann, daß viele Frauen dort sogar die Heirat mit einem Amerikaner bereits als partisanischen Akt in Angriff nehmen.

Dazu paßt, das sich in den USA und in Deutschland ein neuer Wirtschaftsratgeber mit dem Titel „Guerilla-Marketing“ derart gut verkaufte, daß der Autor Jay Conrad Levinson gleich noch ein Buch mit dem Titel „Guerilla Verkauf“ nachschob. Wenn aber jeder Kleinhändler gleich zum „Privatpartisan“ erklärt wird, dann ist die neue Marktwirtschaft selbst ein einziger Bürgerkrieg – dessen Gefechte aus unfreundlichen Übernahmen, Mobbing, Kartellen, Razzien, Steuerfahndungen, Entlaubungsaktionen, Beschlagnahmungen etc. bestehen. Nicht zu vergessen: die Privatisierungen. Auf einer Konferenz ostdeutscher Betriebsräte in Rostock, 1993, sagte der Industrieverbandspräsident Till Necker – auf die Frage, wie eine derartig hinterhältige Privatisierung als Abwicklung durch die Treuhand beim Kalibergwerk Bischofferode passieren konnte: „Bei Kali hat es nie eine Marktwirtschaft gegeben – Ende der Durchsage!“ Und wie ist es mit der Elektrowirtschaft? „Dort auch nicht, die ist komplett kartelliert“. Und mit der Stahlindustrie? „Da erst recht nicht!“ Und beim Aluminium: „Da schon gar nicht! Fragen Sie mich nicht weiter – bei den Energieträgern Kohle, Gas, Öl, Atomstrom herrscht erst recht der staatsmonopolistische Kapitalismus, wie das immer die DDR nicht ganz falsch genannt hat. Das wird sich aber jetzt wohl ändern – mit den ganzen Deregulierungen und Privatisierungen“. Sechs Jahre später verteidigte der Vorstandsvorsitzende der russischen Aktiengesellschaft Gazprom auf einer internationalen Gaskonferenz in Berlin seinen Staatskonzern: „Man kann nicht auf Teufel und komm raus einfach alles privatisieren und die Karten neu verteilen – so wie in der russischen Ölindustrie etwa. Am Ende sind dann die Karten alle weg – und die Spieler auch“. Die „Neue Ökonomie“ wird selbst von ihren größten Nutznießern und Ideologen als Revolution von oben charakterisiert.

Genau umgekehrt sehen das die französischen Autoren einer Aufsatzsammlung über die „Ökonomie der Bürgerkriege“, in der sie sich mit den Befreiungsbewegungen rund um den Globus und ihre Versuche, sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wirtschaftlich auf eigene Füße zu stellen, befassen. Gerade dabei wird die Wirtschaft von ihnen in den Boden gestampft. Egal, ob die Guerillagruppen sich kommunistisch, nationalistisch, ethnisch oder religiös begreifen, ihre Geschäfte machen sie inzwischen meist mit Drogen, Waffen, Menschenschmuggel, im Sklavenhandel, als Erpresser, fliegende Zöllner und Ähnlichem. Beunruhigt sind die Autoren vor allem deswegen, weil die heutigen Rebellen dahin tendieren, ihre „befreiten Gebiete“ so lange auszuplündern, bis nichts mehr da ist – einschließlich der internationalen Hilfslieferungen. Man könnte hierbei von Selbstkolonialisierung sprechen. Wobei diese „Low intensity conflicts“ zunehmend an Stelle der regulären Staats-Kriege treten – und das kriegerische Handwerk – in Form von Söldnern – wieder goldenen Boden hat. Das begann bereits im libanesischen Bürgerkrieg. Oftmals werden jetzt schon Kinder gezwungen, vom Produktions- in den Destruktionssektor überzuwechseln.

