Kellnerinnen und Putzfrauen gehen in einer Schicht manchmal 30 Kilometer. Die eher im Sitzen arbeitenden Kuratoren des Kunstraums Kreuzberg im Bethanien bereiten derzeit eine Ausstellung über das Gehen vor: „Walk! Spazierengehen als Kunstform – Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen“. Dazu haben sie einen Wettbewerb ausgerufen: „Gesucht wird der liebste, der schönste Spaziergang dieser Stadt.“
Die Idee geht auf den Berliner Verleger Martin Schmitz zurück, der kürzlich einen Lehrauftrag für Spaziergangswissenschaft an der Uni Kassel bekam, wo schon der Basler Spaziergangsforscher Lucius Burckhardt seit 1987 „Promenadologie“ lehrte – ein Fach, für das er lange und leidenschaftlich warb. Burckhardt starb im Sommer 2003.
1981 traf er sich mit mir, der ich gerade von einem Langen Marsch zurückgekehrt war – von der Wesermarsch in die Toskana, wobei jedoch ein Pferd mein Gepäck getragen hatte. Zuvor, 1978, hatte ich auf dem Tunix-Kongress in Berlin ein Flugblatt verteilt, in dem ich davor warnte, das dort propagierte „Abhauen“ als bloße Metapher zu verwenden. Darüber wollte Burckhardt bei unserem Treffen mehr wissen: Wir sprachen über das Gehen als langsame Flucht- oder Absetzbewegung und über das dazu passende Schuhwerk.
Im Gegensatz zu dem Promenadologen ging es mir beim Gehen um das Reinfinden in verschiedene Landwirtschaften (Handarbeiten) und weniger um reine Spaziergangsforschung (Fuß- und Kopfarbeit). Aber Lucius Burckhardt hat mich damals sozusagen infiziert: Seit 1981 bin auch ich ein überzeugter Geher. Solange ich das Gefühl habe, jederzeit einfach weggehen zu können, bin ich einigermaßen zufrieden. Und um meine Beine und Füße dafür in Form zu halten, gehe ich fast täglich irgendwohin. Inzwischen ist mir schon fast jedes Bleiben ein bloßes Auf-der-Stelle-Treten.
Zu dieser Einstellung trug nicht zuletzt der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz bei, der einmal – in seinem Exil in Buenos Aires – auf einem Empfang Jorge Luis Borges‘ traf und von dessen bourgeoisem Gerede so angewidert war, dass er sich zum Gehen entschloss – und auch tatsächlich ging. Über diesen seinen Weggang berichtete er später ausführlich, das heißt seitenlang, in seinem Buch „Transatlantik“. Gombrowiczs „Gehen“ unterscheidet sich gewaltig von Walter Benjamins „Flanieren“ und Lucius Burckhardts „Promenieren“. So weit noch meine Füße tragen, versuche ich nun, mich dazwischen auszubalancieren. In puncto Gehgeschwindigkeit und -gewissen aber steht mir Gombrowicz immer noch am nächsten.
Daneben ist der Weddinger Klavierstimmer Oskar Huth ein Vorbild. Kürzlich erschien im Merve-Verlag posthum sein „Überlebenslauf“, herausgegeben von seinem Malerfreund Alf Trenk. Der Begriff der Balance ist darin zentral. Insbesondere gilt dies für die „Nazizeit“ des Einzelgängers Huth, dem die Amerikaner 1946 die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“ bescheinigten. Oskar Huth selbst sprach von einer „artistischen Balancemeierei – unvorstellbar!“ Und erklärte sie wie folgt: „Was mir dazu geholfen haben muß, durchzukommen, ist wohl, daß mich die Leute hinsichtlich meiner Nervenfestigkeit, meiner physischen Kraft und (wenn ich’s mal ein bißchen eitel sagen darf) auch, was die Sache eines gewissen Witzes angeht, unterschätzt haben …“ Immerhin wird man ihm nach dem Krieg eine Stelle im Kultursenat antragen. Der selbsternannte „freischaffende Kunsttrinker“ zieht es jedoch vor, selbständig zu bleiben. Pro forma war als Zeichner im Botanischen Garten angestellt gewesen, aber 1941 tauchte er mit falschen Papieren unter. Am Breitenbachplatz betrieb er daraufhin im Keller eine Druckwerkstatt, in der er falsche Pässe und Lebensmittelkarten herstellte. Damit ermöglichte er fast sechzig Menschen, überwiegend Juden, das Überleben. Tagtäglich war Oskar Huth zu Fuß unterwegs, auf Buttertour zu den Untergetauchten. Er selbst spricht von einem täglichen „monsterhaften Latsch durch die Stadt“ – zeitweilig auch bewaffnet.