Es wird also böse enden. Die osteuropäischen und asiatischen Basare sind bereits eine einzige Kaderschmiede – was ja bereits die iranische Revolution befürchten ließ. Und auch hierzulande geht nicht nur die Entwicklung rückwärts – große Kaufhäuser schließen oder weichen Billig-Sortimentern und Sportcentern, daneben üben sich auch immer mehr Kinder hierzulande als Kleinhändler, indem sie ihr Spielzeug zum Verkauf auf der Straße ausbreiten. In den U-Bahnen und Kneipen wechseln sich derweil Musiker mit Zeitungs-, Rosen-, Feuerzeug- und Schmuckverkäufern ab, und aus den von Türken dominierten Trödelmärkten heraus entwickelte  sich die „Kanack Attak“ , wie ihr Bundesprecher Feridun Zaimoglu einmal andeutete.

In den rund 800 Bordellen Berlins dominieren inzwischen schon fast die illegalen Osteuropäerinnen mit Hochschulabschluß, was neulich eine Prostituierten-Expertenkommission aus Indien ganz besonders deprimierte, denn sie gingen bisher bei sich in Bombay immer davon aus, daß nur Aufklärung und Ausbildung die Frauen vor einem derartigen Schicksal bewahren kann: „Sind denn unsere ganzen Qualifizierungskampagnen alles Schwindel?“ fragen sie entsetzt.  Auf der anderen Seite sind hier aber selbst die hochgejubelten „Start-Up-Firmen“ vielfach bloß reine Schwindelunternehmen – behauptete jedenfalls der Spiegel vor kurzem, und auch noch die völlig unkritische Berichterstattung darüber, im Handelsblatt z.B., kann man nur als „betrügerisch“ bezeichnen, meinte der Journalist Werner Rügemer in der Jungen Welt. Sogar ein so seriöser Konzern wie Siemens wird seit Beginn der sogenannten Globalisierung an allen Ecken und Ende der Welt der Korruption bezichtigt. Statt Luftkurorte, Erholungsheime und Recreation Center brauchen wir wahrscheinlich bald „Inseln der Integrität“, wo jeder Handel untersagt ist!

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/05/15/markt-ist-mord/

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kommentare

  • Michael Sontheimer schickte mir folgenden Pressetext – mit der Bemerkung „Vielleicht interessiert dich das…“:

    > Forschung auf Schmugglerpfaden
    >
    > Wissenschaftlerin des Leibniz-Instituts für Länderkunde untersucht
    > Kleinhandel und Schmuggel an der polnisch-russischen Grenze
    >
    > Kleinhandel und Schmuggel gehören in vielen strukturschwachen
    > Grenzregionen zur alltäglichen Praxis im Kampf gegen die Armut. Trotzdem
    > liegen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die Bedeutung des
    > informellen Warenverkehrs über Grenzen hinweg bisher kaum vor. Das von
    > der Volkswagenstiftung geförderte Projekt „Grenze als Ressource“ an
    > der Universität Bielefeld soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu
    > schließen. Bettina Bruns, die seit 2007 im Leibniz-Institut für
    > Länderkunde arbeitet, beschäftigt sich im Rahmen des Projekts mit
    > individuellen Bedeutungen und Motiven des Schmuggels in der
    > polnisch-russisch Grenzregion. Zwischenergebnisse ihrer ungewöhnlichen
    > Forschungsarbeit präsentierte die Kulturwissenschaftlerin jetzt im
    > Rahmen eines Kolloquiums.
    >
    > Nach den bisherigen Recherchen zu ihrer Dissertation gibt es drei
    > Grundvoraussetzungen für „erfolgreichen“ Schmuggel: die Verfügbarkeit
    > von sozialen Netzwerken, die Aneignung von spezifischem lokalem Wissen
    > und das Pflegen selektiver Vertrauensbeziehungen. Weitere Ergebnisse aus
    > Interviews und Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass der Schmuggel
    > an der polnisch-russischen Grenze in besondere Rahmenbedingungen
    > eingebettet ist: Der faktisch illegale Schmuggel erfährt durch lokale
    > Autoritäten gewissermaßen eine moralische Legitimierung. Denn sie sehen
    > in der Schmuggeltätigkeit vieler Einwohner letztlich auch eine
    > Entlastung der Sozialsysteme. Dadurch erscheint die gesetzeswidrige
    > Routine den Beteiligten als ganz normale Legalität.
    >
    > Informationen zu bekommen, die solche Schlüsse erlauben, ist naturgemäß
    > schwierig. Um dennoch etwas über die Funktionsweisen dieses Gewerbes zu
    > erfahren, musste Bettina Bruns behutsam vorgehen: Fast ein Jahr
    > verbrachte sie in einer Kleinstadt in der Woiwodschaft
    > Warmińsko-Mazurskie nahe der Grenze zu Russland. Dort versuchte sie
    > durch Teilnahme am alltäglichen Leben Barrieren abzubauen und Kontakte
    > zu den Akteuren des Schmuggelgewerbes aufzubauen: den Schmugglern
    > selbst, aber auch zu lokalen Behörden und städtischen Einrichtungen,
    > ortsansässigen Unternehmen und den Grenzautoritäten. „Nur so konnte es
    > gelingen, etwas über die Hintergründe des Schmuggels zu erfahren“,
    > erklärt Bettina Bruns die zeitintensive und mitunter diffizile
    > Strategie. Trotz anfänglicher Zweifel führte die Methode schließlich zum
    > Erfolg: Der Wissenschaftlerin gelang es, Schmuggler auf Busfahrten über
    > die Grenze zu begleiten und so die für ihre Arbeit entscheidenden
    > Einblicke zu bekommen.
    >
    > Grenzüberschreitende ökonomische Praktiken stehen auch in einem zweiten
    > aktuellen IfL-Projekt im Mittelpunkt des Interesses. Unter der
    > Überschrift „Geographie[n] an den Außengrenzen des europäischen
    > Projekts“ führt derzeit ein Forscherteam um Judith Miggelbrink
    > Fallstudien in finnisch-russischen, polnisch-belarussischen,
    > polnisch-ukrainischen sowie ukrainisch-rumänischen Grenzregionen durch.
    > Die Wissenschaftler wollen Erkenntnisse sowohl über die jeweiligen
    > lokalen Bedeutungen der Grenze als auch über die Funktionsweise der
    > EU-Außengrenze im Allgemeinen gewinnen. Dazu organisieren sie vor Ort
    > Gruppendiskussionen mit Kleinhändlern und Unternehmern, beobachten
    > systematisch Märkte und Grenzübergänge und führen Experteninterviews mit
    > regionalen Entscheidungsträgern.
    >
    > Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Bettina Bruns, Tel. 0341 255-6531,
    > b_bruns@ifl-leipzig.de, oder an Judith Miggelbrink, Tel. 0341
    > 255-6509, j_miggelbrink@ifl-leipzig.de.
    >
    >
    >
    > *****************************
    > Dr. Peter Wittmann
    > Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    >
    > Leibniz-Institut für Länderkunde
    > Schongauerstraße 9
    > D – 04329 Leipzig
    >
    > Tel.: +49 (0)341 255-6574
    > Fax: +49 (0)341 255-6598
    > E-Mail: p_wittmann@ifl-leipzig.de
    > Internet: http://www.ifl-leipzig.de
    >
    Ich erinnere im Zusammenhang dieses Forschungsvorhabens noch einmal daran, dass die u.a. in Oxford lehrende Soziologin Malgorzata Irek schon seit der Wende in Polen und Deutschland Schmugglerforschung betreibt. Ihr erstes Buch darüber, im Verlag das Arabische Buch erschienen, hieß: „Der Schmugglerzug Warschau-Berlin-Warschau“. Auf unserer 1. Messe über Geldbeschaffungsmaßnahmen, der leider nie eine zweite folgte, referierte sie darüber – und dazu einige neuere Forschungsergebnisse. Damals sagte sie, als nächstes werde ein buch von ihr über eine polnische Putzfrau, die in Berlin arbeitete und sich dann in Polen mit einem Friseurladen selbständig machte, erscheinen.

  • Luc Dröhmer schreibt – aus Ungarn:

    Wo ist denn nun der o.e.Chinesenmarkt in Budapest? Wir haben ihn einen halben Tag lang vergebens im 8 Bezirk gesucht. Nur ein paar ganz kleine Chinaläden haben wir dort gesehen und anschließend haben wir in einem Chinarestaurant in der Nähe vom Bahnhof mehr schlecht als recht gegessen…

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