Solch hehre Gehziele haben kaum noch etwas mit „Peripathetik“ – dem klassischen Herumwandeln zwischen Olivenbäumen – zu tun. Aber auch der postmoderne Promenadologe würde nie mit Skistöcken bewaffnet ausgehen, wie sie die Nordic Walker im Grunewald, wo es inzwischen eine ganze „Akademie“ dafür gibt, in den Händen halten. Auch ein Walkman oder MP3-Player, wie die Jogger im Tiergarten oder in Prenzlauer Berg sie sich ins Ohr stöpseln, wären tabu. Wenn das schlichte Gehen heute zum „Walking“ aufgesportet wird, dient es nicht mehr dem wirklichen Aufbruch, sondern der Fitness. „Nur der Zigeuner weiß noch aufzubrechen, er macht daraus so etwas Einfaches wie Geborenwerden oder Sterben“, meinten Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer „Nomadologie“.
Daneben gibt es – jedenfalls in Berlin – immer mehr Touristen, die das Gehen behindern, indem sie zu langsam schlendern und dabei noch nach oben kucken. Insbesondere gilt dies für die vielen spanischen Touristen. Dabei gehört Madrid eigentlich zu den Städten auf der Welt, wo man am schnellsten geht – zusammen mit Singapur, wo sich das Lauftempo in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent beschleunigt hat“, wie Urbanisten meinen herausgefunden zu haben. New York und Tokio lägen dagegen nur im Mittelfeld, während sich die Gehgeschwindigkeit auch in Berlin ständig erhöhe: Als Grund werden die sinkenden Reallöhne im Verein mit den steigenden Lebenshaltungskosten hier erwähnt. Und das leuchtet auch ein: Man braucht bloß die Mieten um 20 Prozent zu erhöhen – schon muss jeder mehr verdienen und sich also schneller bewegen. Eine Freundin riet mir neulich schon zu einem Fahrrad. Aber das ist keine Lösung für Weggeher.
Inzwischen gibt es – ausgehend vielleicht von Peripathetikern wie Goethe und Johann Gottfried Seume, der 1802 einen „Spaziergang“ von Deutschland nach Sizilien unternahm – eine wachsende Zahl von Gehern, die nach ihren Gängen anschließend von ihnen berichten. Erwähnt seien der Journalist Wolfgang Büscher, der 2002 von Berlin nach Moskau ging, und der TV-Entertainer Hape Kerkeling, der eine Pilgerreise zu Fuß auf dem Jakobsweg unternahm. Es scheint, dass das Gehen heute drei unterschiedlichen Zwecken dient: der psychischen bzw. der physischen Wellness, dem unerhörten Langstreckenrekord oder der mehr oder weniger durchgeplanten Promenadologie. Für Erstere wird immer mehr teures Equipment angeboten, für Letzteres stehen inzwischen schon Tausende von Guides bereit, die qualifizierte Spaziergänge offerieren – etwa in Tübingen und Heidelberg oder durch irgendwelche Mittelgebirge.
In Berlin machte sich die Künstlerin Ekaterina Beliaeva 2004 mit einer nächtlichen „Führung durch das russische Berlin“ mit finanzieller Unterstützung des Arbeitsamts selbständig. Für solche oder ähnliche Spaziergänge gibt es inzwischen im Internet 25.700 Werbe-Einträge. Daneben machen sich auch immer mehr Stadtforscher zu Fuß auf – meist in Richtung „sozialer Brennpunkte“. Professor Rolf Lindner von der Humboldt-Universität veröffentlichte zuletzt ein Buch über die Geschichte dieser Art von Stadtforschung, die zunächst aus der Angst des Bürgertums vor den „gefährlichen Klassen“ in den Slums und Ghettos entstand. Lindners Werk trägt den von einer schwarzen US-Sängerin stammenden Titel: „Walk on the wild side“. Demnächst will er sich mit seinen Studenten drei heutige Soziotope im Vergleich vornehmen: die Karl-Marx-Straße (West), die Ackerstraße (Ost) und die Adalbertstraße (Ost und West).
Ich dagegen widme mich zusammen mit einer Stadtentwicklungsforscherin gerade der Kreuzberger Waldemarstraße. Über diese „Problemzone“ veröffentlichte die Spiegel-Journalistin Marie-Luise Scherer bereits 1987 eine lange Reportage. Während die autonome Szene dort inzwischen nahezu verschwunden ist, hat sich das türkische Leben in dieser Straße fest etabliert, wird aber nun akut von der Gentrification bedroht. Das Weichbild einer Stadt verschiebt sich ständig, aber wir Spaziergangsforscher bleiben ihr hartnäckig auf den Fersen – zu Fuß.
Und wir werden immer mehr – mit steigender Arbeitslosigkeit (für die Noch-Erwerbstätigen bieten die Gewerkschaften sogar Spaziergänge durch die Hauptstadt als „Fortbildungsmaßnahmen“ an). Aus diesen und ähnlichen Gründen erscheinen speziell in Berlin ständig neue Recherchen über irgendwelche Straßen und ganze Viertel: Erwähnt sei Michael Sontheimers gründliche Studie über die „Potsdamerstraße“, der Roman über den „Boxhagener Platz“ von Torsten Schulz und Karsten Ottes Schmähschrift über die „Wilhelminenhofstraße“. Über die Weddinger Soldinerstraße erschienen kürzlich gleich mehrere Bücher. Daneben gibt es Werke über das „Weinhaus Huth“, das „jüdische Berlin“, das „schwule Berlin“ usw..
In die hunderte gehen inzwischen die Veröffentlichungen über Kreuzberg. Bereits 1964 meinte Ingeborg Bachmann in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, Kreuzberg sei schwer „im Kommen“. Zwanzig Jahre später behauptete die Europa-Korrespondentin des „New Yorker“: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair“. Wieder ein paar Jahre später präzisierte die o.e. Spiegel-Reporterin: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt“. Auf der diesjährigen „Langen Nacht der Bücher“ in Kreuzberg stellte Dorothee Hackenberg dazu eine Interviewsammlung mit dem Titel „Kreuzberg – Keine Atempause“ vor, nachdem 1998 bereits Barbara Lang den „Mythos Kreuzberg“ aufs Korn genommen hatte. Aber auch das war schon mit unendlich viel Lauferei verbunden gewesen, wie man sich leicht vorstellen kann. Auch wenn die dortigen Bewohner nicht gerade das sind, was wir – herumschnüffelnden Stadtforscher – auskunftsfeindlich nennen.
P.S.: Zu diesem ganzen Komplex – Gehen/Herumschlendern/-schnüffeln/Nosing around etc. – erschien gerade eine Ausgabe der „archplus“ (183), die „Situativer Urbanismus“ betitelt ist. Dazu heißt es von den Herausgebern:
“ Eine archplus Ausgabe, die die Situationistische Internationale als Herkunftsort vieler heutiger Planungsstrategien interpretiert? Eigentlich gar nicht so überraschend wie man denken könnte. War doch die Stadt Paris nicht nur der Bezugsraum der Situationistischen Internationale (SI), sondern auch der Fluchtpunkt ihrer Bemühungen um die Aufhebung der Kunst und der Überführung der Kunst in ein freies Leben. Dieses freie Leben suchte man umherschweifend zu erleben (Dérive), psychogeographisch zu kartieren (Psychogeographie), durch Zweckentfremdung überkommener Strukturen zu ergreifen (Détournement) und schließlich durch die permanente Revolution des Alltagslebens zu erreichen (Revolution des Alltagslebens). Nach diesem Programm haben wir die retrospektive Seite dieses Heftes gegliedert.“
Der taz-archivgründer und langjährige Betreiber von „Randys Bar“ im 6.Stock – Randy Kaufmann meldet soeben:
Liebe KollegInnen,
Das neue RechercheDienst Dossier „Das Glück zu Fuß. Wandern mit der taz“
ist für MitarbeiterInnen der taz für 10 EUR im RechercheDienst
erhältlich. Ich hoffe, dass es euch gefällt.
Nach Diktat verreist. bis Oktober.
randy
Ich habe seinen Hinweis hier reingenommen, weil es dieses Dossier natürlich auch für nicht-tazmitarbeiter käuflich zu erwerben gibt.